Wir Abendländer, die letzten Heiden

Kennen Sie Quintus Aurelius Symmachus, einen der letzten heidnischen Senatoren im spätantiken Rom? Viele kennen ihn nicht. Doch ohne seinen liebevollen Einsatz für eine systematische Neuabschrift vieler, bereits fast vergessener vorchristlicher Autoren hätten zahlreiche antike Schriften nicht überlebt, bevor die Mönche in den mittelalterlichen Klöstern ihre Kopistentätigkeit aufnahmen. Und ohne die Kenntnis dieser Autoren wäre nicht nur unser Wissen um die Antike viel ärmer; auch unsere eigene Geschichte wäre weitgehend anders verlaufen. Ohne Caesar, Sallust, Titus Livius oder Valerius Maximus wäre die Neuentdeckung antiker Staatlichkeit und republikanischer Verfassungen, wie sie seit der Renaissance etwa bei Machiavelli oder später Montesquieu stattfand, in völlig anderen Bahnen vonstatten gegangen, und unsere abendländische Zivilisation hätte sich wohl kaum im selben Maße als „Erbin“ der Antike empfunden (und das Mittelalter zu einem peinlichen Intermezzo zwischen Antike und „Neuzeit“ diskreditiert – übrigens völlig zu Unrecht, aber das ist ein anderes Thema).

Die Liebe zur eigenen Kultur

Wieso bemühten sich Symmachus, seine Mitstreiter und deren Nachfolger (zu denen übrigens auch einige Christen gehörten) im späten 4. Jh. so verzweifelt um die Wahrung des heidnischen Erbes inmitten einer christlich gewordenen, „modernen“ Zeit, wo alles, was einst die griechisch-römische Identität ausmachte – allen voran heidnischer Mythos und stadtstaatliche Verfassung – scheinbar überholt, vergessen, besiegt und irrelevant schien? 

Weil sie auch ohne Aussicht darauf, zu den eigenen Lebzeiten oder derjenigen ihrer Nachkommen ihre eigenen Werte restituiert zu sehen, die Pflicht empfanden, all das, was ihnen von den Vorfahren überliefert worden war, weiterzugeben – und zwar gerade nicht aufgrund eines wie auch immer gearteten rationellen Glaubens an die „Überlegenheit“ der eigenen Zivilisation (welcher durch die Ereignisse ja gerade ohnehin ad absurdum geführt wurde), sondern einfach aus Liebe zum Eigenen.

Die eigene Kultur zu lieben, ist ein absolutes, kein relatives Recht. Alle Gesellschaften, von der technologisch primitivsten bis zu philosophisch hochstehendsten, haben das Recht, nein, sogar die Pflicht, die eigene Identität, die eigene Lebensart, das eigene Weltbild zu pflegen, zu ehren und zu verteidigen, und zwar, ohne dies rationell durch irgendwelche Vergleiche rechtfertigen zu müssen (denn wer das Eigene nur liebt, weil er es für irgendwie überlegen hält, müßte dann ja im Falle einer Niederlage sofort zum Sieger überlaufen). 

Dies bedeutet freilich nicht, daß man nicht auch stetig ein kritisches Auge für die möglichen Schattenseiten der eigenen Gesellschaft bewahren sollte, oder daß man nicht wichtige Lehren und Inspirationen aus der Entwicklung der Nachbarn ziehen kann. Es bedeutet aber letztlich, daß die großen Hochkulturen letzten Endes inkommensurabel miteinander sind, da jede einzelne ihren ganz besonderen, unverwechselbaren Zugang zur Gottheit, zum Mensch und zur Natur entwickelt.

Für gestern und übermorgen

Daher war es auch völlig Rechtens, daß die aussterbende antike Zivilisation, deren paganer Geist zunehmend vom christlichen Monotheismus verdrängt wurde, einen zähen Überlebenskampf zu fechten versucht hat, um das unaufhaltsame Ende möglichst hinauszuschieben – und tatsächlich mit dem Erfolg, daß durch diese letzte Anstrengung zahlreiche Kunstschätze und wertvolles Wissen die sogenannten dunklen Jahrhunderte überlebt haben, die ansonsten wohl unwiederbringlich verloren gewesen wären. 

Und es ging den letzten Heiden nicht nur um die schönen Künste: Auch ihren eigenen Glauben, obwohl die Götter dem Christengott doch offensichtlich unterlegen waren und nicht fähig oder willens schienen, für ihre Tempel und Opfer zu kämpfen, wollten sie doch trotzdem pflegen. Man denke hier nur an Vettius Agorius Praetextatus, einen Zeitgenossen des Symmachus, der nicht nur auf eigene Kosten zahlreiche Tempel wiederherstellen ließ – zum letzten Mal –, sondern auch viele priesterliche Funktionen – Pontifex, Augur, Curialis, Tauroboliatus, Hierophant etc. –, für die sich keine Kandidaten mehr fanden, in seiner eigenen Person kumulierte, um das Überleben der entsprechenden Kulte wenigstens noch für eine Generation zu sichern. 

Genau wie Symmachus mußte auch ihm nur zu gut bewußt sein, daß sein Widerstand bestenfalls hinhaltender Art war, ja daß er sich und seiner Familie sogar Schaden zufügte, indem er nicht wie viele seiner Freunde aus Opportunismus zum Christentum konvertierte und sich dadurch die Gunst des Zeitgeists sicherte, sondern Teil einer zunehmend verfolgten Minorität blieb, die auch der Kaiser trotz Wertschätzung des alten stadtrömischen Adels mit immer weniger Sympathie betrachtete. 

Daß Praetextatus und Symmachus trotzdem der eigenen Tradition treu blieben, war eine bewußte Entscheidung für die Vergangenheit – und für eine ferne Zukunft, die niemand absehen konnte.

Wieder ein Ende

Die Analogien zur Gegenwart sind unverkennbar. Zwar ist der innere Abbau des Abendlandes im 21. Jh. bei weitem noch nicht so weit fortgeschritten wie derjenige der antiken Kultur im 4. und 5. Jh.; und noch – noch – ist davon auszugehen, daß jene, die unser abendländisches Erbe lieber geschützt als demontiert sehen, die (wenn auch leider stille) Mehrheit bilden und selbst der zeitgeistige, linksgrün motivierte westliche Selbsthaß bei vielen Europäern nur ein dünner Firnis ist, unter dem sich bei genauerem kritischen Nachfragen letztlich doch eine gewisse letzte kulturelle Grundsolidität verbirgt. 

Auch die Masseneinwanderung hat die Europäer zwar schon zur Minderheit in vielen ihrer Städte gemacht; trotzdem sind wir noch etliche Jahre davon entfernt, daß sich aus der demographischen Überlegenheit eine geschlossene, auch politisch präsente offene Bewegung bildet. 

Doch zweifellos beginnen wir, zumindest in Westeuropa, zu verstehen, wie die letzten Heiden sich im spätrömischen Reich gefühlt haben müssen, als sie durch die gewaltigen und uralten Bauten ihrer Vorfahren streiften und bei jedem Schritt realisieren mußten, daß die gegenwärtig dominierende Zivilisation nur noch wenig Gemeinsamkeit mit dem echten antiken Geist, der einst diese Momente ermöglicht hatte, aufwies, ja aufweisen wollte. 

Das Erbe weiterreichen

Doch wenn es auch tatsächlich zu spät sein sollte, wie einige nicht ganz zu Unrecht befürchten, die demographischen und ideologischen Tendenzen der Gegenwart noch umzukehren, so ist es doch bei weitem noch nicht zu spät, zumindest unser Erbe zu retten und künftigen Generationen anzuvertrauen. Freilich darf man sich hier nicht die falsche Hoffnung machen, daß es dank einer solchen Anstrengung in absehbarer Zeit zu einer neuen „Renaissance“ kommen wird: Tote Zivilisationen erleben keine Wiedergeburt mehr. Und auch die Anstrengungen der letzten Heiden haben in keinem einzigen Fall zu einer dauerhaften Rückkehr des alten Götterkultes oder gar einer unmittelbaren Wiederbelebung republikanischer Staatlichkeit geführt.

Doch nicht dies darf das einzige Ziel jener letzten Abendländer sein: Vielmehr muß es uns zum einen darum gehen, allem voran die eigene Pflicht gegenüber den eigenen Nachkommen zu erfüllen, denen das in Jahrhunderten zusammengetragene Erbe der Vorväter möglichst unbeschadet zu überreichen ist, ganz egal, was die langfristigen Überlebenschancen dieses Schatzes sein mögen. 

Zum anderen muß auch an fernere Zeiten gedacht werden: Ohne die Anstrengungen der letzten Heiden wären nicht nur der rasche Aufschwung des Mittelalters, sondern auch die Renaissance undenkbar gewesen, und selbst das Christentum wäre ohne die zähe Liebe der spätantiken Heiden zur eigenen kulturellen Identität erheblich weniger in den Stand gesetzt worden, das antike Erbe in sein eigenes Glaubens- und Kultursystem zu integrieren und somit viele Splitter und Spolien antiken Geistes in die abendländische Zivilisation hinüberzutragen, wo sie bis vor gar nicht allzu langer Zeit Teil unseres eigenen Alltags gewesen sind. 

Gerade, weil wir uns über das langfristige Überleben unserer eigenen Zivilisation keinerlei Illusionen machen sollten, stehen wir vor einer gewaltigen historischen Aufgabe, die vielleicht noch wichtiger und größer ist als die derjenigen, die sie einst errichtet haben.

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