Vorausgeschickt sei, dass ich mich selbst oft so fühle: Manche Gewohnheiten, helfen meinem Lebensglück auf: Sie betreffen Essen, Trinken und Tabakrauch, Rituale gesellschaftlichen Umgangs, die Auswahl von Gesprächspartnern, Themen in Bildung und Medien, ein wenig Sport und – nicht zuletzt – dass ich leidenschaftlich gern zu Fuß gehe, etwa um mich mit Freunden im Biergarten zu treffen. Wahrscheinlich sehen es viele von Ihnen ähnlich, sonst wären Sie nicht beim „Sandwirt“ zu Gast – schön, dass Sie mir etwas von Ihrer Zeit schenken.
Ihnen muss ich nicht sagen, dass es auch schlechte Gewohnheiten gibt, von denen es heißt, sie verdürben gute Sitten. Aber an dieser Stelle wird’s schon schwierig, denn Sitten und Gebräuche unterscheiden sich je nach Herkunft, sozialen, kulturellen, individuellen Gegebenheiten. Sie hängen von Herrschaftsverhältnissen ab.
Der Reiz des Dabeiseins
In vielen deutschen Haushalten wird immer noch – und das begann bei mir im Babykörbchen – morgens das Radio eingeschaltet. Gewohnheitsmäßig. Bei Jüngeren mag es inzwischen das Smartphone sein, sie bevorzugen selbst gewählte Programme gegenüber dem Empfang staatlicher, mit Zwangsbeiträgen oder Werbung oder beidem finanzierter Sendungen. So oder so: Das Kollektiv der von Musik, Neuigkeiten, Witzen und Wetterberichten in den Alltag hinein mehr oder weniger Beschwingten zählt nach Millionen.
Es mag einmal Väter gegeben haben, die das mindestens während gemeinsamer Mahlzeiten unterbanden. Vielleicht auch Mütter. Sie mussten schon kurz nach Erfindung des Rundfunks – spätestens nach der des Fernsehens – einsehen, dass sie es mit starker Konkurrenz um die Aufmerksamkeit zu tun hatten. Längst begriffen hatten das diejenigen, die es nach politischer Macht verlangte.
Die Wendung „Es verlangte sie …“ gebrauche ich hier bewusst, denn der aufs Erlangen oder Vermeiden gerichtete Dominanzimpuls ist so alt, so unentbehrlich und unabschaffbar wie das Leben selbst. Und ebenso wie dieser Impuls physisches Da-Sein durch unbewusste Aktionen wie Atmen, Aufrichten, Wahrnehmen antreibt, wirkt er auch bei informellen Entscheidungen im Hintergrund: Was zu erlangen oder zu vermeiden ist, wird antizipiert, läuft „automatisch“: Erst wenn das Radio nicht tut, was es soll, setzt Nachdenken ein.
Wer das Radio einschaltet, erwartet, unterhalten und informiert zu werden – und solange das funktioniert, hat er zugleich an einem über den häuslichen Rahmen weit hinausgehenden kollektiven Erleben teil, wird es bald gewohnt sein, sich zu seiner Orientierung des Rundfunks zu bedienen.
Macher, Konsumenten, Profiteure
Umgekehrt bedienten sich die Rundfunkleute von Beginn an ihrer Zuhörer, um die eigene Reichweite auszudehnen – etwa durch Wunschkonzerte und Hörerpost. Für Wirtschaft und Politik bietet sich ein Instrument an, massenhaft und bis tief ins Privatleben hinein ihre Botschaften zu verbreiten. Zu wichtigsten Fragen wurden „Was kommt am besten an?“ und „Wie können wir das Publikum an uns binden?“ Die Frage nach Gewöhnung ist für die Medien mindestens ebenso relevant wie die nach Innovationen.
Das interessiert natürlich auch Politiker – ihre unstillbare Gier nach Medienpräsenz wird sprichwörtlich. Man mag ihre Auftritte karikieren und mit Emojis für äußerste Ablehnung bedenken: Sie sind gewohnt, dass mit der Macht auch Zahl und Unterwürfigkeit der Subalternen und Speichellecker wachsen. Sie zu verlieren ist tiefste Angst – sich ihr zu entwöhnen schmerzhafter Entzug. Der ehemalige Intendant des SWR, Peter Voß, kritisiert heute aus dem Ruhestand den Qualitätsverlust des Senders – als hätte er ihn selbst nicht mit herbeigeführt: Phantomschmerz.
Placebos
Babies müssen irgendwann der Muttermilch entwöhnt werden. Keine Ahnung, ob man sie in der Steinzeit einfach schreien ließ – das unvergängliche nonverbale Signal, saugen zu wollen – oder sie sich damals schon daran gewöhnten, am Daumen zu nuckeln, was weder für den Daumen noch fürs Gebiss auf Dauer gut ist. Spätestens seit 900 Jahren fanden sich Vorläufer des Schnullers – also Placebos der weiblichen Brust „mit Geschmack“: Milch, Honig, Butter.
Wilhelm Busch hat ein Original aus dem 19. Jahrhundert ebenso amüsant verewigt wie seine Wirkung als Beruhigungsmittel. Für Ärzte wurde er zum Zankapfel und Forschungsobjekt: Schnuller sind heute vielfältig wie nie zuvor, ein gutes Geschäft. Der Familie erwächst eine neue Aufgabe fürs Entwöhnen. Meine Mutter schaffte es erst zu meinem fünften Geburtstag; mit 16 kam der Rückfall: der Griff zur Tabakspfeife.
Kinder haben Vorlieben, sie gewöhnen sich gern an Lieblingsspeisen, verweigern standhaft, was als gesund gepriesen, aber unschmackhaft ist. Wer nicht sehr geschickt mit breitem Angebot ihre Neugier weckt – womöglich gar die aufs Kochen – muss auf fremde Hilfe hoffen. Und irgendwann muss auch der Schulunterricht schmecken …
Rituale – Sinn und Unsinn
Mit dem Auftritt des Lehrers – oft von einem Mitschüler vorab signalisiert, um nicht bei Unerlaubtem erwischt zu werden – begann zu meiner Schulzeit der Unterricht, man nannte das damals auch „Ernst des Lebens“. Betrat er den Raum, hatten sich alle zu erheben. Ich erinnere mich eines Erdkundelehrers, der seine Blicke umherschweifen und in militärischem Stakkato verlauten ließ:
„Wir stehen gerade!“
Als Vorbild gestrafft durfte der wöchentlich benannte „Aufsichts-Schüler“ melden:
„Herr Obermichel, Klasse AB ist mit XY Schülern zum Unterricht bereit“. Es folgte die Grußformel und ein kurzes „Setzen!“
Keinem Pädagogen erlaubte man hierzulande noch ein solches Ritual. Aber es illustriert sehr schön, wie Rituale soziale Rollen definieren: Hier die erzieherische Autorität des Staates, dort die zu Fleiß und Aufmerksamkeit verpflichteten Empfänger von „geistiger Nahrung“. Ob und wie gut das funktionierte, hing am Ende von der Qualität des Unterrichts ab; ich hatte Glück und sehr gute Lehrer. Das Ritual erleichterte es Obermichel immerhin, Aufmerksamkeit zu erlangen. Die Klasse war mehrheitlich folgsam, Strafarbeiten drohten – das seitenweise Abschreiben von Lehrbuchseiten etwa, was einem den freien Nachmittag verdarb. Es gab trotzdem Schüler, die Obermichel mochten. „Der setzt sich wenigstens durch“, hieß es. Sie hatten sich an ihn gewöhnt. Vermissen Sie auch militärisch straffe Rituale im Schulbetrieb? In China gibt es sie noch; die Frage, ob exzellente Bildung nur so zu erzielen ist, bleibt offen.
Ansprüche und Berechtigte
In Deutschland habe ich Strafarbeit zuletzt Mitte der 90er Jahre an einer Gesamtschule im Ruhrgebiet erlebt. Nicht in der Freizeit, sondern im Unterricht. Lehrer und Schüler tauchten irgendwie auf, eine Begrüßung gab es nicht, es gab auch keinen Unterschied zum Getümmel auf dem Pausenhof. Unterm Gejohle 14jähriger Jungmänner zogen die Mädchen Pullover über den Kopf und genossen das Aufsehen. Es dauerte geraume Weile, bis der Lehrer aufs Ziel seines Unterrichts zu sprechen kommen konnte: Aggregatzustände des Wassers und Warnung vorm Siedeverzug beim Erhitzen desselben in einem Reagenzglas.
Es kam nicht zum Versuch, denn die Jungmänner produzierten begeistert Stichflammen mit den Bunsenbrennern, Wasser spritzte durch die Gegend, der Lehrer gab auf und verordnete der Klasse das Abschreiben von Lehrbuchseiten. Sie war das offensichtlich gewöhnt. Was die Chemie anlangt, wurde wenig gelernt, aber „die Schule des Lebens“ findet eh auf dem Pausenhof sowie vor und nach dem Unterricht statt.
Ein extremes Beispiel? Mag sein, aber es illustriert den Wandel der Rollen: Im Klassenzimmer sitzen Anspruchsberechtigte. Schüler fördern durch fordern? Lehrer sollen liefern, aber nicht, indem sie mehr selbständige Leistung und individuelle Verantwortlichkeit abverlangen. Stattdessen sollen Schulnoten gänzlich abgeschafft, der Leistungsgedanke aus den Schulen verbannt werden – darauf drängt vor allem die politische Linke. Anspruch auf Freizeit geht vor, Ferien und Wochenenden sind heiß ersehnt, damit das Leben „ausbalanciert“ ist: Angestelltenwünsche.
Neue Menschen braucht das Land?
Zur alles dominierenden Gewohnheit wird am leichtesten die, regelmäßig Geld zu empfangen – möglichst leistungslos, einfach vermittels „Anspruchsberechtigung“: Zu welcher Gruppe einer gehört, entscheidet. Je nach ihren sexuellen, ethnischen, religiösen, Gewohnheiten ist der Umgang zwischen ihnen immer neu auszuhandeln, auch das Geschlecht.
Das sind Lektionen des Lebens an Schulen und Hochschulen für Schüler und „Studierende“, ganz dem eigenem Wohlgefühl und der Dankbarkeit gegenüber Parteien, Staat und anderen Korporationen verpflichtet. Institutionen bescheren Abschlüsse mit Wert und Wirkung von Placebos, zugleich sollen alle einer über Jahrhunderte gewachsenen Sprache entwöhnt werden, die nicht nur Glanzlichter der Literatur, sondern auch der Wissenschaft hervorbrachte. Der totalitäre Traum von der politischen Erziehung des „Neuen Menschen“ ist längst nicht ausgeträumt: Die Welt als „Better Place“ – das weckte und weckt Stürme der Begeisterung. Der sie auslöste, verlor die Bindung ans eigene reale Da-Sein. Er beherrschte ein Millionenpublikum, aber nicht die eigenen Gewohnheiten.
Lust auf Quote
Mit dem Publikum von Radio und Fernsehen ist es ähnlich: der Auftrag des Grundgesetzes betrifft zwar keineswegs seine Erziehung, hingegen einen bedeutsamen, politisch ausgewogenen Beitrag zur Bildung. Leider sind Medienleute wie Lehrer nur ausnahmsweise begabt und ehrgeizig genug, ihre Klientel mit Qualität zu überzeugen. Deshalb wurde die Quote erfunden, die Lese-, Seh- und Hörgewohnheiten messen und mit in Form und Inhalt besonders gefragten Angeboten reagieren soll.
Eine Folge war die „Boulevardisierung“des Journalismus seit den 80er Jahren; sie entspricht in etwa der Methode, möglichst nur Lieblingsspeisen auf den Teller zu bringen, was in nicht wenigen Fällen zu Fettleibigkeit und Einfallslosigkeit sowohl der Köche wie der Konsumenten geführt hat. Für viele kein Grund, nicht alte Gewohnheiten beizubehalten. Den Politikern ist’s recht, solange auf den Wahlzetteln gewohnheitsmäßig angekreuzt wird.
Der Versuch der öffentlich-rechtlichen Anstalten, mit privaten Anbietern, gar dem Internet zu konkurrieren, ohne die Qualität etwa der Bildungsprogramme wegen schlechter Quoten zu opfern, musste ebenso scheitern wie das Bildungssystem insgesamt: Sie wurden nicht nur kaputtgespart, sondern obendrein politisch kaputtreguliert. Und der beklagenswerte Zustand beider – im Alltag wie in internationalen Vergleichen erkennbar – hängt durchaus miteinander zusammen. Das ist eine der bitteren Einsichten aus den Corona-Jahren.
KI – Denken nach Plan?
Der Blogger „Politplatschquatsch“, bei X (vormals Twitter) auch als „Parlamentspoet“(@ppqblog) anzutreffen, bereicherte die deutsche Sprache vor einigen Jahren, indem er das „Bundesblogampelamt“ und die „Bundesworthülsenfabrik“ erfand. Beides fiktive Behörden, satirisch gemeint, aber unvermeidlich längst von der Realität übertroffen, was den Einsatz von Phrasendreschmaschinen im Partei- und Regierungsauftrag – also auch bei den folgsamen Medien und Hilfstruppen sogenannter „NGO“ betrifft.
Was Bertolt Brecht einmal als „Kaderwelsch“ geißelte – „Dem, der es spricht, vergeht das Hören, dem der es hört, vergeht das Essen“ – daran haben sich all diejenigen gewöhnt, die anderen Menschen vor allem eines ab-gewöhnen wollen: Das selbständige Denken.
Ob sie dafür die künstliche Intelligenz werden in Dienst nehmen können oder dadurch sich selbst – also ihre bürokratischen Versorgungsposten – überflüssig machen, ist eine interessante Frage.