Auf dem Plattenspieler: Morrissey

Künstler: Steven Patrick Morrissey

Album: Your Arsenal (1992 HMV Records)

In diesen Zeiten, in denen der Staat für „Demokratie“ demonstrieren lässt, und damit sich selbst meint, kann er sich auf seine Getreuen getrost verlassen. Prominente Gefolgsleute sind das staatlich anerkannte Punk-Trio „Die Ärzte”. Seit über 40 Jahren liefern sie den Soundtrack für all jene, die im Herzen und im Hirn gerne ewig 15 Jahre alt bleiben. Hin und wieder aber ergreift sie der Ernst der Stunde, so auch nun mit der Single „Demokratie“, in welche die Regierungsform als „beste Idee aller Zeiten“ gepriesen wird. 

Doch der heilige Ernst kommt vor allem dem älteren Hörer bekannt vor: Schon einmal waren die Ärzte am Puls der Zeit mit klaren Statements. Es war 1994, als sie mit „Schrei nach Liebe“ gegen den Rechtsextremismus anspielten. Was aber evtl. nicht jeder Hörer weiß: Zwei Jahre zuvor tat dies ein sehr viel gewichtigerer Künstler ebenfalls. Und wurde dafür von einer blutdürstigen Musikpresse als Rassist gebrandmarkt. Die Rede ist von Morrissey und dem Track „National Front Disco“ vom Album „Your Arsenal“ von 1992. 

Welcher Song aber erfüllt sein Ziel besser? Wir vergleichen. 

Zum Erscheinen des Albums hat sich Steven Patrick Morrissey fünf Jahre nach dem Ende der Smiths bereits fest als Solo-Künstler etabliert. Diese LP jedoch stellte eine Zäsur da: Der Sound der neuen Band um Boz Boorer und Alan Whyte ist härter und deutlich mehr Rock als zuvor, selbst Gitarrensoli sind nicht fremd. 

„National Front Disco“ findet sich recht früh, als vierter Track, in einer interessanten Abfolge. Es folgt auf „We’ll Let You Know“, einem Song über britische Hooligans, der gleichzeitig melancholisch und bedrohlich ist, beschreibt sowohl deren sinnentleerte Leben als auch brutale Gewaltexzesse. 

Mit der Coda „We’re the last truly british people you will ever know“ springt die Plattennadel zum nächsten Song, der im Grunde die gleichen Themen behandelt. In „National Front Disco“ finden wir Morrissey in der Rolle eines Vaters (?), der seinen Sohn David an die rechtsextreme National Front verloren hat. „Where is our boy? We lost our boy“ zieht sich durch das gesamte Lied. 

Davids Gedanken kreisen um einen großen Tag der Abrechnung, an dem er beweisen kann, aus welch hartem Holz er geschnitzt ist („To show them what you’re made of / When you settle the score“). Doch es bestehen Zweifel, ob der „Donner“ denn je wirklich kommt. 

Das als provokant aufgefasste „England for the english“ (gesungen von einem Sohn irischer Einwanderer) wird nur gesäuselt, wie eine Floskel, um ein Kind in den Schlaf zu wiegen. Die Realität sieht indes viel grimmiger aus: Schon zu Beginn des Liedes weht der Wind „bits of your life away“. 

Auch die Träume des Erzählers sind dahingezogen. Und so zieht es David zu „National Front Disco“. So absurd diese Vorstellung ist, dahinter steckt Tragik. Der Song, getragen von schweren Gitarren, löst sich in chaotische Riffs auf und geht über in das wesentlich freundlichere „Certain People I Know“, welches T. Rex beleiht, aber auch Spaß an Gefahr besingt. 

Im Fall der deutschen Kulturschaffenden ist „Schrei nach Liebe“ eine weniger vielschichtige Angelegenheit. Gleich zu Beginn teilen uns Farin Urlaub, Bela B und Rod Gonzalez ihr Verdikt über den namenlosen Neo-Nazi mit: „Du bist wirklich saudumm / Darum geht’s dir gut.“ 

Es wird sich nach Kräften bemüht, das Bild eines Scheusals zu zeichnen: „Hass ist deine Attitüde“ – was impliziert, dass dieser nicht aufrichtig ist, sondern nur Pose. Unbarmherzig enthüllen die Berliner die Wahrheit über den rechten Radaubruder: Ungeliebt („deine Eltern hatten niemals für dich Zeit“), voller Selbsthass, von minderer Bildung („Alles muss man dir erklären, weil du wirklich gar nichts weißt“) und schlussendlich eine erbärmliche Witzfigur (spöttisch „Ein lieber Kerl“), die eine Kuschelrock-LP im Schrank versteckt. 

Das ist eigentlich traurig, aber übertreiben muss man deswegen nicht: Ein „Arschloch“ ist der Nazi trotzdem. Und so fand der deutsche „Kampf gegen Rechts“ seine Hymne. 

Worin sich beide Songs unterscheiden, ist augenfällig: Morrissey sucht den Menschen hinter dem Monster und zeigt dabei Empathie für einen Jungen, der auf einen falschen Weg geriet. „There’s a country / You don’t live there / But someday you would like to“ – äußert sich hier gar ein Verständnis für die Sehnsucht nach einem besseren England? Dass Morrissey eine gewisse Romantik für das England der 50er und 60er hegt, ist bekannt, „London is dead“ heißt es in „Glamorous Glue“. 

Die Ärzte hingegen konstruieren ein Feindbild als Karikatur, wodurch der politische Gegner sowohl delegitimiert als auch pathologisiert wird: Die Krux des Rechtsextremismus ist daher schlicht Verklemmtheit, der Faschismus nur der Schiss vor dem Fummeln. Das gilt heute als großes Statement, ist aber lediglich auf dem Schulhofniveau der buchstäblichen „Rock’n’Roll Realschule“. 

Die zentrale Zeile ist daher „Weil du Probleme hast, die keinen interessieren“ – die Umstände, sogar die Motivationen für das Abrutschen in den Rechtsextremismus sind den Ärzten und ihren Hörern egal. Was gilt, ist das Erschaffen eines Negativbilds zur Selbstwahrnehmung als mutigen Vorkämpfer des Guten. 

Das ist mehrere Eben unterhalb von Morrisseys reflektierterem und auch reiferem Songwriting. Die ironische Frage hier ist, ob Farin Urlaub, welcher den Smiths mit „Sumisu“ viele Jahre später sogar eine Hommage widmete, sich dieses Songs bewusst ist. Wenn ja, scheint er nicht viel daraus gelernt zu haben. Bis heute nicht. 

Im weiteren Verlauf der Geschichte erlebte Morrissey immer wieder Höhen und Tiefen, seine Verweigerung gegenüber den Ansichten und Moden des Mainstream ließ ihn den Status einer persona non grata ereilen. 

Die Ärzte hingegen sind heute Institutionen, die es sogar als Gäste in die Tagesthemen schaffen. Als mutige Rebellen, die u.a. zur Wahl der Grünen und den Kauf von Wärmepumpen aufrufen, sieht man sie bis heute. Zumindest in den Augen des Staates. 

Morrissey verkündete 2004 stolz in „Irish Blood, English Heart“: „And no regime can buy or sell me.“

Hier können Sie in den Song „National Front Disco” reinhören.

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