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Unsere Chronik zu großen „Widerständlern“ hat schon in der Vergangenheit den einen oder anderen Grenzfall aufgegriffen und drüber reflektiert, wie schnell aus guten Absichten und gerechtfertigtem Widerstand auch gewaltige Probleme für eine ganze Gesellschaft entstehen können. Baron von Ungern-Sternberg ist fraglos ein solcher Fall: Ein verirrter Idealist, ein genialer Heerführer und gleichzeitig auch einer von zahllosen Kriegsverbrechern inmitten der äußersten Verrohung des russischen Bürgerkriegs, hat sich sein Name unauslöschlich in das Pantheon jener Persönlichkeiten eingeschrieben, die sich dem Lauf der Geschichte entgegenstemmten und tragisch scheiterten – und zwar ebenso an den Umständen wie an sich selbst.
Baltischer Adliger, mongolischer Kriegsherr, buddhistischer Mystiker, imperialer Fanatiker – Baron von Ungern-Sternberg war all dies und mehr noch: ein Mann, der in den Trümmern der untergehenden Weltordnung des russischen Zarenreichs nicht nur wie so viele andere um bloße Macht kämpfte, sondern auch glaubte, das metaphysische Prinzip der Ordnung gegen das Chaos, der Hierarchie gegen die Auflösung, der Ewigkeit gegen die Zeit, der Tradition gegen die Moderne verteidigen zu müssen.
Ein erstes Leben für den Zaren
Geboren 1886 in Graz als drittes Kind einer baltisch-deutschen Adelsfamilie im russischen Staatsdienst, war Ungerns Lebensweg von Anfang an ein Paradox aus aristokratisch-viktorianischer Hochkultur und mystisch-fanatischen Gewaltphantasien. Früh dem zaristischen Kadettenkorps zugeführt, entwickelte er eine tiefe Verachtung gegenüber dem modernen Liberalismus, der Demokratie und dem westlichen Rationalismus. Für ihn wie für viele andere russische Adlige war das 20. Jahrhundert ein Irrtum – eine Zeit, in der das heilige Rad der Geschichte entgleist war; und Ungern sah sich zunehmend dazu berufen, es wieder auf die ursprüngliche metaphysische Bahn zurückzuzwingen.
Schon als junger Offizier galt er als kompromißlos, furchtlos, unzugänglich. Seine Augen – kalt, blau, durchdringend – sollen, wie viele Zeitgenossen berichteten, jenen Blick getragen haben, den man bei Mystikern, Todgeweihten und Fanatikern findet, bei jenen, die sich als Werkzeuge einer höheren Ordnung begreifen. Sein Weg führte Ungern zunächst durch den Russisch-Japanischen Krieg und schließlich nach mehreren Versetzungen und Aufenthalten in Sibirien in den Ersten Weltkrieg, in dem er sich nicht nur als fähiger Taktiker, sondern aufgrund einer seltsamen Mischung aus Insubordination und absoluter Selbstopferung als eine Art Berserker erwies, der keine Angst kannte, weil er sich selbst längst aufgegeben hatte. Nach mehrfacher Verwundung in Polen und Galizien wurde er 1917 schließlich nach Zentralasien versetzt, wo er Soldaten unter der nichtrussischen Bevölkerung rekrutieren und auf den Krieg vorbereiten sollte.
Der Zusammenbruch des Zarenreichs in der Oktoberrevolution traf ihn dort wie ein metaphysischer Schlag: Für Ungern-Sternberg war dieses Ereignis nicht bloß ein politischer Umbruch, sondern der apokalyptische Fall einer heiligen Ordnung. Die kommunistische Revolution war für ihn weder ein Aufstand der Massen gegen soziale Ungerechtigkeit, noch der überraschende Sieg eines kleinen Häufleins hochbegabter Berufsrevolutionäre, sondern geradezu der Sieg des Teufels auf Erden; ein eschatologisches Ereignis sondergleichen.
Der Weg nach Zentralasien
Schon während des Ersten Weltkriegs hatte Ungern aktiv mit zentralasiatischen Einheiten des gigantischen Zarenreichs zusammengearbeitet, die ihn aufgrund seiner schon frühen Beschäftigung mit der mongolischen Kultur und Sprache überaus interessierten: Gerade das späte Zarenreich war im Zeitalter der großen Expeditionen durch Tibet und die Mongolei, der verstörenden Popularität der Theosophie und der Wiederentdeckung des historischen Buddhismus ein echtes Zentrum geworden für einen hochkreativen Synkretismus zwischen russischer Orthodoxie, Okkultismus, östlicher Weisheit und esoterischer Spekulation. Und je mehr sich Ungern-Sternberg zusammen mit seinen Soldaten in die Philosophie des zentralasiatischen Buddhismus tibetisch-mongolischer Prägung vertiefte, desto mehr erschien ihm die Moderne als echtes Kali Yuga, als endzeitliche Epoche des Niedergangs, und die Mongolei als Träger eschatologischer Hoffnung.
Es war diese Überzeugung, die ihn nicht nur zum Konterrevolutionär, sondern auch zum konservativen Revolutionär par excellence machte. Während andere sich in Emigration oder Defensive flüchteten, ging Ungern-Sternberg in die Offensive. Nach einer ersten Zeit der Zusammenarbeit mit dem Führer der kurzlebigen Transbaikalischen Republik emanzipierte Ungern sich zunehmend und prägte seiner Einheit, der „Asiatischen Kavalleriedivision“, einem Sammelsurium aus Kosaken, Mongolen, Burjaten, Russen, Kriegsflüchtlingen, Banditen und Mystikern, seinen eigenen Stempel auf.
Diese Truppe war mehr Kultgemeinschaft als Armeeeinheit: Die Rituale, die Disziplin, die unbedingte Loyalität zu einem Mann, der sich selbst als Werkzeug der Götter sah, schufen eine Atmosphäre der Unentrinnbarkeit. Wer einmal Teil dieser Kavallerie geworden war, lebte außerhalb der Welt – in einer Sphäre des Sakralen, in der das Töten und das Sterben eine liturgische Handlung war und die Unterschiede zwischen den großen Religionen zugunsten der einen ewigen Tradition verschwanden.
Das von Ungern in Briefen, Gesprächen und Tagesbefehlen immer wieder verkündete Ziel war nicht weniger als die Wiedererrichtung eines theokratischen Imperiums, gegründet auf monarchischer Autorität, religiöser Hierarchie und metaphysischer Reinheit; ein Imperium, das nicht nur die russische Ordnung wiederherstellen, sondern die monarchische Tradition in ganz Asien restituieren sollte, so daß sich sein politischer Horizont zunehmend von der Bezugnahme auf die zaristische Tradition zur Wiederbelebung der Legenden um den Weltenherrscher Dschingis Khan verlagerte, in dessen Reich Dämonenkult, Buddhismus, Orthodoxie, Islam und Konfuzianismus einander eher zu ergänzen als zu widersprechen schienen.
Nachdem Ungern-Sternberg zunehmend aus dem sibirischen Kernraum nach Süden jenseits der ohnehin nur unscharf bestimmten russischen Grenzen vertrieben worden war, kam es zu seinem größten Triumph: die Eroberung Urgas, der alten Hauptstadt der Mongolei, im Februar 1921. Mit brutaler Härte vertrieb er die dort stationierten chinesischen Truppen, wehrte sich gegen sowjetische Einheiten, schlug Aufstände nieder, stellte die Unabhängigkeit der Mongolei wieder her und setzte den achten Jebtsundamba Khutuktu, den „lebenden Buddha“, erneut als geistliches Oberhaupt ein, während er selbst die Exekutive übernahm und die Wiederherstellung einer mongolisch-eurasischen Weltordnung versprach. So wurde der baltische Aristokrat für einige Monate zum militärischen Diktator der Mongolei – von den einen verehrt als Inkarnation der buddhistischen Kriegsgottheit, von den anderen gefürchtet als Dämon der Vernichtung.
Diktator der Mongolei
Während Ungern-Sternberg ursprünglich noch die Restitution des Zarentums predigte und seinen Kampf im Namen des Großfürst Michaels führte, des Bruders von Zar Nikolaus II., verstand er sich daher auch zunehmend als Reinkarnation der alten asiatischen Eroberer, als direkter Nachfolger von Dschingis Khan.
Ungerns Herrschaft war eine merkwürdige Synthese aus archaischer Spiritualität und entfesselter Gewalt, wie sich vor allem in den Memoiren des polnischen Emigranten Ossendowski nachlesen läßt, der auf seiner Flucht aus dem verfallenden Zarenreich mehrere Wochen mit ihm verbrachte. In seinen Residenzen hingen tibetische Thangka neben Ikonen russisch-orthodoxer Heiligen, seine Gespräche kreisten um Inkarnationen, Karma und endzeitliche Visionen. Gleichzeitig ließ er Verdächtige ohne jeglichen Prozess quälen und hinrichten, Juden als kommunistische Kollaborateure exekutieren, Deserteure oder Befehlsverweigerer grausam foltern und töten, und bei Bedarf ganze Dörfer deportieren. In Ungerns mentalem Universum gab es kein festgelegtes Recht, sondern nur göttliches Urteil – und er sah sich als dessen Sprachrohr.
In seiner kurzen Herrschaft entfaltete sich die ganze Ambivalenz seiner Persönlichkeit: Auf der einen Seite stand eine beinahe asketische Strenge, eine opferbereite Selbstdisziplin und eine tiefe, fast kindliche Religiosität, die von vielen seiner eingeschüchterten Soldaten ehrlich bewundert wurde. Auf der anderen Seite stand allerdings eine entfesselte Grausamkeit, die vor keiner Hinrichtung, keiner Folter, keiner Auslöschung zurückschreckte: Kommunisten, Juden, Liberale, Chinesen – für Ungern waren sie alle Agenten des Chaos, das es mit Feuer und Eisen auszutilgen galt, wobei jene Greueltaten natürlich ehrlicherweise vor dem zeitlichen Hintergrund der nicht minderen Grausamkeit der sowjetischen Revolution gesehen werden muß.
Der Untergang – Ende und Anfang
Doch der Wahnsinn war zu groß, um dauerhaft Struktur zu schaffen, während die mongolische Machtbasis letztlich zu klein war, um gegen die zunehmend gefestigte moderne Sowjetherrschaft ankämpfen zu können. Ungerns Herrschaft war daher ebenso instabil und kurzlebig wie ekstatisch und weltweit in den Medien verfolgt. Als die Bolschewiken mit militärischer Effizienz und ideologischer Kälte ihren Vormarsch auch in die Mongolei unternahmen, versuchte Ungern, dem mongolische Seher einen baldigen Tod prophezeit hatten, mit wenigen Getreuen einen verzweifelten Angriff auf Sibirien zu unternehmen, doch seine Truppen waren zu erschöpft, zersplittert und demoralisiert, um in einem solchen Himmelfahrtsunternehmen mehr als erste Achtungserfolge zu erzielen.
Schon im August 1921 wurde der Baron daher von den eigenen Offizieren verraten, gefangengenommen und an die Rote Armee ausgeliefert. Der hierauf folgende Schauprozeß war kurz. Die Anklage lautete auf monarchistische Verschwörung, Sadismus, religiöser Fanatismus; die Hinrichtung erfolgte ohne jede Zeremonie.
Ungerns Tod war aber nicht das Ende seiner Legende, eher der Anfang. Noch heute kursieren in mongolischen Klöstern Legenden, daß Ungern nicht wirklich tot sei, sondern sich in einem anderen Zeitalter wieder als Kriegsgott und Weltenretter manifestieren werde. In esoterischen Kreisen gilt er bis heute als Faszinosum, aber auch als Mahnmal für die dunkle Seite des metaphysischen Denkens – jene Linie, wo Erkenntnis in Wahnsinn, Glaube in Gewalt, Transzendenz in Blutvergießen umschlägt.
Das Erbe: Mythos und Abscheu
Was bleibt? Roman von Ungern-Sternberg ist eine der faszinierendsten und verstörendsten Figuren des 20. Jahrhunderts. Auf der einen Seite kann man nur Bewunderung empfinden für die Intensität, mit der er sein eigenes Leben in den Dienst dessen stellte, was er als gute Sache empfand und mit dem Widerstand gegen die Moderne und der Restitution einer heiligen Weltordnung gleichsetzte. Auf der anderen Seite stellt sich dringend die Frage, bis zu welchem Grade selbst ein scheinbar heiliges Ziel es rechtfertigt, Gleiches mit Gleichem zu vergelten und die blutigen Methoden der eigenen Feinde zu übernehmen, ja noch zu übertreffen.
Sicher, Kriegführung, Rechtsprechung und Disziplin mußten in den 1920er Jahren in Zentralasien anderen Standards folgen als im „zivilisierten“ Westen, und die Erfahrung der Greueltaten der „Roten“ erklärt nur zu gut die Vergeltungsmaßnahmen der „Weißen“. Wenn aus dem gezielten Einsetzen von Gewalt aber eine Art Apologie des Terrors und der Grausamkeit selbst wird, und wenn als Essenz der Transzendenz in erster Linie nicht mehr die allumfassende Liebe gesetzt wird, sondern der ewige Kampf, muß sich die Frage stellen, inwieweit die Sehnsucht nach dem höchsten Sein nicht unfreiwillig der ewigen Versuchung des Nichts erlegen ist.
Auch dies mag zweifellos ein Teil des Weltplans sein, und Ungern-Sternberg aus metaphysischer Perspektive sogar recht gehabt haben, sich als Vollstrecker eines göttlichen Willens zu empfinden, denn nichts, was auf dieser Welt geschieht, vollzieht sich ohne das Einverständnis Gottes. Doch wenn alles Irdische aus jenseitiger Perspektive auch bereits „geschrieben“ wurde, bevor es geschah, trägt der Einzelne doch gleichzeitig auch die absolute Verantwortung für jene Rolle, die er letztlich immer freiwillig übernimmt: Aus Gottes Allmacht ultimativ die Unschuld an der eigenen Tat abzuleiten, ja aus der Macht des Faktischen die eigene Rolle als Werkzeug Gottes zu destillieren, kann nur in den Untergang führen – für die einen hier, für die anderen im Jenseits.
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3 Kommentare. Leave new
Verhält es sich mit den Heldenfiguren in den homerischen Epen, der Ilias und der Odyssee, in dieser Hinsicht ähnlich? Auch die künftigen Cäsaren werden Züge dieses Charakters in sich tragen.
Danke für den Artikel. Der Lebensbeginn als zaristischer Kadett erinnerte mich an den 20 Jahre früher geborenen Mannerheim. Auch der hatte eine Karriere-Phase in Fernost.
Ich verweise in diesem Zussmmenhang auf das Buch „Der blutige weiße Baron“ von James Palmer, erschienen in der „Anderen Bibliothek“, welches nur noch antiquarisch zu bekommen ist.