„Wenn man die Pandemie Revue passieren lässt, muss man natürlich sagen, dass Grundrechte Abwehrrechte gegenüber staatlichen Maßnahmen sind und – das ist ja auch gerichtlich festgestellt worden – dass die eine oder andere Maßnahme sicherlich auch unverhältnismäßig gewesen ist.“
Dies sind die Worte von Edgar Franke, parlamentarischer Staatssekretär beim Gesundheitsminister, geäußert in der Fragestunde im Bundestag am 15. März 2023. „Ich meine diese Geschichte, dass man nachts nicht rausdurfte. Auch der Minister hat beispielsweise ausdrücklich gesagt, dass es in der zweiten, dritten, vierten Welle sicherlich problematisch war, dass an den Schulen kein Unterricht stattgefunden hat. Das hat sicherlich soziale Auswirkungen auf Schüler und Schülerinnen gehabt, die zum Teil schwerwiegend waren.“
Inzwischen räumen auch höchste Stellen ein, dass die staatlichen Covid-Maßnahmen teilweise zu weit gegangen sind und mehr geschadet als genützt haben. In den Vorjahren allerdings ging diese Politik vielen umgekehrt noch nicht weit genug. Dazu gehören die Unterstützer der Initiative „Zero Covid“, die sich zum Ziel gesetzt hatte, Covid vollständig auszurotten, wie es trotz brutaler Lockdowns auch in China nicht gelungen ist. „Die Maßnahmen der Regierung reichen nicht aus“, heißt es im Aufruf der Initiative vom 12. Januar 2021. „Das Ziel darf nicht in 200, 50 oder 25 Neuinfektionen bestehen – es muss Null sein.“
Dies sollte durch einen „solidarischen Shutdown“ erreicht werden, „eine solidarische Pause von einigen Wochen“. Betriebe und Schulen müssten „geschlossen und die Arbeitspflicht ausgesetzt werden“, und zwar, „bis die oben genannten Ziele erreicht sind“.
Flankierend forderte die Initiative ein „umfassendes Rettungspaket für alle“, gezielte Unterstützung besonders vom Shutdown betroffener Gruppen, einen massiven Um- und Ausbau der Gesundheitsinfrastruktur und eine Verstaatlichung von Impfstoffen. Mit dem „enormen Reichtum“ der europäischen Gesellschaften sei all das „problemlos finanzierbar“. Zwecks Zugriff auf diesen Reichtum sieht die Zero-Covid-Strategie „die Einführung einer europaweiten Covid-Solidaritätsabgabe auf hohe Vermögen, Unternehmensgewinne, Finanztransaktionen und die höchsten Einkommen“ vor.
Insbesondere in Anbetracht der letzteren Pointe verwundert es nicht, dass sich die Unterzeichnerliste liest wie ein Who’s Who der deutschsprachigen linken Medienprominenz. (Die Website gibt es nicht mehr, aber man findet eine Kopie im Internetarchiv unter archive.org, wenn man zero-covid.org eingibt.)
Doch wie kommt das eigentlich? Was hat die Befürwortung harten Durchgreifens zur Bekämpfung eines Virus mit einer linken politischen Orientierung zu tun?
Konflikt der Visionen
In seinem Buch „A Conflict of Visions“ hat der US-amerikanische Ökonom und Intellektuelle Thomas Sowell zwei allgemeine Weltbilder herausgearbeitet, die im Streit über politische und gesellschaftliche Fragen seit jeher immer wieder kollidieren und einen guten Teil der Differenzen zwischen rechts und links erklären. Er nennt sie die begrenzte und die unbegrenzte Vision („constrained/unconstrained vision“).
Was darin jeweils begrenzt oder unbegrenzt ist, sind vor allem die Potenziale der menschlichen Natur. Die Essenz der begrenzten Vision bringt ein Satz von Konrad Adenauer gut auf den Punkt: „Nehmen Sie die Menschen, wie sie sind, andere gibt’s nicht.“
Für die unbegrenzte Vision steht dagegen etwa der berühmte Ausspruch von Jean-Jacques Rousseau: „Der Mensch ist frei geboren und überall liegt er in Ketten“. Demnach schränken nur die gesellschaftlichen Verhältnisse die Möglichkeiten des Menschen ein, nicht aber seine Natur.
Fortschritt als Frage des Willens
Sowell führt Adam Smith als prominenten Vertreter der begrenzten Vision an, dessen Theorie der unsichtbaren Hand ein gutes Beispiel abgibt. Die Menschen handeln eigennützig, doch durch die Marktmechanismen wirkt sich dies zum Vorteil der Allgemeinheit aus. Die „moralischen Begrenzungen des Menschen“, zu denen besagte Eigennützigkeit gehört, betrachtete Smith „als inhärente Tatsachen des Lebens“, mit der man sich schlicht arrangieren musste.
Dem gegenüber steht der Philosoph William Godwin als – neben Rousseau – einer der entschiedensten Vertreter der unbegrenzten Vision. „Sozial geschaffene Anreize“, wie sie für Smith eine tragende Rolle spielten, sah Godwin „als unwürdige und unnötige Notbehelfe“, mit denen nur indirekt erreicht werde, was sich viel besser direkt erreichen ließ: „Wenn etwas zum Vorteil von tausend Menschen wäre, sollte ich mich daran erinnern, dass ich im Vergleich dazu nur ein Atom bin, und entsprechende Schlüsse ziehen.“
Für Godwin war die faktisch gegebene Eigennützigkeit im Handeln der Menschen nicht Ausdruck der menschlichen Natur, sondern Niederschlag gesellschaftlicher Verhältnisse, und ließ sich durch verstandesmäßige Einsicht überwinden.
Die begrenzte Vision sieht Menschen wesentlich durch Instinkte bestimmt, die in ihrer organischen Natur wurzeln und unveränderlich sind. Vernunft und Weisheit bestehen hier darin, den bestmöglichen Kompromiss zwischen den Antrieben dieser Instinktnatur und den Anforderungen eines zivilisierten Zusammenlebens zu finden. Die unbegrenzte Vision dagegen sieht die Menschen, wie sie einem leibhaftig entgegentreten, primär als Produkte gesellschaftlicher Verhältnisse, die auch ganz anders sein könnten – wobei sich dieses „die“ auf beide beziehen kann, die Menschen und die Verhältnisse.
Wir können bewusst darauf hinarbeiten, ganz andere Verhältnisse zu schaffen, in denen wir dann auch selbst ganz anders sein können. Der Mensch wird zum Schöpfer einer besseren Version von sich selbst. Letztlich ist Fortschritt damit nur eine Frage des Willens. Wenn die Menschen erst einmal anders sein wollen, etwas anders machen wollen, können sie es auch umsetzen.
Rechte und linke Temperamente
Sowells zwei Visionen haben klare Korrelate auf dem Big-Five-Konstrukt der Persönlichkeitspsychologie. Sie sind Ausdruck entsprechender Temperamente, die ironischerweise zum Teil erblich sind. Der stärkste Prädiktor für linke versus rechte Einstellungen auf Persönlichkeitsebene ist das Merkmal Offenheit für Erfahrung, das bei Linken eher stark und bei Rechten eher schwach ausgeprägt ist. Offenheit für Erfahrung umfasst ästhetisches und intellektuelles Interesse und ist eng verwandt mit dem, was wir als Kreativität bezeichnen. Eine etwas schwächere, aber immer noch bedeutsame Korrelation besteht zwischen politischer Orientierung und dem Charakterzug Gewissenhaftigkeit, der sich aus Fleiß und Ordnungsliebe zusammensetzt. Er ist bei Rechten eher stark und bei Linken eher schwach ausgeprägt.
Offene Menschen lassen gerne die Fantasie spielen und haben ein Bedürfnis nach immer neuen Eindrücken, Informationen und Sichtweisen. Gewissenhafte bevorzugen und schätzen das Regelhafte und Wohlgeordnete. Es ist klar, dass Menschen und Gesellschaften beides brauchen – eine Bereitschaft zur Veränderung und eine gewissenhafte Pflege eingespielter Abläufe und Strukturen, die den Tisch decken und das Chaos fernhalten. Im Idealfall halten beide Kräfte einander die Waage.
Doch was alle Menschen teilen, ist die Versuchung des Stolzes. Sie können sich dazu verführen lassen, die eigene Sicht zu verabsolutieren und mit der Wirklichkeit selbst zu verwechseln. Die Tendenz zur Bildung moralischer Gemeinschaften – heute sagt man auch: Blasen –, die im Extremfall bis ins Sektenartige geht und dann auch offene Menschen ziemlich verschlossen gegen Informationsflüsse von außen werden lässt, kommt verschärfend hinzu. Und während Rechte in so einem Szenario vielleicht die Natur oder ihre ethnische oder kulturelle Herkunft vergötzen, beziehungsweise das, was sie dafür halten – was vergötzen Linke?
Widermenschlich und widervernünftig
In erster Linie den Geist. Vorzugsweise den eigenen. Der Soziologe Armin Nassehi schreibt: „Pierre Bourdieu hat … den Habitus des Intellektuellen dahin gehend kritisiert, dass dieser im Gestus des Epistemozentrischen sein Einwirken auf die Gesellschaft mit der Praxis am Schreibtisch verwechselt, an dem man Welten nach dem eigenen Bilde erschaffen kann, deren einzige Selbstkontrolle im Zugzwang epistemozentrischer Textproduktion liegt.“
Der Intellektuelle kann dem Irrtum aufsitzen, die empirische Wirklichkeit müsse derselben Logik folgen, der er in seinem Text gefolgt ist, nach dem Motto: Wenn ich es gut durchdacht habe, muss es funktionieren. Ähnlich gilt das für Künstler. Ihre alltägliche Erfahrung verführt sie leicht zu dem Trugschluss, der Mensch könne seine Lebensbedingungen ebenso frei gestalten wie sie selbst die Produkte ihrer künstlerischen Arbeit.
Künstler und Intellektuelle empfinden es manchmal geradezu als Kränkung, dass die Realität nicht ihren intellektuellen, ästhetischen oder moralischen Ansprüchen genügt. Das ist beispielsweise der Grundton in Max Horkheimers einflussreichem Aufsatz „Traditionelle und kritische Theorie“, der gewissermaßen als Marxismus-Update fürs 20. Jahrhundert fungiert.
Dass die „von den Menschen selbst abhängigen Verhältnisse“, also die Gesellschaft, den Menschen wie ein „Stück Natur“ begegneten, also als etwas, das seine Eigendynamik hat und nicht ihrer bewussten Kontrolle untersteht, sei „Zeichen einer erbärmlichen Ohnmacht, in die sich zu schicken widermenschlich und widervernünftig ist.“
Mit anderen Worten: Eine Gesellschaft, die nicht so ist, wie man sie sich vernünftigerweise wünschen würde, ist unzumutbar. Doch ist so eine ideal wunschgemäße Gesellschaft überhaupt möglich? In der unbegrenzten Vision ist das immer nur eine Frage des Willens.
Es klappt, wenn alle mitmachen
Auch der Zero-Covid-Aufruf trägt diesen Habitus. Er ist ein buntes Bällebad von emotionalen Wunschfantasien ohne jede ernsthafte Erwägung von Machbarkeit, Kosten oder Risiken. In eigentümlichem Kontrast zum Wohlklang dieser Wünsche steht die Forderung nach autoritärem Durchgreifen, welches wiederum rhetorisch als solidarisches, gemeinschaftliches, vernünftiges Handeln verkauft wird.
Am Schluss heißt es: „Es gibt keinen Gegensatz zwischen Gesundheitsschutz und Pandemiebekämpfung einerseits und der Verteidigung demokratischer Rechte und des Rechtsstaats andererseits. Demokratie ohne Gesundheitsschutz ist sinnlos und zynisch. Gesundheitsschutz ohne Demokratie führt in den autoritären Staat. Die Einheit von beidem ist der entscheidende Schlüssel zu einer solidarischen ZeroCovid-Strategie.“
Das Problem, dass eine derart tiefgreifende politische Hauruck-Aktion autoritäres Staatshandeln erfordert, wird durch Lyrik gelöst, durch Wortmagie, durch die feierliche Proklamation, dass es gar nicht existiere. Der unvermeidliche Zwangscharakter des Projekts wird durch Willensbekundungen, Euphemismen und Umdeutungen aus dem Blickfeld gedrängt.
Dies ist ein Muster, das mehr als ein bisschen an den real existierenden Sozialismus erinnert. Die Logik ist dieselbe: Es wird funktionieren, wenn alle mitmachen. Wenn alle mitmachen, braucht es logischerweise keinen Zwang. Und es werden alle mitmachen, denn die vorgeschlagene Lösung ist eindeutig besser als das Bestehende. Null Covid ist besser als Covid. Sozialismus – d. h. die von Wunschdenken geformte Sozialismusfantasie in den Köpfen von Sozialisten – ist besser als der Status Quo. Da kann man doch gar nicht dagegen sein. Auch die „Letzte Generation“ denkt so, wenn sie davon ausgeht, dass ein geloster „Gesellschaftsrat“ genau die Politik machen würde, die „Letzte Generation“ vorschwebt. Wir haben dermaßen Recht, das kann ein vernünftiger Mensch gar nicht anders sehen!
Alles, was man wissen muss
Deswegen behandeln diese Akteure die Gefahren von Autoritarismus und Diktatur so stiefmütterlich – sie nehmen sie nicht ernst, weil ihre Idee tatsächlich die ist, dass alle freiwillig mitmachen. Den meisten von ihnen wird man durchaus zugestehen können, dass sie keinen Stalinismus wünschen. Doch entscheidend ist nicht, was sie sich wünschen, sondern was passiert, wenn man diesen Ball ins Rollen bringt und eben doch nicht alle mitmachen. Was, wenn sich einige Menschen partout gegen etwas sperren, das aus Sicht der Avantgarde doch eindeutig besser wäre? Muss man die ernst nehmen, die aus Dummheit oder Bösartigkeit auf dem Schlechten beharren? Muss man sie nicht vielmehr um des Gemeinwohls willen aus dem Verkehr ziehen, sofern man sie nicht zur Einsicht bringen kann?
Der fatale Denkfehler dieser ganzen Logik besteht freilich wieder in der Verwechslung von theoretischen Vorstellungen von der Welt mit der Welt selbst, die den Theoretiker dazu verführt, zu glauben, er habe alles im Blick, was für sein Vorhaben relevant wäre.
Der Psychologe Jordan Peterson hat solche Hybris als „luziferianischen Stolz“ charakterisiert: „Die Verleugnung des Unbekannten ist gleichbedeutend mit einer ‚Identifikation mit dem Teufel‘, dem mythologischen Gegenteil und ewigen Gegenspieler des welterschaffenden und entdeckenden Helden. Solche Verleugnung und Identifikation ist eine Konsequenz luziferianischen Stolzes, der erklärt: Alles, was ich weiß, ist alles, was man wissen muss.“
Die Anfang 2022 veröffentlichte Studie „Clarifying the structure and nature of left-wing authoritarianism“ zeigt, dass linke Autoritäre mit rechten nicht alles, aber doch manches gemeinsam haben. Darunter: einen relativen Mangel an intellektueller Bescheidenheit.
Wie man sich denken kann, geht das mit einer gewissen Lernresistenz einher. Der Umstand, dass sich die blumigen Fantasien von Sozialisten bislang nicht in eine entsprechend blumige Wirklichkeit übersetzt haben, sondern eher in Ruin, Tyrannei und gelegentlich Massenmord, lässt sie nicht an der Richtigkeit der Idee zweifeln – denn, wir erinnern uns, letztlich ist alles eine Frage des Willens. Das Scheitern bisheriger Sozialismusversuche zeigt mithin nur, dass der Sozialismus von den jeweils treibenden Kräften nicht ernsthaft gewollt wurde. Es kommt folglich darauf an, dafür zu sorgen, dass beim nächsten Mal der nötige Wille da ist. Die Blutspur des Sozialismus durch die Geschichte ernst zu nehmen würde dabei nur stören.
Patendlösungen
Am 26. März zeigten sich zahlreiche Linke im Gefolge von Luisa Neubauer fassungslos darüber, dass so viele Berliner im Volksentscheid gegen eine Selbstverpflichtung ihrer Stadt gestimmt hatten, bis 2030 klimaneutral zu werden. Wie kann man da nur dagegen sein? Die Geschichte wiederholt sich. Statt „Zero Covid“ steht nun „Zero CO₂“ auf dem Programm, und wieder wird eine Krise zum Aufhänger für Fantasien über eine Perfektionierung von Mensch und Gesellschaft im Hauruck-Verfahren, diesmal in einer bisher nie dagewesenen Größenordnung.
Der vielleicht zentralste Unterschied zwischen der begrenzten und der unbegrenzten Vision ist laut Sowell, dass Erstere mit Kompromissen operiert und Letztere mit Lösungen. Es ist das Ignorieren von Kosten, Risiken und Unwägbarkeiten, die jede Entscheidung mit sich bringt, kurz: von Komplexität, was „Lösungen“ überhaupt möglich erscheinen lässt und mit einem Wort von Paul Watzlawick allzu oft zur „Patendlösung“ macht.
Das ist kein Tippfehler, sondern „eine Lösung, die so patent ist, dass sie nicht nur das Problem, sondern auch alles damit zusammenhängende aus der Welt schafft – etwa im Sinne des alten Medizinerwitzes: Operation gelungen, Patient tot“.
5 Kommentare. Leave new
Sehr schön beschrieben!
Danke
Schöner und kluger Beitrag.
Wieder ein exzellent durchdachter, höchst lesenwerter und pointierter Atikel von Sebastian Wessels. Er veranschaulicht auch die begrenzte Tauglichkeit politischer Rechts-Links-Topographie fürs Betrachten und Bewerten menschlichen Denkens und Handelns. Danke an den Autor.
Ein schön geschriebener und durchdachter Spitzen-Artikel, der Hilft, das Verhalten vieler Mitmenschen zu verstehen, die eindeutig zuviel von der unbeschränkten Vision geraucht haben. Wessels most underrated!
Wieder Top-Artikel, Wessels beste Mann. Leider bleibt wieder kein Ende des grassierenden Endlösungs-Furors abzusehen. Die „Unbeschränkten“ werden für einen Lernfortschritt wohl ihren nächsten „großen Sprung nach vorn“ wieder in die Tat umsetzen und die Landung mit dem Kopf auf dem Beton selbst erleben müssen. Immerhin wäre für eine Weile Ruhe mit Sozialismus, sollte sich hinterher aus den Trümmern noch was machen lassen. Bis irgendwann den nächsten überdrüssigen Wohlstandskindern Marx in die Hände fällt.