Fast jede Kontroverse über politische Themen führt auch im privaten Bereich zu Entfremdung, Unverständnis und tiefen Gräben: Sei es die Einschätzung des Ukrainekriegs, die politische Leistung Habecks oder Merz als umstrittene Führungsfigur – eine einigermaßen intensive, aber auch ruhige Diskussion, wie sie mancher aus den Zeiten der untergegangenen Bonner Republik kannte, scheint nicht mehr möglich.
Was bleibt da übrig, als bei Gesprächen vorsichtig um mögliche Fettnäpfchen herumzuschleichen, Themen zu vermeiden oder Unwissenheit zu heucheln? Allzu oft macht man dennoch die Erfahrung, dass man in der diskursiven Patsche landet – wie ein Verbrecher am Ort seiner Tat. Und dann sind Zerwürfnisse kaum noch zu stoppen.
Klar ist, dass die Hauptkampflinie zwischen rechts und links, zwischen woke und antiwoke verläuft und mit einer Erbitterung gestritten wird, bis metaphorisch Blut fließt. Jeder dürfte das kennen.
Nun, abgesehen von den Inhalten, will ich hier eine Art Klassifizierung solcher Gespräche und ihrer Strukturen vornehmen.
- Die harmloseste Variante ist die des relativ rationalen Austauschs von Argumenten, der auch in einem entspannten „we agree to disagree“ enden kann. Hier geht es oft um „Zahlen und Figuren“, die ja der Schlüssel zu allem sein sollen – und schon da ist definitiv Dissens möglich.
Ein Beispiel: Das Bruttosozialprodukt Russlands soll kleiner sein als das Spaniens, andererseits gibt es Zahlen, nach denen das kaufkraftbereinigte BIP Russland als viertgrößte Volkswirtschaft der Welt darstellt. Welche Berechnung hier zugrunde gelegt wird, hat natürlich erhebliche Konsequenzen für die wirtschaftliche Resilienz des Landes oder seine militärischen Produktionskapazitäten.
Sicher gibt es für jede Variante Argumente, und sogar eine Einigung in einer Art von Mitte scheint denkbar – oder ein Kompromiss als „sowohl als auch“. Voraussetzung eines solchen Austauschs scheint mir eine gewisse Sachkenntnis zu sein, dazu mathematische Grundkenntnisse plus eine rudimentäre Allgemeinbildung. - Fehlt dies alles, wird es schwierig, und es kommt zu einem emotionsgeladenen gegenseitigen Bezichtigen des Gegners als „dumm“. Implizit liegt dieses Urteil allen Einordnungsversuchen, Demokratieförderprogrammen und massenpsychologischen Beeinflussungen zugrunde, die ja angewandt werden, wie das durch ständige Wiederholen Einhämmern bestimmter Sachverhalte, sei es nun die Klimakatastrophe oder das Heraufziehen eines neuen Nationalsozialismus.
Ohne jetzt zu entscheiden, ob ein Argumentationsstrang wirklich unterkomplex ist oder Aussagen schlicht „dumm“ sind – wie das ja auch in der großen Politik vorkommt – hat ein der Dummheit Bezichtigter immer eine Möglichkeit: nämlich in fast kindlicher Weise die Qualifizierung als „selber doof“ zurückzugeben oder sich das zumindest zu denken.
Andere Formen, tatsächliche „Dummheit“ zu kaschieren, sind Informationsverweigerung („Dazu ist mir meine Zeit zu schade“), der Ausschluss unliebsamer Quellen („Solchen Aluhüten würde ich nie zuhören“) oder die generelle Abwertung aller unpassenden Informationen als „Fake News“. Wenn Informationsmöglichkeiten grundsätzlich geleugnet werden – oder zumindest dann, wenn sie der eigenen gefühlten Meinung widersprechen –, dann ist auch kaum eine Auseinandersetzung möglich. - Die schlimmste denkbare Variante eines Diskurses ist aber die, in der einer der Kontrahenten als unmoralisch oder „böse“ bezeichnet wird. Was Putin sowieso als Etikett gepachtet hat, kann jeden treffen, der eine „falsche“ Meinung äußert. Denn: Wer nicht denkt wie die „Guten“, ist ein „Böser“ – und damit völlig disqualifiziert. Kommt ein Gespräch auf diese Ebene, ist der Beziehungsabbruch nicht mehr weit, dem Gegner wird die Seinsberechtigung abgesprochen.
Abgesehen vom privaten Umfeld kennzeichnet diese Gut-Böse-Dichotomie mehr und mehr unseren gesellschaftlichen Diskurs. Die Wunden, die dabei geschlagen werden, dürften nur schwer heilbar sein. Und ob man dabei mit neun Kreisen der Hölle auskommt, ist die Frage – schließlich müssen neben den üblichen Verdächtigen auch noch Trump und Konsorten untergebracht werden.
Auf jeden Fall ist es hilfreich, für sich zu analysieren, auf welcher Ebene Diskussionen laufen – und zu versuchen, sich auf jeden Fall von Stufe drei fernzuhalten. Wenn möglich! Auch Energie zu sparen, kann ein legitimes Ziel sein.