Was Christen und Atheisten im Westen verbindet

Nicht nur in Deutschland stellt sich heute die Frage nach der Rolle des Christentums in der Politik. Man kann hier auf zwei Ebenen antworten: entweder wie Pilatus mit „was ist Wahrheit?” oder politisch, „was nützt mir/uns?” Obwohl politisch denkender Österreicher, versuche ich es lieber mit Pilatus, denn politische Ratschläge von Österreichern an Deutsche sind so unbeliebt wie die Ezzes in umgekehrter Richtung. 

Die aktuelle Lage 

So seien hier zunächst zwei Seiten der aktuellen Lage des Christentums in Europa skizziert: 

Zum einen hatte das lange überfällig gewesene Ende des Staatskirchentums zur Folge, dass sich kaum jemand zuständig sah, für die organisierte Pflege einiger unverzichtbarer kultureller Werte zu sorgen; insbesondere für die kulturelle Identität der Staaten und darauf aufbauend ihr Gemeinsinn – der wiederum in demokratischen Gesellschaften die Voraussetzung für freiwillige, aber unverzichtbare Solidaritätsleistungen ist. 

Nun stützen sich Identität und Gemeinsinn weitgehend auf Tradition und geschichtliche Narrative – doch ohne ihre christliche Prägung lässt sich das nicht sinnvoll darstellen. Das alles kann nur leugnen, wer nach zwei Weltkriegen und vielen, die eigenen Kinder fressenden Revolutionen noch immer an ideologische Retorten glaubt, aus denen der „Neue Mensch” kommen soll.

Zum anderen wissen auch die äußeren und vor allem die inneren Feinde Europas, dass das Christentum – schon seit Längerem in Verbindung mit der Aufklärung – noch immer das geistige Fundament Europas ist. Diese Feinde versuchen daher den Niedergang der katholischen und protestantischen Kirchen Europas herbeizureden. Sie sind hier so erfolgreich, dass heute im politischen Diskurs sofort disqualifiziert wird, wer sich auf christliche Standpunkte beruft. 

Kurz gesagt, weil Europa mit seinen Nationen ohne Bezug zum Christentum seine Identität, seinen Gemeinsinn und seine Solidarität aufgibt, muss Ur-Christliches nun mit einer ungewohnten Erst-Assoziation in die Politik geholt werden. Wie das geht, wurde im Buch „Ohne Wurzeln – Der Relativismus und die Krise der Europäischen Kultur“ (2005, Sankt Ulrich Verlag Augsburg) ausgeführt: Schon im Jahr 2004 haben der Präsident des italienischen Senats Marcello Pera – ein zum liberalen Flügel der Berlusconi-Partei gehörender Philosoph und bekennender Atheist der humanistischen Tradition – und Kardinal Joseph Ratzinger (bis zur Papstwahl ein Jahr später noch Präfekt der römischen Glaubenskongregation) in unabhängig voneinander entstandenen Beiträgen und anschließendem Briefwechsel diese Probleme untersucht. Sie sind dabei zu höchst bemerkenswerten Übereinstimmungen gekommen. 

Ihr Ausgangspunkt ist das geistige Vakuum, das durch Missachtung des christlich-humanistischen Erbe Europas entstanden ist; und die ungewohnte Erst-Assoziation sollte die in Art. 1 des Grundgesetzes als unantastbar beschriebene Menschenwürde sein, die wir zu achten haben. 

Was schief läuft

Die missverstandene Toleranz: Pera und Ratzinger sehen den Niedergang Europas als Folge selbstmörderischer Relativierung des Toleranz-Gedankens. Die vom II. Vatikanischen Konzil geforderte Toleranz gegenüber anderen Menschen und ihren Religionen wurde gründlich missverstanden: Zum einen wurde daraus geschlossen, dass der Mensch aus der Gleichheit einiger Elemente in verschiedenen Religionen auf die Gleichwertigkeit aller Religionen schließen dürfe; zum anderen wurde übersehen, dass der Toleranz-Begriff sich vom lateinischen tolerare ableitet, also dem nicht immer schmerzfreien „Erdulden des Anderen“. 

Mit dieser totalen Relativierung der Toleranz gibt man die eigenen Argumente schon auf, sobald man auf andere Argumente stößt – also ohne Prüfung, ob diese besser sind als die eigenen. Die Welt sieht dann so aus, dass „das Wahre nicht mehr existiert, die Übermittlung von Wahrheit als Fundamentalismus betrachtet wird und schon das Beharren auf der Wahrheit Ängste und Befürchtungen weckt“. 

Dabei ist auch für den Atheisten Pera das zentrale christliche Gebot der Nächstenliebe nicht nur ein niedergeschriebenes „Faktum“ und damit wahr – unabhängig von den Umständen seiner Entstehung –, er sieht es auch als das Beste, was jemals zu zwischenmenschlichen Beziehungen niedergeschrieben wurde.

Der verfrühte Universalismus: Pera verweist am Beispiel des Islam auf große historische Irrtümer des christlich geprägten Europas und des Westens: Aus Vergleichen u.a. zwischen Demokratie und Theokratie, Recht und Scharia, erklärt man nicht nur, dass die eigenen Werte Europas „besser“ seien; sondern auch ausdrücklich, dass die anderen Werte „schlechter“ bzw. unwahr seien und daher allgemein abgelehnt werden müssten. 

Aber noch weiter gehend schließt man allzu häufig von diesem Sein auf ein aggressives Sollen und glaubt den Islam daher aktiv bekämpfen zu müssen, wie es noch Päpste im Mittelalter verlangt haben. Dieser Schritt aber sei logisch nicht nachvollziehbar und auch unmoralisch, denn der Islam stützt sich aus seiner Entstehung im Nahen Osten heraus auf ganz andere, außer-religiöse Rahmenbedingungen und wird gerade deshalb von seinen Gläubigen durchaus nachvollziehbar als die „beste“ Religion und Lebensform empfunden. Auch Ratzinger hält hier unter Verweis auf den z.T. überzogenen, d.h. (derzeit?) kaum nachvollziehbaren Universalismus der UNO Korrekturen bei der Durchsetzung universalistischer Werte des Westens für notwendig, etwa bei der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte.

Elemente der Hoffnung

Die Würde jedes Menschen: Unter dem Einfluss früherer klösterlicher Studien wurde dieser Begriff von Giovanni Pico de Mirandola (*1463 in Mirandola, +1494 in Florenz) ausformuliert. Sein Lebensziel war es, eine fundamentale Übereinstimmung aller philosophischen und religiösen Lehren aufzuzeigen, die letztlich alle im Christentum enthalten seien. Diese angeborene und unvergängliche Würde wurde zunächst in der christlichen Theologie aus den Offenbarungstexten – sozusagen top down – entwickelt und im Zuge der Aufklärung in die Politik geholt. Dort fand die Menschenwürde bei Anhängern des rationalen Humanismus – nun bottom up, also ohne Gottesbezugihre eigene, nur auf Vernunft und Natur bauende Bestätigung. 

Soweit, so bekannt; nach Ansicht beider Herren ist einmalig in der Weltgeschichte, dass die Kernidee Europas die Menschenwürde ist und weiterhin ihr einigendes Prinzip bleiben muss. Denn diese Würde führt direkt zu allen in Europa entstandenen Werten wie Demokratie, Rechtsstaat, Menschenrechte, Sozialstaat, Entwicklungshilfe und Umweltschutz. Diese Würde kann auch helfen, im Verhältnis zwischen Wissen und Glauben fundamentalistische „Pathologien” (so Ratzinger) auf der einen Seite mit Hilfe der anderen Seite zu überwinden, also dort wo diese Übel in Ausübung der Religion entstehen; oder auch dort, wo die Vernunft der Utopie verfällt, alle sozialethischen Probleme durch technische Organisation lösen zu können. So fordern beide Herren, gestützt auf die Menschenwürde müsse man stets so handeln, „wie wenn es Gott gäbe“.

Zivilreligion: Mit der Trennung von Kirche und Staat im Zuge der Aufklärung fand das christliche Staatskirchentum sein Ende. Unter dem Motto „Thron und Altar“ wurde bis dahin durch zwölf Jahrhunderte hindurch zwischen säkularen und religiösen Angelegenheiten kaum unterschieden. Seither verkümmern nicht nur in der klassische Kulturpolitik Fragen um Identität, Gemeinsinn und freiwillige Solidaritätsleistungen in einer Art Niemandsland; die demokratisch gewordene Politik begnügt sich auch bis heute mit einer minimalistischen, nur durch das Strafrecht sanktionierten Unterlassungs-Ethik („was du nicht willst, dass man dir tu‘, das füg‘ auch keinem andern zu“). 

Um dies in die notwendige Verantwortungs- bzw. Handlungs-Ethik überführen zu können („Was du willst, dass man dir tu‘, dass füg‘ auch dem andern zu“), bringen Pera und Ratzinger als Voraussetzung dafür etwas ins Spiel, das Pera Zivilreligion nennt. Ratzinger hingegen umschreibt diesen Begriff als ‚zivilreligiöses‘ vorpolitisches Wertefundament, das nicht als Ersatz-Religion missverstanden werden soll. 

So wie dieser Begriff hier verstanden wird, soll in einer mit Staat und Religion kompatiblen Weise und ohne Transzendenz-Verweise der vom Staatskirchentum hinterlassene und heute von der Rechtsordnung ignorierte Graubereich abgedeckt werden. Demnach ist Identität Teil der Menschenwürde; und ihre Achtung soll ohne rechtlichen Zwang für ethische Standards über das strafrechtliche Minimum hinaus Anreize geben; sodass auch seine eigene Würde verletzt, wer nur schweigt, wo in seinem Umfeld die Menschenwürde verletzt wird (Pera warnt: „schwache Christen sind meist auch schwache Denker“). 

Zivilreligion vereint also das gemeinsame Bemühen von Gläubigen und Atheisten um die Menschenwürde und sichert damit den Gemeinsinn. Zur institutionellen Ausgestaltung der Zivilreligion sagen die beiden wenig, doch liegt auf der Hand, dass es um die politische Förderung einer vielfältigen Informationspolitik geht, die – je nach regionaler, nationaler und europäischer Ebene – mit positiv besetzten Assoziationen und Narrativen zu überzeugen sucht.  

Menschenwürde und EU-Recht

Auf die ungebrochene, auch rechtliche Leitfunktion der Menschenwürde kann meiner Meinung nach auch aus einer bisher verdrängten Interpretation des EU-Vertrages geschlossen werden: Aus Absatz 6 seiner Präambel ergibt sich nicht nur die vorrangige Stellung der Menschenwürde – die auch in Art. 2 des Vertrages an erster Stelle des Werte-Katalogs angeführt wird –, sondern auch ihre fortwirkende(!) Inspiration der EU; fortwirkend schon deshalb, weil an dieser Stelle der Präambel („SCHÖPFEND aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas, aus dem sich die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte entwickelt haben“) das einleitende Wort im grammatikalischen Präsens gehalten ist. 

Damit wird nicht nur die historische Tatsache ausgedrückt, dass die Menschenwürde sich aus einer korrekten Pflege dieses Erbes ableitet und sich davon auch weiterhin(!) inspirieren lässt; sondern kann auch kein Minderheitenschutz gefordert werden, wo neu eingewanderte Minderheiten in einer Art „kultureller Elternmord“ behaupten, durch die Pflege des europäischen Erbes in ihren eigenen Werten rechtswidrig verletzt zu werden. Das muss wohl unabhängig von Mehrheitsverhältnissen gelten und ist für die Integration von Einwanderern außer-europäischer Herkunft ein langfristig wesentlicher Befund.

Fazit und Ausblick

In Europa ist heute politische Polarisierung und Diskursverweigerung angesagt. Kein Wunder, dass auch das europäische Leitprinzip der Menschenwürde sich vielfältige, auch krass gegensätzliche Interpretationen gefallen lassen muss. 

Dazu sei bemerkt: Unter diesem Leitprinzip rangiert gleich ein anderes Prinzip: die Diversität. Unterschiedliche Interpretationen sind also gut und wesentlich, doch eben überdacht von einer gemeinsamen Vorstellung über etwas möglichst Konkretes. 

Unter den anderen Begriffen, die bis heute als europäisches Leitprinzip gehandelt wurden, findet sich nichts Besseres: Geographie und Geschichtsdaten sind zu wenig für die Zukunft; Macht ist vorbei; Gott und Liebe sind nicht so konkret; während Rasse und Klasse, Kapital und KI das Gemeinsame fehlt.

Bei Fehl-Interpretation des Leitprinzips, die sich auch nicht durch Rückgriff auf das erwähnte kulturelle, religiöse und humanistischen Erbe Europas aufklären lassen, ist – wie bei Hans Jonas – zu fragen: Welche Interpretation ist besser geeignet, kommenden Generationen ein würdiges Überleben der Menschen in Europa zu sichern? Wenn das nicht hilft, dann muss man in den Diskurs eintreten – und das gilt selbst dort, wo heute Fehl-Urteile europäischer Höchstgerichte vermutet werden!

Doch muss heute als wohltuende Sensation gelten, dass die durch Jahrhunderte „gepflegte“ Feindschaft zwischen Christen und Atheisten dabei ist, sich in einem gemeinsamen Bekenntnis zur europäischen Leit-Idee der Menschenwürde aufzulösen. 

Diese Übereinstimmung hat einen säkularen Anschein und kommt damit dem Zeitgeist entgegen. Religiös gesehen, erfüllt sich allerdings dort, wo Atheisten aus Respekt vor der Menschenwürde helfend aktiv werden, Christi Wort „was ihr den geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“ – auch dies ein konstruktives Element. 

Überhaupt gebührt Atheisten höchster Respekt, wo sie die aktive Achtung der Menschenwürde – so wie Pera – nur aus dem Wissen um Verstand, Natur und Evolution Verstand als ihr Leit-Prinzip begründen; denn das ist eine gewaltige intellektuelle Leistung, die außerhalb umfassend gebildeter Eliten nur selten zu finden ist. Christen tun sich da mit ihrem Glauben an die Offenbarung leichter; so sah auch Jürgen Habermas in seinen jüngeren Schriften die Religionen gegenüber der Wissenschaft im Vorteil, vor allem weil Religionen mit ihrer Seelsorge individuellen Zugang zu ihren Gläubigen haben. 

Ein in den 1990er Jahren in der UNO heftig debattiertes Projekt bietet nun eine ideale Plattform für Christen und humanistische Atheisten, um die Menschenwürde als europäisches Alleinstellungsmerkmal darzustellen: Es ging damals darum, analog zu der 1948 verabschiedeten „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ eine „Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten“ zu verabschieden – inhaltlich nur das, was schon Würde und Anstand verlangen. Unter den seither geänderten Mehrheitsverhältnissen in der UNO wurde das jedoch als „zu euro-zentrisch“ abgelehnt. Gerade deshalb sollte sie nun als „Europäische Erklärung der Menschenpflichten“ beschlossen werden!

Die Europäer tun also gut daran, das Eintreten für die Menschenwürde als „politisches Allzweck-Instrument“ zur Verteidigung Ihrer Identität zu verstehen und die daraus abzuleitende Solidaritäts-Verpflichtung ernst zu nehmen – beginnend mit echter Toleranz im offenen Diskurs. Eine Zivilreligion sollte ihnen helfen, mehr Stolz auf diesen Grund-Wert zu entwickeln und so „Europa verstehen und lieben lernen“. 

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