Diesen Text gibt es auch als Episode im Wurlitzer, dem Podcast des Sandwirts: Hier.
Der menschliche Kosmos #4
Bestimmt kennen Sie das klassische Dilemma: Je höher ein Angestellter in den Verantwortungsebenen aufsteigt, je mehr er für die Arbeitsorganisation und damit die Arbeit anderer verantwortlich ist, umso weniger genügen oft seine Führungsqualitäten den Aufgaben jenseits rein fachlicher Qualifikation.
Wie auch sollen menschliche, charakterliche Qualitäten wachsen, wenn – von der Schule über die Berufsausbildung und die Universitäten bis in die Medien hinein – die egalisierende, quantitativ fixierte Angestellten-Kultur allgegenwärtig ist?
Vermutlich wundern Sie sich also nicht, das Peter-Prinzip“ – nach dem früher oder später auf fast jedem Posten der oberen Etagen jemand landet, der an ausgereizten Grenzen seiner Befähigung agiert – überall vorzufinden. Politische Parteien, Staats- und Medienkonzerne liefern tagtäglich Anschauungsunterricht samt Stoff für Kabarett und Karikaturisten – leider ohne Wirkung
Mit dem explosiven Wachstum der großen Industrien und ihrer Arbeitsorganisation im 19. und 20. Jahrhundert wurde das individuelle Verhalten der Menschen in allen Bereichen immer stärker den Bedürfnissen der Technik angepasst. Insbesondere der Austausch von Informationen, im Zeitalter der Globalisierung wahrhaft der Lebensnerv, sollte möglichst vollkommen „objektiviert“, „versachlicht“, also von störenden emotionalen Einflüssen befreit werden.
Als Beispiel möge der historische Eisenbahner dienen, der Weichen nach den Vorgaben seiner Dienstordnung und der aktuellen Meldungen der Telefone bzw. Signalleitungen stellt. Seine Entscheidungen hat er so zu treffen, dass der Verkehr reibungslos läuft. Persönliche Spielräume, Spontaneität und Kreativität gehören nur ausnahmsweise zu seiner Tätigkeit; seine Gefühle und persönlichen Ansichten hat er auszublenden. Im Extremfall wird er zum „Rädchen im Getriebe“, das besinnungslos auch die Güterwagen nach Auschwitz am Rollen hält.
Stochastische Papageien statt Menschen?
Über solche Auswirkungen des Industriezeitalters ist viel nachgedacht und geschrieben worden. Offensichtlich ist, dass die „Versachlichung“ der Informationsflüsse und Arbeitsabläufe in immer neue Schübe der Automatisierung und Rationalisierung, neuerdings via „Künstlicher Intelligenz“, mündet – der Mensch wird in Produktionsprozessen entbehrlich. Ein automatisiertes Stellwerk macht keine Fehler, es trinkt nicht und büßt nicht wegen eines Ehekrachs an Aufmerksamkeit ein.
Andererseits werden in Bereichen, wo Menschen nicht ersetzbar, möglicherweise sogar unentbehrlich sind, gefühlsbedingte Störungen deutlicher wahrgenommen: „Mobbing“, „Burn-out-Syndrom“, „innere Kündigung“: die Liste der Schlagworte wächst noch. Nun ist allgemeine Besinnung auf den Menschen als „wichtigstes Kapital“ zu beobachten. Der Erwerb und die Schulung „sozialer Kompetenz“ werden gefordert. Immer mehr Dienstleistungen werden auf den Markt geworfen, die – möglichst mittels eines Nürnberger Trichters im Drei-Tage- oder Online-Seminar – quantitativ verfügbar machen sollen, was sich nicht quantifizieren lässt: menschliche Qualitäten.
Die Notlage in den Führungsetagen wird meist erst dann wahrgenommen, wenn Unternehmen am Abgrund stehen oder wenn nach einem Firmenzusammenbruch Schuldige gesucht werden. Und spätestens hier wird auch deutlich, wo die Wurzel des Übels liegt: Organisationen und ihre Angestellten denken bis auf seltene Ausnahmen in mechanischen Kausalzusammenhängen, nach dem einfachen und jahrhundertelang erfolgreichen Prinzip von Ursache und Wirkung, ohne Sinn für komplexe organische Strukturen, für deren Wachstum und Dynamik.
Demzufolge werden auch Probleme im Führungsbereich gewissermaßen „ingenieurtechnisch“ behandelt; es wird nach Instrumentarien gesucht, persönliche Mängel ab- und den geregelten Betriebsablauf wieder herzu-„stellen“ – als ob sich Persönlichkeitsstrukturen mit Stellschrauben bedienen ließen.
Versuchen Sie einmal, einen Vorgesetzten zu finden, der ungeschminkt gesteht, am liebsten nach der „3-K“-Methode (Kommandieren, Kontrollieren, Korrigieren) vorzugehen. Sie werden subtilste Verstecke und Variationen finden und bestenfalls eine sehr fintenreich ausgeführte Begründung, warum diese Methode – zumal in menschenfreundlich reformierter Form – unübertroffen ist.
1992 führte der Wirtschaftsjournalist Günter Ogger einen Großteil der deutschen “Wirtschaftseliten” als „Nieten in Nadelstreifen“ in seinem gleichnamigen Buch vor, es erreichte eine Millionenauflage. Die Frankfurter Autoren Rainer Popp und Jens-Christian Ludwig versuchten 1997, diesen Nieten und „Monstern in Maßanzügen“ mit dem Vorschlag beizukommen, es mögen in den Unternehmen und Organisationen Vorgesetzte gewählt werden, wie in einer parlamentarischen Demokratie. „Bosse nach Wahl“ hat es bis heute nicht gegeben, obwohl es 1998 kurzzeitig schien, als ob einzelne Unternehmen einem solchen Versuch eine Chance zugestünden.
Zwei Jahrzehnte danach mehren sich Reformversuche, lange Zeit gefielen sich globale Konzerne wie Google selbst in einer Vorreiterrolle. Der Erfolg hält sich in Grenzen. Wenn überhaupt gelingen strukturelle Alternativen nur in kleinen oder mittelständischen Firmen.
Wer Reformiert wen – und mit welchem Ziel?
Es ist kein Wunder, dass es Reformen im Management gegenüber den altbewährten Hierarchien schwer haben. Primaten- und Feudalrituale verfilzen sich mit den mechanischen Aufbauorganisationen. Erst in den vergangenen hundert Jahren haben manche Wissenschaftler begonnen, die kausale Mechanik, den „objektivierenden Subjektivismus“ in Frage zu stellen. Er beherrscht gleichwohl die öffentliche Wahrnehmung, Schulen und Hochschulen, Institutionen der Kultur, namentlich Medien,… Er beherrscht fast alle Umgangsformen, weil er sehr erfolgreich war – bis hin zur Rechtfertigung von Massenkriegen und Massenvernichtung.
Die zunehmend an-Gestell-te Wissenschaft der letzten dreihundert Jahre hat eine nützliche Einteilung unterschiedlicher Räume für Wechselwirkungen eingeführt: physikalische, chemische, biologische, soziale, psychologische. Die Einteilung diente dazu, diese Räume zu erkunden, zu modellieren und sie mit geeigneten Instrumentarien zu beherrschen. Fast immer aber trat dabei der forschende Mensch seinem Forschungs-Objekt als „unbeteiligter“ Beobachter gegenüber und betrieb eine Suche nach „objektiver Wahrheit“.
Die Suche nach Gesetzen, die sichere Vorhersagen ermöglichen, hat enorme Veränderungen in allen Lebensbereichen bewirkt. Maschinen und Automaten vervielfachten die Warenproduktion, Chemie und Biologie insbesondere trieben die Hungersnöte aus großen Teilen der Welt. Die Arbeitsorganisation erreichte globale Ausmaße – die damit verbundenen Katastrophen auch. Denn die an-Gestell-te Wissenschaft ist blind für viele Gefahren, weil sie selbst als Gestell strukturiert und organisiert ist.
Herrscher, Offiziere, Fußvolk
Der „Wissenschaftsbetrieb“ bringt die gleichen Szenarien und Rollenangebote für die Forscher, Laboranten und Hochschullehrer hervor, wie jedes andere Gestell. In jüngster Zeit haben die Diskussionen um die Erwärmung des Klimas und die weltweite SARS-COV2-Ausbreitung offenbart, wie chaotisch Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und Medien ineinander verflochten sind.
An Demonstrationen gegen Lockdowns, Masken- und drohenden „Impf“-Zwang beteiligten sich neben vernünftigen Kritikern auch lautstarke Scharlatane. Natürlich stellten Medien den Krawall – am besten mit dem Etikett „rechts“ – einseitig heraus. Bedenkenswerte Hinweise derjenigen Wissenschaftler, die nicht der Agenda der Politbürokratie entsprachen, blieben unbeachtet, wurden gar unterdrückt. Wer sich ihrer vergewisserte, [Link: „Corona -– Krankheit und Größenwahn“] wurde mit dem Stempel „Corona-Leugner“ den Scharlatanen zugerechnet.
Ähnliches widerfährt allen, die nicht den alarmistischen Szenarien etwa des „Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK) zustimmen. Sie seien „Klimaleugner“ – als hätten sie ernsthaft die (rein statistische) naturwissenschaftliche Fassung von Klimaverläufen abgelehnt. Das ist eine verräterische Ausdrucksweise. Sie macht aus dem Klima einen Gott, den zu leugnen in Gottesstaaten immer noch ein todeswürdiges Verbrechen ist, und verketzert den Widerstreit der Meinungen, eine Grundlage jeder Wissenschaft, die den Namen verdient.
Dietrich Schwanitz hat schon 1996 in seiner amüsanten Satire „Der Campus“ die Auswüchse des Lehr- und Wissenschaftsbetriebs an einer deutschen Universität gegeißelt – und damit bei Beamten und Angestellten (vor allem in den Führungsetagen) genau die apparathaften Rituale in Gang gesetzt, die er geschildert hatte. Er wurde als Nestbeschmutzer beschimpft und seine Schilderung als übertrieben abgetan. Das Rollenverhalten der sich beleidigt gebenden Kollegen bestätigte die Blindheit vieler Wissenschaftler gegenüber den kritikwürdigen Zuständen an ihrer Hochschule. Die eigene Stellung zu sichern – egal ob damit Stagnation bewirkt und folglich das Niveau von Lehre und Forschung preisgegeben wird – ist ihnen wichtiger, als eine Risikobereitschaft und Engagement erfordernde Arbeit an den veralteten Strukturen.
Dass auch in deutschen Universitäten der woke Ungeist aus den USA eingezogen ist, deutete sich in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts erst an. Inzwischen ist der Zustand von Forschung und Lehre nur noch in wenigen Bereichen exzellent, in den meisten eher beklagenswert.
Kritische Blicke – auf eigene Ziele und Methoden
Einerseits wachsen inzwischen wissenschaftliche Disziplinen zusammen – Natur- und Geisteswissenschaften müssen sich mehr denn je aufeinander beziehen – andererseits wären Methoden und Arbeitsfelder umso kritischer zu überprüfen.
Das Fühlen und Handeln des einzelnen Menschen, seine Bindung an soziale Gruppen und Metasysteme geht unvermeidlich mit Konflikten um informelle und materielle Macht einher, von denen in einem Exkurs später noch die Rede sein wird. Es ist längst überfällig, sich damit methodisch neu auseinanderzusetzen. Denn ebenso wenig wie die Newtonsche Mechanik hilft, das Wechselwirken von Elementarteilchen und Licht bei einem Laser zu verstehen, taugt der vorgeblich unbeteiligte Blick der Wissenschaft, der Standpunkt des „objektivierenden Subjektivismus“ dazu, menschliches Fühlen und Handeln einzuschätzen.
Werfen wir einen Blick auf die Methoden der Wissenschaft. Besonders in den naturwissenschaftlichen Richtungen wird ein mechanischer Grundzug deutlich: Sie operieren mit „Feststellungen“. Dabei geben sie Beobachtungen in der Natur, im Labor oder auch Annahmen und Behauptungen eine ganz bestimmte verbale oder in Formeln gekleidete Gestalt, etwa der Art „Geschwindigkeit errechnet sich aus der in einer bestimmten Zeit zurückgelegten Wegstrecke“: v=s/t. Solche Feststellungen werden kommuniziert. Wenn über die Bedeutung verwendeter Begriffe – zum Beispiel „Geschwindigkeit“ – Einigung erzielt wurde, können alle mit der in der Feststellung enthaltenen Information nutzbringend umgehen.
Feststellungen sind für sich genommen bedeutungslos, sie erhalten ihren Sinn und können nur dadurch wirken, dass sie in den Strom der unablässig ablaufenden Gedanken eingebracht werden: durch die Interaktion zwischen Menschen oder die Selbstinteraktion im Gehirn des einzelnen Individuums. Damit kommen wir zu einem wichtigen Paradox: wir beschreiben eine Welt, in der es nichts wirklich Festes gibt, mit etwas, das völlig unveränderlich bleiben soll – einem Buchstaben oder einem Begriff.
Sie werden sagen: “Ein Stück Straße ist ein Stück Straße, und wenn ich mit einer Stoppuhr mit einem sehr genauen, festen Zeittakt messe, wie lange ich vom Anfang zum Ende diese Stückes zu gehen habe, bekomme ich mit v=s/t eine gute Beschreibung meiner Geschwindigkeit.“
Das ist richtig. Durch Ihre Messung werden weder die Straße noch die Uhr in signifikanter Weise verändert, Weg und Zeit sind „feste“ Größen. Das gilt aber nicht mehr, wenn Sie sich einmal vorstellen, dass Sie ein winziges Elementarteilchen wären, etwa ein Neutron. Denn wie sollte ihr Taktgeber, ihre Uhr dann aussehen? Die genauesten Uhren arbeiten mit Schwingungen von Elementarteilchen; wenn Sie von ihnen „die Zeit nehmen“ wollten, müssten Sie mit ihnen in irgendeiner Form wechselwirken. Dadurch würden sie in jedem Fall die Uhr beeinflussen und das „Uhrenteilchen“ würde ihren Weg beeinflussen. In keinem Fall kommen Sie zu „Feststellungen“.
Messen, Modellieren, Berechnen – und die Grenzen
Die geläufige Art, Geschwindigkeiten zu messen, führt nur innerhalb ganz bestimmter Größenverhältnisse der Interaktion zu brauchbaren „Feststellungen“: wenn nämlich die am Prozess beteiligten Partner weder zu heftig noch zu träge interagieren.
Letzteres wäre in der Nähe sehr großer Massen – also eines „schwarzen Loches“ – der Fall, dessen Schwerefeld so überwältigend ist, dass es praktisch jeden Informationsaustausch „verschluckt“. Im Bereich der Elementarteilchen, wo die Gravitation kaum eine Rolle spielt, gibt die Quantenmechanik ein gutes mathematisches Modell. Es kommt nicht ohne Formeln – also Feststellungen – aus, entzieht sich aber dem Dilemma, indem es nur von Wahrscheinlichkeiten spricht und gemäß der Formulierung von Werner Heisenberg eine gewisse „Unschärfe“ oder „Unbestimmtheit“ bei den Messungen einkalkuliert.
Für den Bereich sehr großer Massen (und Gravitation) liefert Einsteins allgemeine Relativitätstheorie haltbare Feststellungen, weil Messgeräte nie in die Massenbereiche schwarzer Löcher oder auf das Tempo des Lichtes kommen. Die Wirkung der Apparatur auf diese Phänomene ist zu vernachlässigen.
Natürlich erfordert es nach wie vor das entsprechende mathematische Rüstzeug, solche Theorien zu verstehen. Aber sie haben doch interessante, allgemein verständliche Konsequenzen für unser alltägliches Weltbild:
- Wechselwirkung, Interaktion, scheint ein universales Phänomen zu sein. „Sein“ erfahren wir nur so, nur in dieser fortwährenden Dynamik. Unser Denken insbesondere ist ein unablässiger Austausch von „Signalen“, also Information, in den energetischen und stofflichen Wechselwirkungen des menschlichen Körpers mit seiner Umgebung.
- Es gibt keine Vergangenheit – jedenfalls kann man mit ihr nicht interagieren. Die unablässige Interaktion des Gehirns mit „Gedächtnisinhalten“, also unterschiedlich träge interagierenden chemischen oder elektromagnetischen Bereichen, erzeugt eine Vorstellung von Vergangenheit. „Geschichte“ bedeutet fortgesetzten Umgang mit „überkommenen“ – weil ebenfalls sehr träge interagierenden – „Spuren“, also irgendwelchen wenig veränderten Materialien. „Vergangenheit“ und „Geschichte“ sind Konstrukte und verändern sich natürlich auch fortwährend, weil sie nur in Interaktionen – etwa beim Lesen und Interpretieren dieses Buches – einen Sinn erhalten.
- Interaktionen laufen nach „Mustern“ ab, die wir erkennen können, und zwar nicht nur, indem wir Vergangenes konstruieren.
Wer diesen Gedanken folgt, stößt auf seltsame Phänomene: Die „wirkliche“ Vergangenheit liegt danach jenseits eines „Ereignishorizonts“, hinter den niemand zurück kann. Er ist durch die Lichtgeschwindigkeit definiert.
Das Paradox der Zeitreisen
Das Nachdenken über „Zeitmaschinen“ und „Reisen in die Vergangenheit“ führt zum bekannten und filmisch weidlich ausgeschlachteten Paradoxon, dass ein Zeitreisender seine eigene Mutter umbringen könnte und damit nicht existent wäre. Damit wäre aber auch sein gesamtes Handeln im Danach ausgelöscht. Konsequent zu Ende gedacht: jede solche Reise würde eine neue Welt mit anders gemischten Karten erschaffen. Jede Zeitreise wäre der Keim eines neuen Universums.
Dennoch ist es nicht so, dass es gar keine Verbindung zur Vergangenheit gäbe: wegen der unterschiedlichen Trägheit der Wechselwirkungen „reiben“ sich Archäologen und Historiker ständig an „Spuren des Vergangenen“ – also an den langsamer interagierenden Bereichen menschlicher Umgebung. Dann konstruieren sie mittels ihrer Fähigkeit zur Mustererkennung die Geschichte – zum Beispiel die des Grönlandeises.
So erschaffen Forscher eine Welt mit den dazugehörigen Meinungen und Theorien, die im selben, unfasslich kurzen Moment unveränderbar hinter dem Ereignishorizont versinkt. Niemand kann eine herabgefallene Tasse samt Inhalt auf den Tisch zurück bewegen, so dass es aussieht, als sei nichts passiert. Der Vorgang ist asymmetrisch in der Zeit – er lässt sich nicht umkehren. Es lässt sich nur eine neue Welt erschaffen, in der ein Film vorwärts läuft, aber einen Vorgang rückwärts zeigt: eine Tasse setzt sich aus Splittern zusammen, springt auf einen Tisch, füllt sich mit Inhalt.
Wechselwirkungen erschaffen die Welt und ihre Zeit: ohne Wechselwirkungen gibt es keine Zeit.
Diese Grundauffassung ist zunächst nichts als ein Versuch, die Perspektive zu wechseln und die Welt nicht mehr „objektiv“ und vom Standpunkt eines „unbeteiligten Beobachters“ zu sehen, der seinem freien Willen folgend etwas „feststellen“ wird.
Überall ist Bühne
Im Verhältnis zwischen Arzt und Patienten – insbesondere dem zwischen Psychiater und psychisch gestörtem Menschen – spitzt sich die Aufgabe des Wechsels der Perspektive zu.
Will ersterer eine „objektive Feststellung“ über den Gesundheitszustand des anderen treffen, dann muss er jeden störenden Einfluss der Apparatur oder seiner eigenen Anwesenheit vermeiden. Niemand aber bleibt vom Ortswechsel in einen Behandlungsraum, von der Anwesenheit eines Gegenübers im weißen Kittel, von der Konfrontation mit Untersuchungsgeräten unbeeinflusst, er wäre denn völlig apathisch. Vielleicht haben Sie ja schon selbst erlebt, dass sich Zahnschmerzen im Wartezimmer des Zahnarztes verflüchtigten.
Die Hirnforschung hat seit einigen Jahrzehnten erkannt, wie enorm abhängig Gefühle und Reaktionen der Menschen von der unbewussten wechselseitigen Wahrnehmung sind, was Mienen, Gesten und Laute bewirken. Das Theater spielt seit Jahrtausenden damit.
Erwarten Sie nicht auch – unbewusst –, dass Ihr Gegenüber lächelt oder die Stirn runzelt? Wenn der Arzt ein „Pokerface“ zeigt – also nonverbale Signale verweigert – kann das bei Patienten einige Unruhe auslösen („Warum macht er ein so undurchdringliches Gesicht? Das bedeutet nichts Gutes!“).
Dem guten Arzt kann seine Erfahrung und Menschenkenntnis weiterhelfen; er weiß um seine Wirkung auf Menschen, ohne dass er sie im Einzelnen beschreiben könnte und sich ihrer bis in jede Regung bewusst wäre. Er hört nicht nur zu, er erkundet die emotionalen Schwankungen und Befindlichkeiten, indem er seinem Gespür folgt – insofern nähert er sich dem Einfühlungsvermögen begabter Schauspieler.
Bürokratie macht krank
Aber für diese „alten“ Strategien ist in unserem auf Kontroll- und Abrechnungsmechanismen ausgerichteten Gesundheitswesen kein Platz mehr. Und einen „Kunstfehler“ kann sich kein Arzt leisten. Auch er steht unter dem Zeit- und Handlungsdruck des Gestells, er muss „feststellen“, und er muss „sicherstellen“, dass ihm kein Fehler nachzuweisen ist.
Zu dem immer maßloseren apparativen Aufwand in den Kliniken kommt der Aufwand für Überwachungssysteme, mit denen Schadensersatzforderungen unzufriedener Patienten vorgebeugt werden soll. Die Erwartung an eine fehlerfreie und garantiert wirksame Therapie, die eine vollständige Heilung herbeiführt, gebiert monströse Kosten. Auch dafür ist das „Corona“-Geschehen ein anschaulicher Beleg.
Doch folgt der Wahnsinn des Gestells einer natürlichen Logik: Wer sich in die Obhut eines Gestells begibt, nutzt die Macht der Korporation nicht nur für seinen Lebensunterhalt, sondern auch, um individuelle Risiken zu minimieren.
So verstärkt der einzelne seine elementaren Strebungen Erlangen und Vermeiden, indem er die Macht eines Metasystems in Anspruch nimmt.
Erlauben Sie mir, an dieser Stelle einen Ausflug zu unternehmen: Versuchen wir, uns durch Landschaften der Macht zu bewegen. Da wir es im Flug der Gedanken tun, könnte es etwas turbulent werden, aber Sie können ja das Tempo beim Lesen oder Hören selbst bestimmen und sich gelegentlich eine Schleife gönnen, um genauer hinzusehen. Auf geht’s.
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Dimensionen und Dynamik der Macht – ein Exkurs
Macht lässt sich in zwei Dimensionen verorten: In der materiellen und der informellen – in Besitz und sozialem Rang. Im Englischen, Französischen wie Deutschen gibt es den Begriff „Reputation“, in asiatischen Kulturen „das Gesicht“. Sie ist von offiziellen Rangordnungen nur teilweise abhängig – ein Minister, Milliardär, Filmstar oder Medaillengewinner im Sport kann eine miserable Reputation haben, ein Bäcker, eine Haushaltshilfe oder ein Arzt dagegen sich höchster Wertschätzung erfreuen. Sie gründet auf Qualitäten der Arbeit wie des Umgangs, und sie hängt an subjektiver Wertung wie etwa „vertrauenswürdig“.
Fürs mechanische, quantifizierende Denken des Gestells sind subjektive Urteile – wenn überhaupt – nur als statistische Größen tauglich. „Objektive“ Kriterien müssen gefunden werden, die seinen Ordnungsschemata entsprechen. Beispielhaft dafür ist inzwischen das System der „Social Credits“ in China. Es basiert auf einer möglichst lückenlosen Überwachung aller, wobei gleichzeitig Privilegien der Herrschenden eine Gleichbehandlung ausschließen. Das Gestell – der kommunistische Staat – kontrolliert möglichst lückenlos, wer als vertrauenswürdig gilt und in welchem Maß, und er ist zugleich für seine Bürger weitestgehend intransparent.
Diese Orwellsche Vision einer totalitären Parteienherrschaft im berühmten „1984“ rückt nicht nur den Chinesen immer härter auf die Pelle. Im Drang nach immer engeren Räumen für die informelle Selbstbestimmung, nach Deutungshoheit und Kontrolle sowohl über Medien wie über alltägliche Formen menschlichen Umgangs zeigen sich totalitäre Ziele überall auf der Welt.
Das Zusammenspiel informeller und materieller Macht formt sich normalerweise zu verschiedensten dynamischen Systemen von Kultur, Wirtschaft und Politik aus. In den zeitgenössischen Oligarchien mit ihren elaborierten, weltumspannenden Netzwerken erreichen diese Systeme höchste Komplexität. Ihr Streben geht dahin, stabil zu werden bis zur Unangreifbarkeit (so wie Individuen wünschen, unsterblich zu sein – aber diesen Gedanken führe ich hier nicht weiter fort).
Konkurrenzen um die informelle Macht sind heute ebenso bedeutsam für zunehmende Kriegsbereitschaft wie die um Rohstoffe und Territorien. Propagandaschlachten in Medien und internationalen Gremien, entfesselte Attacken der Geheimdienste, auch mittels „privater“ Firmen im Cyberspace, werden um die Deutungshoheit über die Rechtfertigung von Gewalt inzwischen nicht nur prophylaktisch geführt, sie begleiten die Brandherde in der Ukraine, im Nahen Osten, vielleicht auch bald in Südostasien.
Sind nicht Herrschsucht und Habgier, Missgunst und Neid elementare Treiber der Dynamik aus Erlangen und Vermeiden? Und korreliert nicht der informelle Machtanteil womöglich mit der miesen Reputation von Oligarchien?
Im nächsten Teil – dem fünften – wird die 1792 enthauptete französische Königin Marie-Antoinette helfen, dieser Frage nachzugehen.
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1 Kommentar. Leave new
„Ihr Streben geht dahin, stabil zu werden bis zur Unangreifbarkeit“
Nö. Soziale Systeme sind evolutionäre Systeme. Und deren konstitutive Eigenschaften sind nicht nur Unvorhersagbarkeit und Unsteuerbarkeit, sondern sie verfügen auch über keinerlei „stabile“ Zustände. Lediglich die Geschwindigkeit der Veränderungsdynamik ist variabel, aber auch nicht vorhersehbar oder steuerbar.
Das einzelne Systemelemente (hier Individuen) etwas derartiges anstreben ist übrigens völlig irrelevant. Schon deshalb weil der evolutionäre Prozess am Gesamtsystem und nicht am Individuum ansetzt. Das dient nur dazu durch seine Handlungen die zufälligen Ereignisse zu liefern die den Veränderungsprozess am Laufen halten.
Der evolutionäre Prozess hat dabei kein Ziel, aber einen thermodynamisch erklärbaren Hang zum Komplexitätswachstum. Welchem allerdings gerade durch den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik eine harte Grenze gesetzt ist.
Hat sich ein Evolutionsast dann am Ende in einer ökologischen Sackgasse festgefressen (und das tut er immer) dann wird er halt einfach soweit zurückgeschnitten bis ein neuer erfolgreicher Spross erreicht wird. „Vorausschauend“ ist der Prozess übrigens nichts. Es gewinnt immer was den kurzfristig höchsten Nutzen (im Sinne der Systemexpansion) bietet.
Weshalb es übrigens völlig sinnfrei ist auf untergehende Kulturen wie in Ostasien oder im Westen zu achten. Tatsächlich sind aktuell die Gesellschaften von Subsahara und Afghanistan auf der Siegerstraße. Der Rest ist Ende diesen Jahrhunderts eh weitgehend rückstandsfrei verschwunden.