Künstler: XXXTentacion
Album: ? (Bad Vibes Forever, 2018)
Es gibt Künstler, die man sofort mit einem bestimmten Genre oder einer Bewegung verbindet. Nirvana beispielweise brachten Grunge in den Mainstream. Bob Dylan gilt als Stimme der Protestbewegung. Metallica haben den Thrash Metal geprägt. Beyoncé ist die unangefochtene „Queen“ des modernen Pop und R&B. Doch XXXTentacion, den ich Ihnen heute vorstelle, sprengte die Genres.
Stellen Sie sich vor, jemand hört z.B. Schlager, Techno und Rap – allein das wäre schon ein ziemlich ungewöhnlicher Musikgeschmack. Aber dann denken Sie einen Schritt weiter: solch eine breite Palette an Genres nicht nur zu konsumieren, sondern sie selbst zu machen. Und das auch noch auf einem Niveau, das Fans und Kritiker gleichermaßen begeistert. Genau das tat XXXTentacion.
Er war nicht einfach ein Rapper, er war ein Visionär, der alles, was ihn inspirierte, zu einem unvergleichlichen Mix verwob. Seine Songs dauerten oft nicht länger als drei Minuten – viele sogar weniger als zwei Minuten. Von aggressiven Rap-Tracks, die von Schmerz und Wut erzählen, über gefühlvolle Akustik-Balladen bis hin zu experimentellen Klängen, die sich jedem Schema entziehen. Er verband Musikstile miteinander, überschritt mühelos Grenzen, schuf eigene Klangwelten. Für mich ist er einer der faszinierendsten Künstler unserer Zeit.
X – wie ihn seine Fans nennen – wurde am 23.01.1998 in Florida geboren, sein bürgerlicher Name ist Jahseh Onfroy. In sehr jungen Jahren wurde er innerhalb von nur zwei Jahren einer der erfolgreichsten Künstler der 2010er Jahre – und starb.
Seine gesamte Diskografie hat auf Spotify insgesamt über 30 Milliarden Streams. Der Track „SAD!“ erreichte Platz 1 der US-Charts und war zeitweise in den Top 20 der meistgestreamten Songs aller Zeiten.
„?“, sein zweites Studioalbum, erschien im März 2018, nur drei Monate vor seinem tragischen Tod: Am 18. Juni 2018 wurde der damals 20-Jährige in Florida von vier Gangstern aus der Gegend auf dem Parkplatz eines Motorradladens in seinem Auto sitzend ausgeraubt. Da X sich zur Wehr setzte, schoss einer der Täter aus nächster Nähe mehrmals auf ihn und verletzte ihn tödlich. Die Nachricht und das Video, in dem Onfroy fast schon hingerichtet im Fahrersitz liegt, erschütterte Millionen von Fans weltweit – so auch mich.
Auf „?“ zeigt sich die ganze Bandbreite von XXXTentacions musikalischem Schaffen eindrucksvoll – der Name ist Programm! Das Album ist ein Labyrinth aus Emotionen, Genres und Soundbildern. Beim Hören fragen Sie sich hin und wieder vielleicht, ob Sie noch dieselbe Platte hören, oder ob durch einen technischen Fehler nun doch ein Zufallsmix diverser Bands läuft. Von aggressivem Trap auf „Floor 555“, das mit brutaler Energie an Punk erinnert, über sanfte Akustikballaden wie „Changes“, bis hin zu Nu-Metal-Anklängen in „Pain = BESTFRIEND“, das er gemeinsam mit Travis Barker von Blink 182 aufnahm. Das sind nur einige Beispiele.
Der Song „Pain = BESTFRIEND“ beginnt überraschend ruhig, fast zart, mit einer eindringlichen Melodie, die einen in die Tiefe von X’s Gefühlswelt zieht. Doch dann explodiert er in einer überwältigenden Wucht, in der rohe Aggression und schonungslose Ehrlichkeit verschmelzen. Die emotionale Intensität steigert sich bis ins Extrem und lässt die tiefen Abgründe spüren, die Jahseh Onfroy durchlebt hat – eine Mischung aus Chaos und Katharsis, die unter die Haut geht: „Don’t cry, don’t cry, pain won’t end/ Pain will always be my friend.“
Dann gibt es Songs wie „Alone, Part 3“, den Opener der Platte, in denen X seine depressive Seite zeigt, emotional wie kaum ein anderer: „So when I’m weak, who do I call?/ My God it hurts, I can’t be calm / What do I do? Where do I run? / I’m tired of hate, I’m tired of love / I’ve dug my nails into my arms / She turned an left with all my scars / What is my Worth?“, singt er mit gebrochener Stimme. Der Song ist ein eindringlicher Monolog über Selbstzweifel und Herzschmerz, aber auch ein indirekter Dialog mit seinen Zuhörern, die ähnliche Kämpfe durchleben. Dieses persönliche Element machte X für mich zur Stimme meiner eigenen inneren Konflikte.
Doch die LP verarbeitet nicht nur negative Emotionen: „I Don’t Even Speak Spanish Lol“ ist ein karibisch angehauchter Reggaeton-Track, der alleine mit seinem Titel schon für ein Schmunzeln sorgt. Die Leichtigkeit und der mitreißende Rhythmus versprühen pure Sommer-Vibes. Genau solche Kontraste machen „?“ so besonders.
Der bekannteste Song des Albums, „SAD!“, wurde posthum zu einem Welthit. Das Musikvideo, das kurz nach seinem Tod veröffentlicht wurde, zeigt X, wie er bei seiner eigenen Beerdigung in den Sarg blickt. Symbolischerweise kämpft er in dem Video mit seinem alten Ich, als ob er sich von seinen dunklen Seiten verabschieden möchte. Es ist ein bewegendes, da fast prophetisches Werk, das seinem Tod bedingt natürlich eine noch tiefere Bedeutung erhielt und bei mir damals für einen echten Gänsehaut-Moment sorgte, als ich es sah!
Der Song „Before I Close My Eyes“ ist kaum mehr als eine flüsternde Melodie, eine letzte Bitte um Frieden: „Before I lay me down to sleep / I pray the Lord my soul to keep“ Es klingt wie ein Kindergebet, doch die Bedeutung ist tief und schockierend – besonders, da X eben nur kurze Zeit nach der Veröffentlichung starb und das somit wirklich eine Art Abschiedslied wurde.
Abseits der Musik war XXXTentacion eine äußerst kontroverse Person. Er galt, gerade am Anfang seiner Karriere, als sehr gewalttätig. Es kursierten unzählige Videos im Netz, in denen er in Straßenkämpfe verwickelt war. Körperverletzung, Freiheitsberaubung, Nötigung und Raub sind nur ein paar Anklagepunkte, für die er immer wieder im Gefängnis saß.
Er war aber auch ein Künstler, der den Kontakt zu seinen Fans „lebte“: Er streamte beinahe täglich Live-Videos, in denen er stundenlang direkt mit seinen „Anhängern“ sprach, ihre Fragen beantwortete und Geschichten erzählte. Er gab Ratschläge, teilte Lebensweisheiten. Diese Interaktionen waren kein bloßes Marketing, sondern eher wie eine echte Gruppentherapie, bei der X nahbar und verletzlich war. Er wollte, dass seine Fans sich gehört fühlten – seiner Aussage nach deshalb, weil er sich als Kind oft nicht gehört fühlte und das Gegenteil bei anderen bewirken wollte.
Sein Engagement ging jedoch auch über die digitale Welt hinaus: X war bekannt dafür, sich aktiv für benachteiligte Kinder einzusetzen. Er organisierte Aktionen, bei denen er Kinderheimen Spielzeug und Geschenke spendete, und ermunterte andere, es ihm gleichzutun. Auch für obdachlose Teenager sorgte er öfters. Es schien fast, als lebte er nach dem Motto: „Be who you needed when you were young.“ In seinen besten Momenten war Jahseh Onfroy nicht weniger als das: Ein Vorbild für Menschen, die aus schwierigen Verhältnissen kommen und trotzdem etwas Positives schaffen wollen.
Sein Einfluss ist unbestreitbar: Selbst posthum erreichte er Meilensteine, die nur wenigen Künstlern gelingen. So wurde „SAD!“ neben den vorher genannten Erfolgen auch der erste Song, der die Eine-Milliarde-Stream-Marke auf Spotify knackte. Wie das Vorgänger-Album, wurde auch „?“ mehrfach mit Platin ausgezeichnet.
Bis heute gibt es im Internet unzählige Gruppen, Seiten und Threads, die sich eingehend mit diesem außergewöhnlichen Künstler und seinen Botschaften beschäftigen. Was wäre für X noch alles möglich gewesen, wenn er mehr als nur diese zwei Jahre Zeit gehabt hätte, in der Musikwelt zu wirken? Wo wäre er heute? Was hätte er mit den nachfolgenden Werken erreicht? Welche Bewegung hätte er aufgebaut?
Hören Sie hier bei YouTube das komplette Album „?“ von XXXtentacion.