Künstler: Gotye
Song: Somebody That I Used to Know – veröffentlicht auf dem Album „Making Mirrors“ (Eleven: A Music Company, 2011)
Während die meisten Musiker seit der Jahrthundertwende von Beginn ihrer Karriere an danach streben, eine Marke zu werden, Algorithmen ihren Werdegang beeinflussen und Erwartungen den kreativen Prozess bestimmen, gibt es auch immer noch ein paar wenige, die sich diesem Trend bewusst entziehen. Einer dieser bemerkenswerten Künstler ist Gotye.
Der belgisch-australische Musiker hätte nach dem überwältigenden Erfolg seiner Single „Somebody That I Used to Know“ und des dazugehörigen Albums „Making Mirrors“ mühelos den Weg eines Popstars einschlagen können – mit weiteren Alben, weltweiten Tourneen und einer dauerhaften Präsenz in den Charts, die ihn als feste Größe der Musikindustrie etabliert hätte. Das Fundament dafür war zweifellos gelegt. Doch stattdessen entschied er sich für etwas anderes: Freiheit.
Die Freiheit, Musik um ihrer selbst willen zu machen. Die Freiheit, sich nicht den Zwängen einer Industrie zu unterwerfen, die oft Profit über künstlerische Integrität stellt. Und letztlich die Freiheit, selbst zu definieren, was Erfolg für ihn bedeutet.
Gotye wurde 1980 als Wouter De Backer in Brügge, Belgien geboren, zog aber bereits als Kind mit seiner Familie nach Australien. Musik faszinierte ihn früh, und er begann schon als Kind mit Klängen zu experimentieren und seine eigene musikalische Sprache zu entwickeln. In seiner Jugend entwickelte er dann eine Faszination für analoge Synthesizer und das Sampling vergessener musikalischer Werke (Anmerkung: „Samplen“ bezeichnet das Entnehmen kurzer Ausschnitte von Beats oder Gesang aus bereits veröffentlichten Songs – in der Regel von anderen Künstlern – und deren Wiederholung, sowie das Hinzufügen weiterer Elemente, um ein neues, eigenständiges Werk zu schaffen. Besonders im Hip-Hop ist diese Praxis weit verbreitet, und viele der bekanntesten Rap-Songs enthalten solche „Samples“ – beispielsweise ist beim Klassiker „Gangsta’s Paradise“ von Coolio das Keybord-Riff ein Sample von Stevie Wonders „Pastime Paradise“ – der Refrain wurde interessanterweise auch fast eins zu eins übernommen.)
Gotye komponierte seine Stücke, nahm sie selber auf, veröffentlichte sie unabhängig und ließ sie für sich selbst sprechen – ganz ohne Promotion. Dass seine Tracks deshalb zunächst lange nur äußerst geringe Beachtung erhielten, störte ihn dabei nie. Ihm ging es schlicht nur darum, sich durch Musik auszudrücken.
Sein erstes Album „Boardface“ erschien 2004 und war eine Collage aus elektronischen Klängen und seiner ausdrucksstarken Stimme. Es war kein Werk für den Mainstream, aber eines, das seine musikalische Vision deutlich zeigte. Gotye verband elektronische und natürliche Töne auf eine Weise, die ihn von anderen Künstlern abhob. Mit seinem zweiten Album „Like Drawing Blood“ erlangte er 2006 in Australien erstmals größere Anerkennung – insbesondere durch Songs wie „Hearts a Mess“, die seine Fähigkeit unterstrichen, emotionale Tiefe mit experimentellen Klängen zu vereinen. Doch seine Karriere blieb weiterhin fernab des Mainstreams – ohne Massenhysterie, ohne riesige Marketingkampagnen und vor allem ohne internationale Präsenz.
Dann kam die Platte „Making Mirrors“ im Jahr 2011 – und mit ihr das Trennungslied „Somebody That I Used to Know“. Dieser Song, den Gotye mit der australischen Sängerin Kimbra aufnahm, wurde ein globales Phänomen: In mehr als 20 Ländern erreichte er sofort Platz eins in den Charts, gewann zwei Grammys und wurde zu einer der meistverkauften digitalen Singles aller Zeiten! Ein unglaublicher Erfolg für zwei Künstler, deren Bekanntheit zuvor nie über ihre Landesgrenze hinausging.
Die Melodie des Tracks basierte auf einem Sample des brasilianischen Gitarristen Luiz Bonfá – ein weiterer Beweis für Gotyes Leidenschaft für musikalische Fragmente aus der Vergangenheit. Der Song fügte sich perfekt in seine künstlerische Philosophie: eine Mischung aus Alt und Neu, Persönlichem und Universellem, Pop und Experiment. Und auch die emotionale Tiefe, die seine Musik stets prägte, wurde hier eindrucksvoll transportiert:
But you didn’t have to cut me off
Make out like it never happened and that we were nothing
And I don’t even need your love
But you treat me like a stranger, and that feels so rough
No, you didn’t have to stoop so low
Have your friends collect your records and then change your number
I guess that I don’t need that, though
Now you’re just somebody that I used to know
Doch mit diesem Erfolg stellte sich für Gotye eine Frage, die viele Künstler an einem solchen Wendepunkt ihrer Karriere konfrontiert: Was nun? Der klassische Weg wäre gewesen, schnell ein weiteres Album nachzulegen, die Marke Gotye zu festigen und sich als globaler Popstar zu etablieren. Doch genau das tat er nicht.
Stattdessen zog sich Gotye überraschenderweise zurück! Kein neues Soloalbum, keine überproduzierten Singles, kein Versuch, den Erfolg künstlich zu wiederholen. Für viele mag das unverständlich erscheinen. Warum sollte jemand, der gerade „die Welt erobert hat“, freiwillig aus dem Rampenlicht treten? Doch genau hier wird Gotyes Philosophie der Freiheit sichtbar: In einer Branche, die darauf setzt, dass Künstler ständig liefern, immer neue Inhalte produzieren und ihre Popularität monetarisieren, entschied er sich dafür, sich dem Ganzen zu entziehen. Erfolg bedeutete für ihn nicht, möglichst lange an der Spitze zu bleiben – sondern seine eigene künstlerische Integrität zu bewahren.
Ein weiterer Aspekt, der bei Gotyes Rückzug eine Rolle gespielt haben könnte, ist der unberechenbare Einfluss, den man als bekannter Künstler auf andere ausübt. Jeder Mensch nimmt Musik durch seine eigenen Augen wahr, projiziert seine eigenen Erfahrungen hinein und erlebt sie auf eine Weise, die der Künstler nie vorhersehen kann. Songs können Menschen in Dingen bestärken, sie zu bestimmten Handlungen inspirieren oder ihre Weltsicht bestätigen – oft ganz ohne die Absicht des Künstlers. Diese Vorstellung könnte für viele, mich eingeschlossen, unheimlich sein, da man als öffentliche Figur nicht mehr kontrollieren kann, was die eigene Kunst in anderen auslöst. Ich frage mich deshalb, ob es auch für Gotye ein Faktor war, der ihn dazu bewogen hat, sich direkt wieder aus dem Rampenlicht zurückzuziehen? Aber diese Überlegung stützt eigentlich wiederum nur die These: Dass Menschen Künstler als Projektionsfläche nutzen und ihnen Dinge zuschreiben – denen man sich nur entziehen kann, indem man sich bewusst zurückzieht.
Doch was tat Gotye nach seinem Rückzug? Musikalisch blieb er aktiv – aber auf seine eigene Weise. Er intensivierte seine Arbeit mit seiner Band The Basics, die sich musikalisch in eine ganz andere Richtung bewegt, als seine Soloarbeiten. Die Band, die er bereits 2002 mitgegründet hatte, veröffentlichte weiterhin Alben und spielte regelmäßig Konzerte – allerdings weit entfernt von den riesigen Bühnen, die er als Gotye hätte füllen können.
Besonders faszinierend ist auch sein Engagement für die Musik des französischen Pioniers Jean-Jacques Perrey. Perrey war ein Visionär der elektronischen Musik, bekannt für seine Experimente mit dem Ondioline, einem elektronischen Musikinstrument aus den 1940er Jahren, das durch seine flexible Tastatur und den einzigartigen, modulierten Klangcharakter bekannt wurde.
Gotye war so beeindruckt von Perreys Werk, dass er ein eigenes Label gründete, nur um dessen Musik wiederzuveröffentlichen und das Ondioline zu restaurieren. In dieser Leidenschaft für vergangene Klänge zeigt sich erneut Gotyes Drang nach künstlerischer Freiheit: Anstatt sich auf das schnelle Produzieren von Mainstream-Hits zu konzentrieren, tauchte er tief in die Geschichte der elektronischen Musik ein und leistete einen echten Beitrag zur Bewahrung eines fast vergessenen Klangs – einfach nur, weil er das wollte.
Interessanterweise verzichtete Gotye komplett darauf, seinen Mega-Hit finanziell auszuschlachten. Während viele Künstler ihre Musik für Werbung oder Filme lizenzieren lassen, entschied er sich bewusst dagegen, „Somebody That I Used to Know“ für kommerzielle Zwecke herzugeben. Das ist beinahe beispiellos in einer Zeit, in der Musiker größtenteils auf solche Einnahmequellen angewiesen sind. Doch für Gotye war es eine Frage der künstlerischen Integrität – seine Musik sollte nicht zur Hintergrundbeschallung für Produkte werden, sondern für sich selbst stehen.
Freiheit in der Musik – und in der Kunst generell – bedeutet nicht nur, tun zu können, was man will, sondern auch sich nicht gezwungen zu fühlen, das zu tun, was von einem erwartet wird. Es bedeutet, sich nicht von Marktmechanismen, von Popularität oder finanziellen Anreizen steuern zu lassen. Es bedeutet, Kunst zu schaffen, weil man es will, nicht weil man es muss. Gotye hat gezeigt, dass es möglich ist, auch in einer hyperkommerzialisierten Musikindustrie ein anderes Modell zu leben – eines, das künstlerische Authentizität über kommerziellen Erfolg stellt.
Doch heißt das, dass er nie wieder ein Soloalbum veröffentlichen wird? Gotye selbst hat nie ausgeschlossen, dass er irgendwann „zurückkehrt“. Immer wieder betont er, dass er an Musik arbeitet – aber eben völlig ohne Druck. Ob und wann er ein neues Album veröffentlicht, entscheidet er allein. Und genau das ist der Kern seiner künstlerischen Freiheit: Nicht der Erfolg oder die Nachfrage bestimmen seinen Weg, sondern allein seine kreative Überzeugung!
Hier auf Youtube „Somebody That I Used to Know“ von Gotye und Kimbra.