Künstler: Alicia Keys
Song: „Fallin’“ – veröffentlicht auf dem Album „Songs in A Minor“, 2001 J Records
Wie klingt Musik, wenn klassische Kompositionstechniken auf urbane Sounds treffen? Eine Frage, die bis zur letzten Jahrtausendwende überraschend selten gestellt wurde – obwohl diese musikalische Verbindung eigentlich naheliegend ist. Es brauchte eine damals noch unbekannte, gerade einmal 20-jährige Künstlerin, um diese Kombination mit echter Überzeugungskraft hörbar zu machen: Alicia Keys.
Zu Beginn der 2000er-Jahre verband sie klassische Klänge mit den lebendigen Soundlandschaften von R&B, Hip-Hop und Soul. Was als persönlicher Ausdruck begann, wurde schnell zu ihrem Markenzeichen – und prägte dann über zwei Jahrzehnte hinweg den Sound ganzer Genres auf nachhaltige Weise!
Alicia Augello Cook, wie die Künstlerin mit bürgerlichem Namen heißt, wurde bereits als Kind am Klavier ausgebildet und ist sozusagen tief verwurzelt in der europäischen Tradition von Chopin und Beethoven. Zugleich war sie aber auch seit früher Jugend ein großer R&B- und Hip-Hop-Fan. Keys legte vermutlich dadurch die Grundlage für ein musikalisches Selbstverständnis, das sich jeder Einordnung entzieht.
Mit ihrer Musik gelang es ihr nicht nur, unterschiedliche Musiktraditionen zu verbinden, ohne ihren Eigenarten den Kontrast zu nehmen – sondern ein Stück weit auch gesellschaftliche Grenzen zu überwinden: Menschen konnten – und können – Alicia Keys hören, egal ob sie aus der Bronx oder aus der Provinz kommen, ob sie sich mit Chopin auskennen oder mit Missy Elliott. Das finde ich spannend.
Ihre Songs tragen meist auch konzeptionell eine doppelte Struktur: auf der Oberfläche scheinbar einfach, fast naiv – im Kern jedoch durchzogen von vielschichtigen Harmonien, technischen Höchstleistungen und stimmlichen Farbwechseln.
Das Lied „Fallin’“ zum Beispiel, erschienen 2001 als Leadsingle ihres Debüt-Albums „Songs in A Minor“, beginnt auf den ersten Blick simpel: mit einer einfachen, sich wiederholenden Akkordfolge.
Doch was Keys daraus macht, halte ich für ein Meisterstück an emotionaler Spannungskurve. Die Gesangsmelodien sind melancholisch, aber dennoch auch hoffnungsvoll. Sie verfallen nie vollständig in ein absolutes Gefühl, sondern bewahren stets eine gewisse emotionale Instabilität. Auch die Instrumentierung ist nach diesem Schema aufgebaut. Wohl ein musikalischer Ausdruck dessen, worüber der Song handelt: das Auf und Ab ihrer damaligen Liebesbeziehung.
Ihren Gesang an sich finde ich schon wahnsinnig beeindruckend: die spielerische Leichtigkeit, mit der sie ihre Stimme einsetzt, das breite Tonspektrum, das sie abdeckt und die emotionale Tiefe, die sie transportiert – Hammer! Vor allem, wenn Sie bedenken, dass sie damals gerade einmal 20 Jahre alt war …
Der Song kletterte damals sofort an die Spitze der Billboard-Charts. Alicia Keys gewann mit ihm (in ihrem ersten Jahr im Rampenlicht!) drei Grammys – darunter „Song of the Year“. Aber wichtiger noch: „Fallin’“ kündigte symbolisch die Ankunft einer Künstlerin im Mainstream an, die nicht nur singen und Klavier spielen konnte – sondern die auch eine klare Vorstellung davon hatte, wer sie war, wie sie klingen und wohin sie musikalisch gehen wollte!
Jemand, der als ein derart ausgereiftes Gesamtpaket wie aus dem Nichts erscheint, ist im Musikgeschäft eine absolute Seltenheit – aber genau das, wovon jede Plattenfirma träumt.
Kein Wunder also, dass der legendäre Clive Davis, Präsident von Columbia Records, Gründer von Arista Records, nicht nur beeindruckt war, sondern sich regelrecht glücklich schätzte, Alicia Keys entdeckt zu haben. Davis, eine der prägendsten Figuren der US-amerikanischen Musikindustrie, hat im Laufe seiner Karriere bereits Größen wie Janis Joplin, Whitney Houston, Bruce Springsteen und viele andere auf den Weg gebracht. Mit Alicia Keys fügte sich eine weitere Ausnahmekünstlerin in diese Reihe ein.
Im Gegensatz zu einigen anderen von Davis entdeckten Künstlern, stand bei Alicia Keys immer ihr musikalisches Werk im Mittelpunkt. Und das tut es noch heute. Das ist eines der Dinge, die ich an ihr so schätze: keine inszenierten Skandale, keine Schlagzeilen über private Dramen, keine überzogene Sexualisierung. Nur eine Frau, ihr außergewöhnliches Talent und ihre unverwechselbare Musik – konstant am Abliefern seit mittlerweile mehr als zwei Jahrzehnten!
In den Vereinigten Staaten hat sich Alicia Keys längst den Status einer Musiklegende erarbeitet. Jeder relevante Hip-Hop-Produzent, jeder relevante Rapper, jeder relevante R&B-Künstler hat gefühlt schon auf irgendeine Weise mit ihr zusammengearbeitet.
Auch ihre Liste an internationalen Hits ist mittlerweile mehr als beeindruckend: „No One“, „Empire State of Mind“ mit Jay-Z, „Girl on Fire“, „Underdog“ – um nur einige zu nennen. Seit sie im Rampenlicht steht, vergeht kaum ein Jahr, in dem Keys’ Stimme nicht regelmäßig durch Radios, Plattformen wie Youtube oder Fernsehgeräte schallt – manchmal so präsent, dass es mir stellenweise fast zu viel wird.
Gerade im Rückblick wird deutlich, was ein künstlerisches Debüt tatsächlich ausgelöst hat – Alicia Keys’ „Fallin’“ entpuppt sich dabei als Schlüsselwerk, das die Grenzen musikalischen Verständnisses nachhaltig verschoben hat.
Produzenten, die in minimalistischer Instrumentierung Ausdruck finden … Künstler wie H.E.R., Florence + The Machine, Sia oder Billie Eilish, die ihre Stimmen oft in den Vordergrund ihrer Lieder stellen … Singer-Songwriterinnen, die klassische Harmonien mit elektronischen Sounds kombinieren … Aber auch Pianisten, die ihre klassische Ausbildung nicht mehr verstecken, sondern als Fundament für neue Soundwelten verstehen … Sie alle gehen mit ihren Ansätzen zurück auf das, was Alicia Keys 2001 losgetreten hat.
Dabei wurde ihr vor ihrem Erfolg von allen Seiten dazu geraten, sich festzulegen. Entweder – oder. Klassik oder „Straße“. Intellekt oder Gefühl. Aber Alicia Keys entschied sich nicht – und dadurch entschied sie sich indirekt für das Leben in seiner Ganzheit; für das Und.
Keys hat mit ihrer Karriere gezeigt, dass man Brüche nicht kitten muss, um sie klingen zu lassen. Dass ein Mensch mehr sein darf als ein angepasster Entwurf, der den gängigen Erwartungen entspricht. Und dass in der Kunst, wie im Leben, etwas Einzigartiges nur dort entsteht, wo sich ein Mensch erlaubt, alles zu fühlen.
Alicia Keys’ Kunst lebt vom Mut, sich der Mehrdeutigkeit hinzugeben, ohne dabei die Klarheit zu verlieren. Und „Fallin’“ ist genau das: ein Lied, das nicht deutlich sagt, was ist – sondern eher zeigt, wie es sich anfühlt. Und das macht den Song, und die Musik von Alicia Keys generell, bis heute so kraftvoll.