Das Tal der Ahnungslosen war in der untergegangenen DDR das Elbtal um Dresden – eine geografische Ecke, die damals von westlichen Sendern nicht erreicht werden konnte. Dieses Phänomen versuchen heute unsere Medien auf andere Weise auf das Gebiet der gesamten Bundesrepublik auszuweiten.
Heute ist viel die Rede von einem „entspannten Kanzler“, der sich gegen die Larmoyanz seiner Untertanen wendet. Man soll glauben, dass alles gut ist – oder zumindest wird. Spätestens, wenn erst einmal das „Haus Mordor“ im Osten hinweggefegt ist, eine Aufgabe, zu der sich die männliche Jugend des Landes geradezu drängt. Der Rest soll bis 70 weiter malochen, und ob die „Milch der frommen Denkungsart“ auch brav eingesaugt wird, das werden neue Überwachungsinstrumente der elektronischen Kommunikation kontrollieren. Also: alles gut!
Derweil befindet sich fast der Rest Europas im Zustand eines regelrechten Aufstands. France has fallen – das Land ist pleite, der Regierungschef hat nach wenigen Wochen das Handtuch geworfen, und niemand weiß, wie es weitergehen soll. Wegen Palästina, aber nicht nur deswegen, haben die Italiener einen mächtigen Generalstreik hingelegt. Ähnliches gilt für Spanien, England, die Niederlande, Belgien und so weiter.
Was hört man davon hierzulande? So gut wie nichts. Der Michel soll ja nicht auf dumme Gedanken kommen – am besten auf gar keine, die ihm nicht vom Teleprompter im Fernsehen abgelesen werden.
Die europäische Demokratie bröckelt deutlich: In Rumänien und der Republik Moldau werden Kandidaten verboten oder Wahlen manipuliert. Jetzt hat in Tschechien auch noch Babiš gewonnen – ein neues Visegrád-Bündnis droht. Der Putschversuch in Georgien ist ebenfalls gescheitert, und trotz aller Siegesmeldungen aus der Ukraine scheint es dort auch nicht gerade gut zu laufen.
Deutlich wird eines: Der Aufrüstungswahn und die wirtschaftliche Malaise gehen zulasten der unteren Schichten Europas – und die beginnen aufzubegehren. Der französische Soziologe Emmanuel Todd meint in einem neueren Text:
„Eine negative wirtschaftliche und soziale Dynamik hatte bereits vor dem Krieg existiert und setzte den Westen schon damals unter Spannung. Sie war – in unterschiedlichem Maß – in ganz Westeuropa sichtbar. Der Freihandel untergrub dort die industrielle Basis. Die Einwanderung wiederum förderte ein Identitätssyndrom, besonders in den Volksklassen, denen sichere und ordentlich bezahlte Arbeitsplätze entzogen wurden.
Der Krieg hat die europäische Spannung noch weiter verschärft. Er verarmt den Kontinent. Aber vor allem – als strategisches Scheitern ersten Ranges – delegitimiert er politische Führer, die unfähig sind, ihre Länder zum Sieg zu führen. Das Wachstum konservativer Volksbewegungen (von den journalistischen Eliten üblicherweise als „populistisch“, „rechtsradikal“ oder „nationalistisch“ bezeichnet) beschleunigt sich: Reform UK im Vereinigten Königreich, AfD in Deutschland, Rassemblement National in Frankreich …
Wieder eine Ironie: Die Wirtschaftssanktionen, von denen die NATO einen ‚Regimewechsel‘ in Russland erhoffte, werden bald eine Kaskade von ‚Regimewechseln‘ in Westeuropa selbst hervorrufen. Die westlichen herrschenden Klassen werden durch die Niederlage delegitimiert – genau in dem Moment, in dem die autoritäre russische Demokratie durch den Sieg erneut legitimiert, ja über-legitimiert wird. Denn die Rückkehr Russlands zur Stabilität unter Putin hatte ihr von Beginn an eine unangefochtene Legitimität verschafft.“
Tja, wer andern eine Grube gräbt … Dazu ist wohl erst einmal wenig zu sagen, denn hierzulande bleibt es dank des Schlafs der Vernunft, der uns die Monster gar nicht bemerken lässt, zunächst bei bloßen Ankündigungen: Entlassungen, Rentenerhöhungen, Beitragssteigerungen der Krankenkassen – also Nadelstichen, die man zunächst ignoriert.
Es dürfte wohl noch einer Massierung der Probleme bedürfen, um die Chose zum Kippen zu bringen. Manche unserer europäischen Brüder und Schwestern sind da schon weiter, aber davon sollen wir nichts mitbekommen.
Klar gesagt: Die Lage scheint zumindest punktuell fast eine vorrevolutionäre zu sein. Natürlich gab es damals in Frankreich auch privilegierte Klassen – vom Adel und seinen Entsprechungen heute wollen wir gar nicht sprechen, aber vom Klerus: von dem, der wirklich einer ist, und von dem, der in NGOs, Medienanstalten und Universitäten bei guter Besoldung predigt und lehrt.
Noch einmal Todd:
„Tiefer betrachtet ist die negative Dynamik der Fragmentierung eine kulturelle: Die Massenhochschulbildung hat Gesellschaften hervorgebracht, in denen die höher Gebildeten – 20, 30, manchmal 40 Prozent der Bevölkerung – unter sich leben, sich für überlegen halten, die Volksmilieus verachten und manuelle Arbeit und Industrie ablehnen.
Die Grundschulbildung für alle hatte einst die Demokratie genährt und eine homogene Gesellschaft geschaffen, deren Unterbewusstsein egalitär geprägt war. Die höhere Bildung hingegen hat Oligarchien – und bisweilen Plutokratien – hervorgebracht: geschichtete Gesellschaften, die von einem unbewussten Hang zur Ungleichheit durchdrungen sind. Paradoxalerweise hat die Ausweitung der höheren Bildung in diesen Oligarchien oder Plutokratien sogar zu einem Rückgang des intellektuellen Niveaus geführt!“
Aber so dumm, dass sie nicht für ihre Privilegien kämpfen, kann die neue Priesterkaste gar nicht sein. Ihre Methoden: Informationen filtern, verdrehen, unterdrücken, mit Teufel und Beelzebub drohen – und die ewige Seligkeit im Camper versprechen.
Oder?




