Die 90er: Früher war alles besser!

Nein, früher war eigentlich nicht alles besser. Es war nur anders. Und rückblickend verklärt man dann doch gerne seine Erinnerungen. Nichtsdestotrotz hat jeder sein Lieblingsjahrzehnt. Die einen lieben die 50er Jahre mit dem aufkommenden Rock n’ Roll oder die 60er, die unter dem Zeichen der Flower-Power-Bewegung standen. Andere bevorzugen die 70er mit Disco und Schlager und alle lieben natürlich die 80er Jahre, die irgendwie alles noch mal hatten, nur in grellen Farben und mit schrägen Frisuren. Ein Jahrzehnt wird dabei gerne vergessen: Die 90er Jahre.

Euphorie ohne moralischen Schnickschnack

Die 90er Jahre begannen mit einem Knall! Die Mauer fiel im Jahre 1989 und bis zur Wiedervereinigung am 03.10.1990 ritt ganz Deutschland auf einer Welle der Euphorie. Ein besonderes Highlight war dabei sicher noch der WM-Sieg der Fußballnationalmannschaft in Italien. Die positive Aufbruchstimmung zu jener Zeit war unbeschreiblich. Erst zur heimischen Fußball WM 2006 herrschte wieder eine ähnlich positive Stimmung im Land. 

Natürlich wurde diese Stimmung irgendwann durch die harte Realität getrübt. Denn das Thema „Arbeitslosigkeit“ sollte das größte Problem der kommenden Jahre werden. Trotzdem war man, ganz untypisch, fast ein ganzes Jahr euphorisiert und blickte eigentlich das gesamte Jahrzehnt positiv in die Zukunft.

Auch die 90er hatten natürlich ihre Kriege, Krisen und Katastrophen. Ich erinnere hier nur an den fürchterlichen Krieg in Jugoslawien. Nur, was damals anders war als heute: Die Frage, ob Kriegsflüchtlinge aufgenommen werden sollten, wurde von den Politikern nicht bei Sabine Christiansen (heute Anne Will) diskutiert, sondern im Parlament. Und dann wurde es gemacht. Punkt. Ohne moralischen Schnickschnack.

Bunt, vielfältig, laut

Vielfalt gab es damals auch. Besonders in der Musik. Schlagerrevival, Hip-Hop, Techno, Eurodance und Grunge waren die dominierenden Musikgenres. Der sogenannte Deutschrap wurde ebenfalls zu dieser Zeit massentauglich. Nicht zuletzt durch Bands wie „Die fantastischen Vier“ oder „Fettes Brot“, die Mithilfe des ersten deutschen Musiksenders „VIVA“ enorme Popularität erreichten.

Viele Leute behaupten bis heute, dass vor allem die „harte Musik“ in den 90ern in einer tiefen Krise steckte. Ja, es wurden damals einige musikalische Kapitalverbrechen auf die Menschheit losgelassen. Man höre sich nur „Eye II Eye“ von den Scorpions an. Trotzdem stiegen Bands wie Guns N´Roses und Metallica Anfang der 90er zur absoluten Weltspitze auf. 

Gerade die 90er standen im Metal-Bereich für Experimentierfreude und Erweiterung der Grenzen. Egal ob Trash, Heavy, Death oder Black Metal – frische Bands mischten die Szene auf und machten den Bands aus den 70ern und 80ern ordentlich Feuer unterm Hintern. 

Vor allem in Deutschland bildete sich der sogenannte „Teutonen Metal“. Bands wie Gamma Ray, Primal Fear, Blind Guardian oder Grave Digger brachten reihenweise Klassiker heraus. Man höre sich nur „Nightfall in Middle-Earth“ von Blind Guardian an.  

In Skandinavien formierten sich, neben der umstrittenen Black Metal Bewegung, neue Death Metal Bands, die den amerikanischen Bands in Puncto Qualität in nichts nachstanden. Genres wie Gothic Metal (Type of Negative), Viking Metal (Bathory) oder Progressive Metal (Dream Theater) gewannen zudem in den 90ern massiv an Popularität. Ende der 90er gab es auch zwei kleine „Happy Ends“: Zum einen läuteten HammerFall mit „Glory to the Brave“ die Rückkehr des klassischen Heavy Metals ein und zum anderen kehrte 1999 Bruce Dickinson zu Iron Maiden zurück.

Nichtsdestotrotz war der Techno mit seinen vielen unterschiedlichen Spielarten musikalisch tonangebend in den 90ern. Man erinnere sich nur an die Mayday oder die Love Parade, die tausende Technofans zum Tanzen brachten.

Der Sieg des Hedonismus

Egal, welche Musik man gehört hat, jeder ist damals regelmäßig in Discotheken gegangen. Die Discos waren omnipräsent. Tatsächlich hatte damals jede Kleinstadt einen eigenen kleinen Tanzpalast, in dem jedes Wochenende Schaum-, Karaoke- oder Beachpartys gefeiert wurden. Betroffenheitsrocker, die von Müsli und Atomtod sangen, hatten als trauriges Relikt der 80er ausgedient. Die eher unpolitische Spaßgesellschaft hatte das Ruder übernommen. Körperkult, Outfit und Mehrfach-CD-Wechsler im Auto waren nun die wichtigen Dinge. 

Es waren wirklich schwere Zeiten für die so genannten Alt-68er. Entsetzte Lehrer diskutierten in den Schulen über die verhasste Spaßgesellschaft während auf dem Schulhof über die Simpsons, RTL Samstag Nacht oder Wrestling gesprochen wurde. 

Die meisten Leute haben auch vergessen, dass die erfolgreichste und größte Demonstration in diesem Land nicht von den Klimahüpfern, der Friedensbewegung oder von den rechten Pegida-Flachzangen organisiert wurde. Diese Ehre gebührt weiterhin der „Love Parade“, die mit der einfachen, aber effektiven Botschaft „Liebe“ jedes Jahr Millionen Menschen auf die Straße gebracht hat. 

Der ÖRR wird zum Gespött

Tolle Serien (Akte X, Prinz von Bel-Air), Bücher (Harry Potter) oder Filme (Terminator 2, Titanic, Sieben) gab es natürlich auch. Generell veränderte sich zu dieser Zeit das Fernsehen. Gerade in Deutschland überflügelten die Privatsender den vormals übermächtigen ÖRR. Während im Nachmittagsprogramm bei der ARD der Betroffenheitsmoderator Jürgen Fliege sein Publikum langweilte, liefen auf den „Privaten“ Quotenrenner wie Arabella, Bärbel Schäfer oder Andreas Türk.

Niemals wieder bekam der ÖRR sein mieses Programm so dermaßen um die Ohren gehauen, wie in den 90ern. Da brauchte es auch kein „Twitter als fünfte Gewalt“. „Kalkofes Mattscheibe“ und „Zapping“ nahmen sich genüsslich jede Woche das vollkommen verstaubte Programm des ÖRR in ihren Satiresendungen vor. 

Den größten Triumph gegen den ÖRR konnten Ende der 90er aber Stefan Raab und Guildo Horn erringen. Sie schafften, was vorher noch nie jemanden gelungen war: Sie „crashten“ den traditionell mit langweiligen Songs gespickten und mit falscher Verbissenheit geführten Vorentscheid zum Eurovision Song Contest und gewannen! Was für ein grandioses Jahrzehnt! 

Retro, wohin man schaut

Wie gesagt, ob 50er, 60er, 70er, 80er, 90er oder die frühen 2000er jede Zeit hatte ihren Reiz. Schaut man sich heute die Plakate für große Festivals oder Tourneen an, dann stellt man schnell fest, dass meistens mehrere Bands aus vergangenen Tagen ganz oben im Billing zu finden sind. Im Kino oder auf den Streaming-Diensten laufen regelmäßig Remakes, Serien oder 2., 3., 4. und 5. Teile großartiger Filme aus grauer Vorzeit. Retro scheint momentan für viele Menschen ein wichtiger Anker zu sein, um sich von den Krisen der Neuzeit abzulenken. Die Schriftstellerin Juli Zeh meinte erst kürzlich in einem Interview, dass die 90er und frühen 2000er eher ruhig gewesen seien. Dafür gab es dann von den „Guten“ einen ordentlichen Shitstorm auf Twitter.

Auch wenn früher vielleicht nicht alles besser war, blickte man damals dennoch positiv in die Zukunft. Heute ist man hingegen schon fast dankbar, wenn 2023 nicht ganz so schlimm wird 2022, 2021 und vor allem 2020. Vieles war früher unbeschwerter, während heutzutage Dinge wie Ernährung, Impfung, Sprache oder die Wahl des Transportmittels für die Fahrt in den Urlaub zum Politikum wird. Von dem teilweise fürchterlichen Gebaren einiger ÖRR-Mitarbeiter auf den sozialen Netzwerken ganz zu schweigen. Schließlich ist auch noch „Solidarität“ heute zum wichtigsten Ideal überhaupt aufgestiegen, während „Eigenverantwortung“ und „Freiheit“ eher verpönt sind (Hallo, Floskelwolke). 

Es bleibt zu hoffen, dass die unbeschwerten 90er mit ihrer naiven Aufbruchsstimmung und ihrem individuellen Hedonismus doch noch ein vollumfängliches Revival erleben. Falls nicht, dann sind es ja nur noch 67 Jahre, bis die 90er wieder anfangen. Ich freue mich darauf!

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