Der soeben endgültig vollzogene Ausstieg Deutschlands aus der Atomenergie geht auf den Reaktorunfall in Fukushima in Japan im März 2011 zurück. Deutschland war damals das einzige Land auf der Welt, das daraufhin eine solche Konsequenz zog. Trotz Fukushima kamen alle anderen Kernenergieländer der Welt zu anderen Schlussfolgerungen.
Dennoch halten sich immer noch die Narrative, dass die Kernenergie keine Zukunft in den Energieplanungen der Nationen hätte. In meinem neuen Buch „Die große Energiekrise“ habe ich beschrieben, wie die Realität aussieht. Werfen Sie mit mir einen Blick darauf.
Beschränkte Auswirkungen
Heute gibt es 440 Kernkraftwerke in 33 Ländern mit einer Kapazität von 390.000 MW, die 10 Prozent der Elektrizität der Welt produzieren. 55 Kernkraftwerke sind in der Bauphase und kommen bis 2027 ans Netz.
Viele dieser 55 in der Bauphase befindlichen Kernkraftwerke gehören der dritten Generation an. Das Ziel der Sicherheitsanforderungen der dritten Generation ist, dass selbst bei schweren Unfällen die Auswirkungen auf die Anlage beschränkt bleiben sollen.
Auch eine Kernschmelze soll nicht zur Freisetzung radioaktiver Stoffe führen. Und selbst bei einer Kernschmelze könnte die Schmelze im Reaktordruckgefäß oder in einem speziellen Auffangbecken zurückgehalten und die Wärme kontrolliert abgeführt werden.
Eintrittswahrscheinlichkeit Null
Interessanter für die Weiterentwicklung der Kerntechnik sind jedoch nicht die im Bau befindlichen und heute geplanten Kernkraftwerke. Erst mit einer neuen Generation inhärent sicherer Kernkraftwerke und der Möglichkeit, das Problem der langlebigen Rückstände zu lösen, hätte die Kernenergie eine hohe Akzeptanz, aber wahrscheinlich auch eine noch bessere Wirtschaftlichkeit.
Denn auch wenn durch die höhere passive Sicherheit der Reaktoren der dritten Generation schwere Unfälle mit Austritt von Radioaktivität nahezu unmöglich gemacht werden, können sie doch niemals völlig ausgeschlossen werden. Das Ziel für die dritte Generation ist die maximale Eintrittswahrscheinlichkeit eines solchen Schadens einmal in 10 Mio. Jahren. Aber es sollte Null sein.
Daran arbeiten weltweit Forscher in unzähligen Projekten, nur nicht in Deutschland. Denn die bis 2011 gültige Zweckbestimmung des Atomgesetzes, die Erforschung der Nutzung der Kernenergie zu fördern, wurde ersatzlos gestrichen. Die Kernforschung zum Zwecke der Energieerzeugung wurde eingestellt.
Transmutation
Die Kerntechnik der vierten Generation, an der weltweit geforscht wird, arbeitet überwiegend mit schnellen Neutronen. Die Kraftwerke sind in der Lage, auch nicht spaltbare Atomkerne durch Neutroneneinfang zu spaltbaren zu machen. Natururan hat ja nur 0,7 Prozent spaltbares Material von U-235. Für herkömmliche Reaktoren wird der Brennstoff auf 4-5 Prozent angereichert. Die restlichen 95 Prozent U-238 werden energetisch nicht verwertet.
Mit schnellen Neutronen ist das möglich. Damit wird das Problem der begrenzten Reichweite der Uranvorkommen gelöst, zugleich aber auch das Problem des Atomabfalls, denn dieser kann als Ausgangsstoff zur Energiegewinnung eingesetzt werden. Dabei werden durch die schnellen Neutronen die langlebigen Inhaltsstoffe des Atomabfalls in Spaltprodukte überführt, die dann anstelle von 10.000 Jahren „nur noch“ 500 Jahre sicher in einem Endlager eingeschlossen werden müssen.
Diese Technik nennt man „Transmutation“. Selbst wenn es nicht um die kostengünstige CO2-freie Stromerzeugung durch Kernenergie ginge, müsste sich Deutschland mit dieser Technologie befassen, denn sie sichert die Umwandlung der über Zehntausende von Jahren langlebigen Rückstände in Stoffe, die bereits nach einigen hundert Jahren als abgeklungen gelten.
Vielversprechende Entwicklungen
Augenblicklich gibt es weltweit sechs verschiedene Forschungskonzepte der vierten Generation. Am weitesten fortgeschritten ist das russische Brüterkonzept BREST. Der 300 MW große Reaktor ist in der Region Tomsk im Bau und soll mit Hilfe schneller Neutronen die Rückstände aus abgebrannten Brennelementen nutzen, um Strom zu erzeugen. Er soll 2026 fertiggestellt sein.
Am Netz ist bereits der chinesische Hochtemperaturreaktor HTR-PM. Er arbeitet nach dem Konzept des 1986 in Deutschland stillgelegten Kugelhaufenreaktors, einem Helium-gekühlten Hochtemperaturreaktor auf Thoriumbasis. Der chinesische Reaktor wird anstatt mit Thorium mit auf 8,5 Prozent angereichertem Uran betrieben. Zwei Reaktoren, genannt HTR-PM, treiben seit Ende 2021in der Shandong-Provinz eine 210 MW große Turbine an, die an das Netz angeschlossen werden konnte.
Vielversprechend sind die Entwicklungen, bei dem der spaltbare Brennstoff in 600 Grad Celsius heißem, geschmolzenem Salz gelöst und gleichmäßig im Primärkreislauf des Reaktors verteilt ist (Molten Salt Reactor, MSR). Es gibt keine Brennstäbe, die durch Wasser gekühlt werden müssen; die Spaltreaktion findet direkt im Primärkreislauf statt. Bei Überhitzung kühlt sich der Reaktor von selbst ab, da die Salzschmelze sich dann ausdehnt und die Neutronen auf weniger spaltbare Atome treffen, was die Kettenreaktion bremst. Diesen Weg der inhärenten Sicherheit beschreitet die von Bill Gates gegründete Firma Terrapower.
Den ersten 2-MW-Testreaktor der Flüssigsalztechnologie mit dem Kernbrennstoff Thorium hat allerdings China im September 2021 fertiggestellt.
Die fünfte Generation?
Ein weiterentwickeltes MSR-Konzept mit zwei Kreisläufen (Salzschmelzkreislauf und Kühlkreislauf getrennt) ist der Dual-Fluid-Reaktor (DFR). Er wurde als privates Projekt von Kernphysikern aus Deutschland ohne staatliche Zuschüsse entwickelt und hat mittlerweile weltweit Patente.
Der DFR erzeugt wie die meisten Konzepte der vierten Generation keinen langlebigen Atommüll, im Gegenteil, er baut den bestehenden Atommüll ab; die Energieeffizienz soll etwa 1.000 Mal so groß wie bei Stromerzeugungen auf Basis Erneuerbarer Energien sein. Das Kraftwerk ist inhärent sicher, die Erzeugungskosten für Strom sollen für ein Großkraftwerk von 1.500 MW elektrischer Leistung bei 1 €ct pro Kilowattstunde liegen.
Etwas überambitioniert nennt das Dual-Fluid-Team sein Konzept Kernenergie der fünften Generation. Die Patentinhaber, die sich im privaten Institut für Festkörper-Kernphysik in Berlin organisiert haben, haben ihre Zelte mittlerweile in Vancouver in Kanada aufgeschlagen und eine erste Finanzierungsrunde erfolgreich abgeschlossen. Vom Patent zum Reaktor ist noch ein weiter Weg, auf dem vor allen Dingen die materialtechnischen Probleme bei Temperaturen bis zu 1000 Grad Celsius gelöst werden müssen.
Umdenken ist nötig
Es ist schwer abzuschätzen, welche Konzepte sich am Ende durchsetzen werden. Doch je mehr die Unzulänglichkeiten einer Energiewende auf 100 Prozent Wind- und Solarbasis in den nächsten Jahren zutage treten werden, desto mehr sollte die Offenheit kluger politischer Köpfe auch in Deutschland wachsen, sich mit einem neuen, sicheren Kapitel der Kernenergie zu beschäftigen.
Für einen Neuanfang braucht es einen Ideologiewechsel in der politischen Führung, vor allen Dingen aber ein Umdenken in den Redaktionsstuben deutscher Medien, in denen nach einer Untersuchung des Kommunikationswissenschaftlers Hans Mathias Kepplinger, bis zu seiner Emeritierung langjähriger Professor an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, 70 Prozent der Journalisten immer noch der Auffassung sind, Fukushima habe „endgültig bewiesen“, dass „die Risiken der Kernenergie nicht tragbar sind“.
Wir sollten uns alle an Helmut Schmidts weitsichtige Aussage in der „Zeit“ aus dem Jahre 2008 erinnern, der es erstaunlich fand, „dass unter allen großen Industriestaaten der Welt – von den USA bis China, Japan und Russland – die Deutschen die Einzigen sind, die glauben, sie könnten ohne Kernkraft auskommen“.
Seine Einschätzung war: „Wir haben praktisch unseren Kohlebergbau aufgegeben, wir haben so gut wie kein Öl in unserem Boden, auch nicht vor unseren Küsten. Deshalb liegt es nahe, dass Deutschland einen Teil seiner Energie aus Kernkraft bezieht. Natürlich hat Kernkraft ihre Risiken. Es gibt aber keine Energie und nichts auf der Welt ohne Risiken, nicht einmal die Liebe.”