Europas Komplexität: Da hilft nur Subsidiarität

Angeblich springt der Frosch aus dem Topf, wenn man siedendes Wasser hineingießt; er bleibt aber bis zum Tod im Topf, wenn das Wasser langsam erhitzt wird. Genau das bahnt sich nun mit der Demokratie an, wie die rezenten Wahlen in Europa zeigen: 

Die liberale Demokratie steckt in einer tiefen, sich verschärfenden Krise, weil sie nicht mehr leistet, was die Bürger sich von ihr versprechen: Wichtige inhaltliche Entscheidungen werden nicht mehr an der Wahlurne, sondern an ganz anderen Orten getroffen. So lebt nun der aktuelle Populismus von der Sehnsucht nach der Rückkehr der wahren Volksvertreter. Brandmauern können da nicht helfen, sie zeigen nur die Angst der Regierungen vor ihren Wählern.

Dieser Krise steht man zwar seit Langem tatenlos gegenüber, doch erst jetzt, ausgelöst durch MAGA-Trumps Liebesentzug und vor allem Putins parallel zum Ukraine-Krieg geführten Destabilisierungs-Feldzug, merken die Europäer, bildlich gesprochen, wie kochend heißes Wasser auf ihren Demokratie-Frosch gegossen wird. Denn Trump denkt nur an Deals und China, und Putin fürchtet Russlands Ansteckung mit Europas Demokratie-Bazillus; dieser darf im Bruderland der Ukraine nicht siegen, und so soll seine Brutstätte im vorgeblich faschistischen, korrupten und schwulen Europa total „entnazifiziert“ werden. Ob der Frosch noch herausspringen kann, das ist die große Frage.

Die Beschleunigungs-Krise der Demokratie

Es besteht also genug Anlass, dem europäischen Demokratie-Frosch noch rechtzeitig zum rettenden Sprung zu verhelfen. Wie auch immer, Demokratie ist keine elitäre Institution, man kann sie auch nicht anordnen; sie beruht auf kulturellen Voraussetzungen, die außerhalb von Institutionen mit traditioneller Akzeptanz kaum gegeben sind. Sie wird auch nur gedeihen, wo ein gegenseitiges Mindest-Vertrauen besteht. Kurz, Europa muss zu einem Raum umfassender Resonanz werden, wo trotz größter Vielfalt alles mit allem und alle mit allen zusammenhängen wollen.

Aber wo liegen denn das eigentliche Problem in Europa, das diese Resonanz verhindert? – Es ist die nun wirklich kritisch werdende Sorge über die Fehlentwicklung des Fortschrittsgedankens, konkret die maßlose Intensivierung aller bewussten wie unbewussten Herausforderungen, die über das unmittelbare Umfeld hinausgehen. Kurz, wo alles so schrecklich kompliziert geworden ist, wie schon 1983 Österreichs Bundeskanzler Sinowatz geklagt hat. 

Genauer ist es die sich beschleunigende Krise der Vernunft bei maßlos vielen Entscheidungen; denn durch den technologischen Fortschritt ist die rasch wachsende Komplexität unserer realen Umwelt mit der konstanten Kapazität der Informationsverarbeitung im menschlichen Gehirn nicht mehr in Einklang zu bringen – eine Überforderung, die schon an der allgemein sinkenden Aufmerksamkeits-Spanne ablesbar wird. Und so bildet sich aus psychisch „Unverdautem“ eine ständige erregte Nervosität, die durch Sensationen abgefackelt werden muss. 

Das politische Schlüssel-Problem unserer Zeit ist also die Notwendigkeit einer „Komplexitäts-Reduzierung“, wie dies der Philosoph Rüdiger Safranski in Gabor Steingarts Pioneer Briefing Economy vom 23.5.2025 bezeichnete. Denn technisch ausgedrückt, wird die Versuchung immer größer, in komplexe Wirkungs-Zusammenhänge typische „Kurzschlüsse“ einzubauen. Damit erweisen sich die üblichen, früher durchaus erfolgreichen Aushandlungsprozesse der Demokratie heute als viel zu langsam und stark irrtumsanfällig. 

Die Krise in Computer-Vokabeln

Natürlich gibt es sehr viele Schrauben, an denen Demokraten drehen sollten, um die notwendige Komplexitäts-Reduzierung zu erreichen. Um dies verständlich darzustellen, seien sie hier in den Rahmen eines Vergleichs mit den wesentlichen Teilen eines Computers gestellt und erläutert:

  • Was der Hardware entspricht, ist das menschliche Gehirn. Es funktioniert zwar hervorragend im überschaubaren Bereich, wo seine bildhafte Denkebene die Umwelt über Sinnesimpulse ganzheitlich registriert und größtenteils unbewusst auswertet. Über das Auge gerechnet, entspricht das mit 1 bis 10 Mega-Bytes pro Sekunde zwar der Leistung eines Groß-Computers, während jenseits der Überschaubarkeit die sprachlich/abstrakte Denkebene zuständig wird und nur Schritt-für-Schritt mit mageren etwa 16 Bytes pro Sekunde operieren kann. Das war für den Menschen der Alt-Steinzeit völlig ausreichend, wird aber heute immer mühsamer und produziert auch mit KI-Unterstützung nur bruchstückhaftes Wissen; muss doch jeder Schritt bewusst gesetzt werden – und allzu oft unterbleiben dann eben die Schritte, die für die korrekte Erfassung einer Situation wesentlich wären. Kurz: Jenseits der Überschaubarkeit ist die Kapazität der Informationsverarbeitung unseres Gehirns miserabel – der moderne Mensch will global denken, während seine intellektuelle Überforderung gleich hinter seinem Dorf beginnt. 
  • Der Neugier-Akku: bei dem heute mit Informationen überfluteten Menschen gleicht die im Computer vom Akku zu liefernden Prozess-Energie seiner intellektuellen Energie, also seiner Aufmerksamkeit und anhaltenden Neugier. Wo sich dieser Akku zu erschöpfen beginnt, ertönen beim Computer Warnsignale und wird er auf ein Notprogramm zurückfallen; bei Menschen hingegen wechselt Vernunft zu Emotion und schließlich zu reinem Instinkt; vorletzte Station wäre der Wutbürger.
  • Dem Software-Paket entspricht in unserem Vergleich die Gesamtheit heute üblicher Prozeduren der Entscheidungsfindung. Dass hier gegenüber menschlicher Hardware und Neugier-Akku der größte Reformbedarf besteht, bedarf wohl keines weiteren Kommentars.

Der Änderungsbedarf

Komplexitäts-Reduzierung muss alle drei Faktoren des Computer-Vergleichs einbeziehen; konkret wird sich vieles ändern müssen:

  • Bei der Hardware muss die dringendste Empfehlung lauten: so viel Politik wie möglich in den Bereich ganzheitlicher Überschaubarkeit holen; das wäre zunächst soweit wie das Auge reicht; und dann dort, wo darüber hinaus soziale Projektionen noch sinnvoll sind – also der soziale Raum, wo man buchstäblich die Kirche im Dorf lassen kann. Genau das meint das oft versprochene, aber nur selten befolgte Subsidiaritäts-Prinzip „politisch soll „oben“ nur machen, was „unten“ nicht kann“. 
  • Der Neugier-Akku wird heute durch unumgängliche Recherchen zur Überprüfung der Informations-Schritte ausgeräumt, die außerhalb ganzheitlicher Überschaubarkeit nur mühsam über die sprachlich/abstrakte Ebene unternommen werden. Unsere Wahrnehmungs- und Handlungskreise, die früher geographisch und/oder zeitlich getrennt waren, verschmelzen nun; und allzu vieles, das auf uns eindringt, kann nicht mehr richtig verarbeitet werden.
  • Die Mängel der Software unserer Entscheidungsfindung liegen vor allem in der Programmiersprache, um bei dem Computer-Vergleichs zu bleiben: An der Spitze „menschlicher Programmiersprachen“ steht seit der Aufklärung die „Wissenschaftlichkeit“ einer „vernünftigen“ Behauptung, also eine nach den Grundsätzen der Logik kombinierte Zusammenfassung aus allen wesentlichen und nachprüfbaren Tatsachen. Das erfordert heute für jede vernünftige Entscheidung einen enormen, auch mit KI meist nicht mehr zu bewältigenden Aufwand, dem trotzdem oft Wesentliches entgeht; denn das Verhältnis des Nahen und Fernen hat sich technisch so sehr geändert, dass jetzt auch die Welt in der Ferne bei uns sehr gegenwärtig ist. Aufgrund dieser näher gerückten Welt haben wir, so Safranski, keine andere Möglichkeit, als mit Komplexitäts-Reduzierungen zu arbeiten und „in unserer Urteilsbildung robuster zu werden“. 

Wir müssen also zur Kenntnis nehmen, dass verantwortliches Handeln außerhalb ganzheitlicher Überschaubarkeit extrem schwierig geworden ist; wir sollten daher entweder weniger entscheiden müssen, oder – nun wird es für den Zeitgeist richtig spooky – „Vorurteile“ und Tradition nicht grundsätzlich ablehnen und so auch spirituelle Erfahrungen ernst nehmen. 

Als Beispiel nennt Safranski die deutsche Kultur, die „nur ein bestimmtes Quantum muslimischer Kultur“ vertrage, weil dieser Demokratie und Liberalität fremd seien. Was die Grenze dieses Quantums „bestimmt“, kann wissenschaftlich kaum zuverlässig beantwortet werden, da allzu viele Faktoren nicht nur zu berücksichtigen, sondern auch im Verhältnis zueinander zu bewerten wären, noch dazu „zeitgerecht“ – eine Sisyphus-Aufgabe.

Die Menschenwürde als Grenze der Komplexitäts-Reduktion 

Wenn eine „robuste“ Programmiersprache vor allem in sozialen und politischen Bereichen Komplexität reduzieren soll, so bedeutet das einen Verzicht auf kleinere Details durch Änderung des Maßstabs. Um dies auszugleichen, empfehlen sich einfache Kontrollmöglichkeiten aus anderen Bereichen. Und tatsächlich, nicht nur für das politisch besonders brisante Beispiel der Grenze für Migration und Integration gibt es ein Prinzip, das für das richtige Maß (hier von Zuwanderung und Integrationspflicht) sorgen kann: Es ist die unveräußerliche, zum Kern-Element europäischer Identität gewordene Menschenwürde – wie 2004 von (damals noch) Kardinal Joseph Ratzinger und Marcello Pera (italienischer Senatspräsident und prominenter Atheist) gemeinsam erklärt.

Die Menschenwürde regelt Spannungsverhältnisse: Verlangt sie doch einerseits, im Blick auf den Anderen auch sich selbst mit den eigenen wesentlichen Bedürfnissen zu erkennen; schränkt seine daraus abgeleitete Nächstenliebe andererseits jedoch auf die Zumutbarkeit mitmenschlicher Solidaritätsleistungen ein. Diese Zumutbarkeit ist freilich nicht, wie in der Wissenschaftssprache üblich, nach linearen Kriterien zu beurteilen, sondern nach ganzheitlichen – womit die bereits erörterten Grenzen ganzheitlicher Überschaubarkeit angesprochen werden; weltweit geltende Einwanderungsrechte gehören jedenfalls nicht dazu, und dürfen auch im Interesse gesellschaftlicher Resonanz fremd-kulturelle Gebräuche nicht angestammte Kultur verdrängen. 

Beispiele für Handlungsbedarf

Will man Komplexität reduzieren, erweisen sich viele Stellen als dringend reparaturbedürftig.  Das beginnt mit dem sprachlichen Abbau von Brandmauern, und zwar von beiden Seiten: der anderen Seite Böswilligkeit zu unterstellen, ist veraltete lineare Propaganda – würde man menschenwürdige Motivforschung betreiben, käme man bald zu einem konstruktivem Diskurs. 

Reformiert gehört das Wahlrecht, zum einen durch Stärkung der Verankerung authentischer Volksvertreter in ihren Wahlkreisen, u.a. durch Vorwahlen und Wahl von Personen statt Listen; zum anderen Bevorzugung von Allroundern vor spezialisierten Sparten-Vertretern. Es setzt sich fort aus den Vorteilen der Überschaubarkeit mit der Priorität des Subsidiaritätsprinzips. 

Unbedingt notwendig ist die Förderung wirklich unabhängiger Medien und Fakten-Checker, weiters im Interesse von Unabhängigkeit und Neugier-Schonung die Eindämmung der Werbung für Umsatzförderung durch die großen Social Media. Und natürlich ist im Unterrichtswesen auf allen Stufen die Komplexitäts-Reduzierung in den Bildungs-Kanon an prominenter Stelle aufzunehmen. 

Klar sollte sein: Wo im Zuge der Reduzierung die Nachprüfbarkeit einer Aussage durch „Robustheit“ oder Vorurteile leidet, wird die Authentizität ihrer Quelle doppelt wichtig.

Ausblick

Die hier skizzierten Ideen können nur der Anfang eines konstruktiven Europa-Diskurses sein. Die Zielrichtung sollte klar sein: Demokratie ist keine elitäre Institution, man kann sie auch nicht anordnen; sie beruht auf kulturellen Voraussetzungen, die außerhalb von Institutionen mit traditioneller Akzeptanz kaum gegeben sind. Sie wird auch nur gedeihen, wo ein gegenseitiges Mindest-Vertrauen besteht. Kurz, Europa muss zu einem Raum umfassender Resonanz werden, wo trotz größter Vielfalt alles mit allem und alle mit allen zusammenhängen wollen. Vetorechte haben dort nichts verloren!

Der dazu notwendige Reformprozess darf also nicht länger dauern, als der Demokratie-Frosch gerade noch aushalten kann. Aber gibt es etwas, das diesen Prozess beschleunigen könnte? 

Durch die Kombination von äußerem und inneren Druck kann das mit einem sehr vorsichtigen Ja beantwortet werden: Denn geopolitisch gesehen, mit dem Nebeneinander von EU, ihren Mitgliedsstaaten und weiteren ur-europäischen Staaten, hat Europa die mit Abstand höchste Komplexität aufzuweisen; diese schnellstens zu reduzieren ist heute eine Überlebensfrage. Europa wird daher entweder schon bald total scheitern – mit dem Ergebnis einer Aufteilung in verarmte Wurmfortsätze kulturfremder Mächte. Oder Europa wird durch Frühstart in die neue „unwissenschaftliche Programmiersprache“ zum weltweiten Leuchtturm dieser Disziplin. Europa hat ja schon mehrere vergleichbare Krisen gut überlebt!

Zur Einstimmung auf diese Themen erstens meine Lese-Empfehlung, vor 70 Jahren vom Wiederentdecker des Menschlichen Maßes geschrieben: „The Breakdown of Nations“ von Leopold Kohr. Und zweitens ein von Safranski zitierter Gedanke in Goethes „Wilhelm Meister”: 

Der Mensch ist zu einer beschränkten Lage geboren; einfache, nahe, bestimmte Ziele vermag er einzusehen und er gewöhnt sich, die Mittel zu benutzen, die ihm gleich zur Hand sind; sobald er aber ins Weite kommt, weiß er weder, was er will, noch was er soll, und es ist ganz einerlei, ob er durch die Menge der Gegenstände zerstreut oder ob er durch die Höhe und Würde derselben außer sich gesetzt werde. Es ist immer sein Unglück, wenn er veranlaßt wird, nach etwas zu streben, mit dem er sich durch eine regelmäßige Selbsttätigkeit nicht verbinden kann.

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1 Kommentar. Leave new

  • Nordlicht
    9. Juni 2025 23:31

    Der Grundsatz der Subsidiarität ist doch gerade abgeschafft worden in den letzten drei Jahrzehnten.
    Das war kein Versehen, sondern Machtverschiebung nach Brüssel, in demokratisch nicht legitimierte und nicht kontrollierbare Bereiche. Zentralisierung.
    Die EU ist mE ebenso wenig reformierbar wie das System ÖRR.

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