Aufbau und Zusammenbruch in Zyklen

In den letzten Tagen fällt mir auf, dass die kritische Berichterstattung, auch in alternativen Medien, von einem eher kurzfristigen Modus des Anprangerns des tagtäglichen Wahnsinns zu globalen Beschreibungen des Niedergangs der deutschen Wirtschaft, der Auflösung des bisher gültigen Gesellschaftsvertrags und der Beschreibung einer nicht mehr aufzuhaltenden Katastrophe übergegangen ist. 

Die Großindustrie, ja auch der Mittelstand, verdünnt sich, Putin ante Portas, der Schuldenberg wächst, Pensionen- und Rentenlasten driften in die Untragbarkeit und von der kommenden Generation ist keine Wende zu erwarten, weil das Bildungssystem schon lange versagt hat. 

Um nur zwei Darstellungen zu nennen, sei auf die sowohl bei „Tichy” als auch bei „Achgut” erschienene Serie von Gerd Held, hier und hier, und die unaufgeregten, aber nicht von der Hand zu weisenden Prognosen von Horst Lüning hingewiesen. Beide Kommentatoren rekapitulieren die Geschichte der Bundesrepublik als Verfallsgeschichte, als quasi fast nicht aufhaltbaren Niedergang in Phasen. Ich möchte mich hier auf Held konzentrieren, schon weil sein Text schriftlich vorliegt. 

Interessanterweise teilt Held seine historische Betrachtung in vier Phasen ein, beginnend mit der Staatsgründung der Bundesrepublik 1949, in Abschnitten von etwa 30 Jahren:

  • Phase 1: 1950er, 1960er und 1970er Jahre. Produktivität, Wehrhaftigkeit und Bescheidenheit.
  • Phase 2: 1980er, 1990er und 2000er Jahre. Herauslösung eines „gehobenen” Sektors mit seinen „höheren” sozialen, ökologischen und moralischen Zielen jenseits der Unternehmensproduktivität.
  • Phase 3: 2010er, 2020er und 2030er Jahre. Alleinherrschaft des „gehobenen” Sektors, Zerstörung von Produktivität, Wehrhaftigkeit und Bescheidenheit.
  • Phase 4: 2040er, 2050er und 2060er Jahre. Rehabilitierung von Produktivität, Wehrhaftigkeit und Bescheidenheit, „Wiederaufbau” Deutschlands.

Das zyklische Denken, das sich hier zeigt, erinnert deutlich an die Weltalterlehre der Antike: Auf ein goldenes folgt ein silbernes, bronzenes, dann heroisches und schließlich ehernes Zeitalter, in dem nur noch Blech geredet wird (Ironie aus). 

Es sei mir hier erlaubt, ein kurzes Zitat von Hesiod und einen Hinweis auf Ovid einzufügen: 

„Das letzte, das eiserne Geschlecht, lebt in der Gegenwart des Dichters, und dieses Zeitalter ist unter allen fünf Zeitaltern das jämmerlichste und das verkommenste:

Bald missachten sie auch die Erzeuger, die altersgebeugten,

Schmähen die armen sogar, mit kränkender Rede sie tadelnd,

Frevelnd und nimmer gedenk des Gerichtes der Götter; sie lohnen

Niemals wohl den Eltern, den alternden, Pflege der Kindheit;

Faustrecht waltet; die Stadt will einer dem andern verwüsten.

[…]

Weit von dem Treiben der Menschen zum Stamm der Ewigen flüchtend,

Scham und Scheu; zurück wird bleiben der sterblichen Menschen

Düsterer Jammer, und Hilfe sich nirgends zeigen im Elend.”

Während Hesiod die Verkommenheit dieses Geschlechtes vor allem darin erkennt, dass die fundamentalen Verpflichtungen (gegenüber den Eltern, dem Gastfreund, dem Höhergestellten) nicht mehr respektiert werden und das Recht selbst zum Mittel des Übergriffs durch Meineid und falsche Anklage pervertiert wird, betont Ovid eher wirtschaftliche und technische Veränderungen, die Verderben mit sich bringen bzw. ermöglichen: den Schiffbau, der Seeraub ermöglicht, die Landvermessung, mit der das vormalige Gemeingut abgemessen und aufgeteilt wird, der Bergbau, durch den Eisen für Waffen und Gold als Anreiz der Habgier aus der Erde geholt wird. Bezüge zur Gegenwart sind natürlich rein zufällig und ungewollt.

Interessant ist nun, dass diese Form von Geschichtsbetrachtung immer dann aufkommt, wenn sich die reale soziale oder politische Situation deutlich verschlechtert. Im Grunde sind derartige Überlegungen immer Systematisierungen von Niedergangszyklen und Ausdruck der Hoffnung, dass nach der definitiven Katastrophe ein Neuanfang, Held nennt es „Wiederaufbau”, folgt. 

Ähnliches gilt für den ökonomischen Bereich für die Kondratjew-Zyklen. Über deren zeitlichen Ablauf besteht generell Einigkeit, wenn auch mit einigen Abweichungen:

ca. 1780–1840: Frühmechanisierung, Beginn der Industrialisierung in Deutschland, Dampfmaschinen-Kondratjew. Es gibt Vermutungen, dass es in England schon einen früheren Zyklus gab.

ca. 1840–1890: Zweite industrielle Revolution, Eisenbahn-Kondratjew, Bessemerstahl und Dampfschiffe. In Mitteleuropa Gründerzeit genannt.

ca. 1890–1940: Elektrotechnik- und Schwermaschinen-Kondratjew, auch Chemie.

ca. 1940–1990: Automatisierungs-Kondratjew, Basisinnovationen: Integrierter Schaltkreis, Kernenergie, Transistor, Computer und das Automobil.

ab 1990: Informations- und Kommunikations-Technik-Kondratjew, globale wirtschaftliche Entwicklung. 

Geht man von einer gewissen Regelmäßigkeit der Kondratjew-Zyklen aus, müsste ab 2040 über Innovationen wie vielleicht KI oder Fortschritte in der Energietechnik ein neuer Schub erfolgen. Dabei wäre allerdings zu bedenken, dass sich in der Moderne, sicher ab der Renaissance, Zyklen deutlich beschleunigen. Der Ackerbau blieb von der neolithischen Revolution bis ins Mittelalter stabil, beschleunigte sich aber technologisch durch chemische Innovationen oder Maschinen und in neuerer Zeit auch durch die Genetik erheblich. Zudem scheinen Zusammenbruchsphasen schneller abzulaufen als Phasen des Aufbaus. 

Doch zurück zu Helds Artikelserie. Er begründet seine Einteilung in 30-Jahresphasen wie folgt: „30 Jahre dauern länger als eine Legislaturperiode, länger als ein Konjunkturzyklus. Sie sind aber weniger lang als große Trends bei der Bevölkerungsentwicklung, bei der Strukturentwicklung in Stadt und Land, bei den territorialen Grenzen und den Verfassungen von Nationalstaaten und natürlich auch bei Geologie, Klima, Flora und Fauna. Hingegen kann man sehr wohl im 30-Jahre-Rhythmus fundierte Bilanzen der Entwicklung eines Staatswesens und einer Volkswirtschaft ziehen und deren Tragfähigkeit beurteilen.“ 

Die zugegeben nicht genau fixierbaren Einschnitte im 30-Jahre-Rhythmus, die Held angibt, sind 1949, 1979, 2009, 1939 und Folgende. Wir wären also demnach in der dritten Phase in der Mitte und die vierte läge doch noch sehr weit in der Zukunft. 

Ich möchte dazu einen anderen Vorschlag machen: Einen 20-Jahre-Zyklus. Die Einschnitte waren 1949 die Gründung der Bundesrepublik, 1968/69 die 68er-Revolution, 1989 die Wiedervereinigung, 2008/2009 die Subprimekrise und dann folgt 2029. Das Finale des gegenwärtigen Krisenzyklus stünde also vor der Tür und wir befänden uns fast schon in der Endphase eines Zusammenbruchs. 

Die von mir angegebenen Daten und angedachten 20-jährigen Phasen haben zwei Charakteristika: Sie entsprechen deutlich den historischen Einschnitten der bundesrepublikanischen Geschichte und sie verschieben den erhofften Wiederaufbau nicht auf den Sankt-Nimmerleinstag. 

Dass die Fundamente der Gesellschaften weltweit ins Rutschen gekommen sind, dürfte niemandem entgangen sein. Schon die außenpolitische Situation ist beunruhigend: Was, wenn der Ukrainekrieg tatsächlich verloren geht? Was, wenn der Nahostkonflikt sich ausweitet? Was, wenn das westliche Währungssystem tatsächlich unter seinen Schulden zusammenbricht? – Fünf Jahre können lang sein. Der Zweite Weltkrieg dauerte genauso lang. 

Ich möchte an dieser Stelle meine Überlegungen unterbrechen und noch einmal betonen, dass ich den Texten Herrn Helds weitestgehend in ihrem analytischen Gehalt zustimme. Kritik habe ich nur an der zeitlichen Taktung. Konkrete Lösungsvorschläge kann ich ebenfalls nicht erkennen, eher verbirgt sich für mich eine fast religiöse Hoffnung im Begriff „Wiederaufbau“.

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