Gestatten Sie mir meinen ersten Beitrag zum Sandwirt mit einer kleinen Anekdote zu beginnen, die vor allem den Ehemännern unter den Lesern womöglich bekannt vorkommen mag: Seit mein Alltag durch das nie endende Wechselspiel zwischen Arbeit, zwei kleinen Kindern, Hund und Haus geprägt wird, ist jeder kurze Moment den man, zur Not auch nur in Gedanken, für sich hat, Gold wert. Um im Strudel der Verpflichtungen nicht gänzlich unterzugehen, schaffe ich mir geistige Refugien, Rückzugsräume in denen ich versuche den Gedanken freien Lauf zu lassen, ohne dabei an deren unmittelbaren Nutzen zu denken.
Eine gute Gelegenheit für solche Rückzugsräume bieten mir mechanische und repetitive Tätigkeiten. Geschirrspülen ist, zum Beispiel, solch eine Tätigkeit, ebenso wie das Frühstück zu machen. Der kognitive Aufwand zur Koordinierung der dazu benötigten simplen Handbewegungen ist sehr überschaubar, was bedeutet, dass ich solche Aufgaben meist schnell automatisiere und mir dadurch geistigen Freiraum verschaffe, um in Gedanken an andere Orte zu reisen.
Das geht meist auch solange gut, bis meine Frau mich darum bittet, ein Detail der Tätigkeit aus einem ihr ersichtlichen Grund anders auszuführen. Wenngleich sich mir der Nutzen dieser Änderung nicht immer erschließt, so weiß ich doch, dass eine Ehe ein Geben und Nehmen ist, darum probiere ich meistens, wenn es keinen Grund zur prinzipiellen Opposition gibt, dem Wunsch meiner Gattin nachzukommen.
Allerdings führt das dann leider oftmals dazu, dass ich beim nächsten Mal diesen Sonderwunsch schon wieder vergessen habe, worauf ich dann auch mit untrüglicher Zuverlässigkeit hingewiesen werde. Erklärungsversuche meinerseits, dass es sich keineswegs um eine bewusste Missachtung der Wünsche meiner Gattin handelt, sondern lediglich um ein Resultat meiner automatisierten Handlungsabläufe, führen meist nicht zum gewünschten Verständnis. Weitere Details der daraus resultierenden Debatte des Ehepaars sind für die Erörterung des Themas dieses Aufsatzes nicht mehr wirklich relevant, nur ein Gedanke meiner Gattin sollte noch erwähnt werden: Ihre Antwort auf meinen Verweis auf Automatismen ist fast immer eine Variation der Behauptung, dass intelligente Menschen – es handelt sich also um ein verdecktes Kompliment für mich! – doch dazu im Stande sein müssten, Handlungen auch bewusst auszuführen und entsprechend anzupassen. Oder grob vereinfacht ausgedrückt: Wer was in der Birne hat, strebt nicht danach, sie auszuschalten.
Vom Automatismus zum Ritual
Wie ich schon schrieb, führt dieser Austausch häufig zu einer Diskussion, woraus der Leser schließen wird, dass ich meiner Gattin in dieser Frage üblicherweise nicht zustimme. Denn für mich sind Automatismen lebensnotwendig! Und ich denke, nicht nur für mich, für alle Menschen! Ohne Automatismen würden wir wohl wahnsinnig werden. Das fängt schon beim Atmen an. Wir tun es von der Wiege bis zur Bahre, es ist der Grundpfeiler unseres Lebens, und doch denken wir fast nie bewusst daran. Im Gegenteil, wer sich unvermittelt beginnt, auf seinen Atem zu konzentrieren und diesen zu kontrollieren, bemerkt dabei zunächst, wie seine bewusste Steuerung das unbewusst laufende System durcheinander wirbelt. Das will nicht heißen, dass ab und zu ein automatisiertes System bewusst nachjustiert werden sollte, aber im Allgemeinen gilt der Leitspruch des “never change a running system”.
Wenn wir also davon ausgehen, dass der Versuch jede kleinste Handlung des alltäglichen Lebens bewusst auszuführen uns wahnsinnig (oder zumindest im praktischen Sinne lebensunfähig) machen würde, dann bedeutet es im Umkehrschluss, dass die Automatisierung von Handlungen uns befreit, es uns erlaubt den Blick zu heben, eine Übersicht zu verschaffen und die Gedanken schweifen zu lassen. Die Automatisierung trivialer Handlung bedeutet also Freiheit für den Geist, besitzt aber darüber hinaus keine ihr innewohnende Bedeutung an sich. Sie befreit uns lediglich, um anderswo Bedeutung zu suchen oder zu erkennen.
Darin liegt der Unterschied zwischen dem Automatismus und dem Ritual, denn letzteres kreist einzig und allein um Bedeutung, ja es erzeugt sie förmlich. Das Ritual bedient sich automatisierter Handlungen nicht, um den Geist von der ausgeführten Handlung zu befreien, sondern um ihn im Gegenteil auf deren Essenz zu lenken. Diese Essenz aber übersteigt die Summe der ausgeführten Handlungen, sodass sie auch nur dann ersichtlich wird, wenn der Geist mittels Automatismen sich von der materiellen Realität der Handlungen selbst befreien kann, um die Aufmerksamkeit auf den Kern des Rituals zu bündeln.
Rituale werden zurecht meist vor allem im religiösen Raum verortet und es ist kein Zufall, dass der allgemeine Niedergang der Kirchen mit dem Niedergang des religiösen Rituals einher ging. Darin liegt eine enorme Tragik, doch stellt sie nur einen – wenn auch gewichtigen – Teil des Gesamtproblems dar. Denn Rituale existieren nicht nur in Religionen, oder den gegenwärtig so weit verbreiteten Ersatzreligionen, sondern überall dort, wo auch im Alltag Automatismen zu ritualisierten Handlungen herangewachsen sind.
Alltagsrituale sind kulturelle Codices, die den Anderen innerhalb einer Gemeinschaft nicht nur die eigene Zugehörigkeit zu selbiger Gemeinschaft, sondern auch das gemeinsame Bekenntnis zum vorherrschenden Gesellschaftsvertrag vermitteln. Wer Grußformeln, Freundlichkeitsfloskeln, Benimmregeln und dergleichen im öffentlichen Raum beherrscht, befreit seinen Geist durch den Automatismus von der Sklaverei der mechanischen Handlung und richtet ihn im Ritual auf die Essenz zwischenmenschlicher Begegnung auf Basis eines reichen gemeinsamen kulturellen Fundaments.
Leider ist es jedoch alles andere als ein Geheimnis, dass viele Rituale im Aussterben begriffen sind. Das reicht von den bereits erwähnten kirchlichen Ritualen, über Brauchtümer, bis hin zu Dialektformeln, die früher die Basis einer regionalen Kultur gebildet haben, mittlerweile aber oft nur mehr karikaturistisch verzerrt und sinnentleert als ironische Makulatur eingesetzt werden.
Von der Dienstbarkeit und ihrer Abwesenheit
Die ersten Jahre meines bewussten Lebens waren meine Eltern beide noch im Dienstleistungssektor tätig. Mein Vater fuhr Taxi, meine Mutter war Kellnerin. Im Wien der 80er Jahre bedeutete dies, dass man trotz niedrigem Grundlohn mit Trinkgeld gutes Geld verdienen konnte. Wenngleich es auch damals schon Grundregeln gab, wieviel Prozent Trinkgeld angemessen wären, so lebte die Trinkgeldkultur damals noch davon, dass sie weniger eine lästige Verpflichtung für den Gast, sondern Teil der ungeschriebenen Gesetze der lokalen Kultur war. Trinkgeld zu geben war nicht nur eine Form Wertschätzung zum Ausdruck zu bringen, es war ein Ritual mit dem man sich als Wiener zu erkennen gab, das gemeinsame Bekenntnis von Dienstleister und Kunde zu einer geteilten Kultur gegenseitigen Respekts.
Wie häufig hörte ich Geschichten von meinem Vater, dass er spät nachts einen Arbeiter nach Hause brachte, der nach angeregter Unterhaltung (eine bei modernen Taxifahrern oftmals vollkommen ausgestorbene Kunst) meinem Vater in Ermangelung eines kleineren Billets, einen großen Schein mit den Worten “Passt scho, Taxler” in die Hand drückte und ihm damit nicht nur Dank für die angenehme Fahrt aussprach, sondern ihm den wohlverdienten Feierabend ermöglichte. Einen Wiener erkannte man damals nicht in erster Linie am Dialekt, sondern an seinem instinktiven Verständnis dieser ritualisierten Kultur der Dienstbarkeit. Was dem Araber sein Feilschen am Bazar, das war dem Wiener damals die Trinkgeldkultur.
Obschon ich im letzten Jahr meiner Gymnasialzeit bereits in den Startlöchern meiner angestrebten Musikerlaufbahn stand, ergriff ich mit 18 dennoch die Gelegenheit um selbst diese Kultur der Dienstbarkeit ein wenig kennenzulernen, wenngleich sich in den späten 90ern bereits erste Risse in dieser Kultur bemerkbar machten. Ich lernte zu kellnern, wodurch ich bis heute auf Partys mit meiner Fähigkeit, fünf Teller gleichzeitig zu tragen, Eindruck schinden kann. Schade nur, dass ich nie auf Partys gehe. Denn auch kellnern will, im Gegensatz zu dem, was viele Studenten sich heutzutage vorstellen, gelernt sein. Man erlernt dabei einerseits die Dienstbarkeit am Kunden, andererseits aber auch die Fähigkeit, schnell und effizient zu arbeiten, auch unter Druck. Der Stolz, den z.B. ein guter Butler in der Verrichtung seiner Tätigkeit empfinden muss, wurde mir durch die Freude an gutem Kundendienst erfahrbar.
Ich arbeitete zwar nur für knapp ein Jahr neben der Schule als Kellner, doch prägten sich mir damals bestimmte Standards deutlich ein. Als Mitarbeiter bei einem Cateringservice arbeitete ich wechselweise im normalen Restaurantbetrieb, bis hin zu Diensten in Nobelhotels, z.B. am Abend des Opernballs und bei Kongressen in der Wiener Hofburg, sodass ich das gesamte Spektrum von effizienter und freundlicher Bedienung, bis hin zu penibelster Einhaltung komplexer Etiquette kennen lernte.
Diese Erfahrung vermieste mir seitdem aber viele Besuche der Gastronomie. Meist nutze ich Restaurants nur auf Reisen, doch wo ich auch hinkomme, ist die Erfahrung für mich meist sehr ernüchternd. Wo früher noch professionelle Kellner mit jahrzehntelanger Erfahrung übers Parkett flogen, tummeln sich nun gelangweilte und ungenügend sozialisierte Studenten, die dem Kunden entweder mit einem Ausdruck vollkommenen Desinteresses bedienen, oder in einer ungebührlichen Überschreitung jeglicher sozialer Normen den Gast an“hey”en und in Grund und Boden duzen. Letzteren muss man dabei zumindest zugutehalten, dass sie sich häufig wenigstens bemühen, auch wenn sie dabei jegliche professionelle Distanz missen lassen.
Besonders enttäuschend und gleichzeitig erhellend waren dabei einige meiner Reisen nach Russland im letzten Jahrzehnt. Beim Besuch der Schwiegereltern in St. Petersburg besuchten wir auch eine Vorstellung im berühmten Mariinski-Theater. Dort gönnten wir uns an der schicken Bar ein Gläschen Sekt. Ich traute kaum meinen Augen, als ein vollkommen haltungsloser junger Kellner (der Student strahlte dabei aus jeder seiner Poren) sich neben unseren Tisch stellte und darauf wartete, dass ich meinen Sekt austrank, um mir das Glas danach unvermittelt und wortlos aus der Hand zu reißen und zu verschwinden. Er sprach währenddessen zwar kein Wort, doch sein gesamter Habitus vermittelte: “Jetzt trink schon aus, damit ich abräumen kann.”
Ich war empört! An solch einem Ort, an dem jede Tapete, jedes Geländer, jeder Stuhl Kultur, Geschichte, Haltung und Etiquette vermitteln, tolerierte man offensichtlich studentische Aushilfskellner, die man im Wien der 80er in der billigsten Kaschemme mit Schimpf und Schande davongejagt hätte. Mein Entsetzen war dabei nicht nur ein Entsetzen über den Mangel an Form, sondern vor allem darüber, was dieser Mangel bedeutete. Denn bei aller Liebe zur Hochkultur die man im Mariinski-Theater erleben kann, war es doch höchst besorgniserregend, dass es dieser Hochkultur offensichtlich an einer gesunden Basis mangelte, an einer Alltagskultur des gepflegten, freundlichen und dienstbaren Umgangs miteinander.
Natürlich konnte ich meine Entrüstung nicht verstecken und war darüber hinaus auch noch überrascht, dass keiner meiner Begleiter sich sonderlich daran zu stören schien. Die Familie meiner Frau ist Teil der Intelligenz, gebildete Leute mit hohen kulturellen Ansprüchen, doch dieses Fehlverhalten schienen sie nicht einmal bemerkt zu haben! Meine Frau, mit der ich meinen Ärger teilte, versuchte sich später an einer Erklärung dieses Verhaltens. Sie meinte, es handle sich dabei wohl um ein tief verwurzeltes Erbe der Sowjetunion, in der – allen propagandistischen Lügen über das Proletariat zum Trotz – ganz offensichtlich die dienstbaren Berufe als die niedrigsten angesehen wurden, weshalb auch niemand diese mit Stolz oder Freude ausführte. Die klassenlose Gesellschaft entpuppte sich dabei als das genaue Gegenteil ihres vermeintlichen Anspruchs.
Dabei blieb auch ungeklärt, ob diese Mentalität nicht womöglich noch weiter, bis ins vorrevolutionäre Russland, zurückreichen könnte. Allerdings fragte ich mich, wie die Menschen in Russland, eines Landes, das sich zur Zeit meines Besuchs bereits stark auf seine orthodox-christliche Identität berief, das Konzept des “Ersten unter den Dienern” derart geringschätzen konnten.
Es wäre aber fatal, diesen Mangel nur in Russland zu vermuten. In kaum einer modernen Großstadt Europas gibt es noch Restaurants und Kaffeehäuser, die das Kulturgut der Dienstbarkeit pflegen. Es gibt aber Ausnahmen.
Von der Schönheit gemeinschaftlicher Alltagsrituale
Im Januar 2019 stattete ich Salzburg beruflich einen Kurzbesuch ab. Es schneite damals recht heftig und die Salzburger Altstadt versprühte in Weiß getaucht jenen Postkarten-Charme, mit dem sie selbst einem Wiener das Eingeständnis abringt, dass die Provinz durchaus auch ihre schönen Seiten hat. Ich stapfte glücklich, aber ziellos durch den Schnee, bis ich den Alten Markt erreichte und es mir nach einem Kaffee gelüstete. Ich sah ein verlockend anmutendes Kaffeehaus, das zwar zugegebenermaßen ein wenig touristisch wirkte, aber das darf man in der Salzburger Innenstadt wohl niemandem zum Vorwurf machen. Erst jetzt, beim Schreiben dieser Zeilen, lernte ich, dass es sich um das Café Tomaselli handelte, das den Rekord als ältestes Kaffeehaus Österreichs (seit 1700!) innehat.
Ich betrat den getäfelten Raum, in dem reges Treiben herrschte. An den Wänden hingen Gemälde diverser Größen der k.u.k. Vergangenheit, der Parkettboden knarzte vertraut, das gesamte Interieur schien zumindest seit Mitte des 20. Jahrhunderts unverändert geblieben zu sein. Dergestalt ist jedoch die überwältigende Kraft kultureller Zerstörung in unserer Zeit, dass ich diesem Anblick zunächst nicht zu trauen vermochte. Es regte sich in mir eine zynische Skepsis, die zweifelte, ob es nicht “zu viel des Guten” sei, ob es sich nicht um ein übertriebenes Schauspiel, einen aufgesetzten Versuch, etwas Altes wieder auferstehen zu lassen, handelte. War das Interieur überhaupt echt? Oder war es nur billiger China-Ramsch der Modellreihe “Happy Golden Imperial” aus dem Großhändler-Katalog?
Retrospektiv beschämt mich diese Skepsis, denn alles erwies sich als echt. Es liegt wohl an der Dominanz der Moderne, dass man selbst als Liebhaber der Geschichte in solch einer Situation ein wenig braucht, um vom Gefühl des Anachronismus Abstand zu nehmen und sich wieder voll und ganz auf die sich darbietende Welt einzulassen.
Meine Skepsis verschwand aber mit einem Schlag, als ich den Kellner erblickte. Wobei, das war kein Kellner, das war ein “Ober”! Der italienisch anmutende Herr (das Tomaselli ist seit Mitte des 19. Jahrhunderts in Familienbesitz) flog förmlich über das Parkett, elegant schlängelte er sich um die Tische, stellte hier eine Melange auf ihren Platz und nahm dort leeres Geschirr vom Tisch. Während all dem verrenkte er sich den Hals nach eintretenden Stammgästen, denen er einen scherzhaften Willkommensgruß zurief und ihnen vergewisserte, dass er gleich mit “dem Üblichen” bei ihnen wäre.
Ich setzte mich an einen Tisch an der Wand, um eine möglichst gute Aussicht auf den gesamten Raum zu haben. Kaum, dass ich des Obers gewahr wurde, konnte ich meine Augen nicht mehr von ihm abwenden. Es hat etwas merkwürdig Hypnotisches jemandem, der sein Fach wirklich beherrscht, bei der Ausübung seiner Arbeit zuzusehen. So erging es mir bei diesem Ober. Ich fühlte mich dabei fast wie Johann Adam Reincken, der weit über 90-jährig, als Johann Sebastian Bach ihm zwei Stunden lang vorimprovisierte, diesem ob dieser Leistung danach zuraunte: “Ich dachte diese Kunst wäre ausgestorben, ich sehe aber, dass sie in Ihnen weiterlebt.”
Jeder Handgriff des Obers saß, jeder Gruß, jeder kleine Scherz mit den Gästen, erschien mühelos. All dies hatte er wohl schon vor Jahren automatisiert, es war aber eben nicht nur ein Automatismus, der mechanisch und abwesend wirkte, sondern es war ein Ritual, das zumindest in Teilen auch auf der Mitarbeit der Gäste beruhte. Das Kaffeehaus als Ort zwischenmenschlicher Begegnung wurde so zum Leben erweckt. Der Ober war der Hausherr, der Menschen in seinen Raum kulinarischer Genüsse und geistigen Austausches lud. Seine Aura bestimmte, ja dominierte den Raum und steckte jeden, der eintrat, an, um an der gemeinsamen Erfahrung dieses Moments teilzuhaben. All das tat er unaufdringlich, ohne sich besonders zu inszenieren, er war ein Ideal selbstbewusster Dienstbarkeit, die vom Arbeiter bis zum Aristokraten jedermann auf Augenhöhe und respektvoll begegnete.
Kurzum: Vor meinen Augen entfaltete sich ein längst verloren geglaubtes Ritual von Alltagskultur, in dem alle Handlungen, alle Bewegungen und jeder Satz im Dienste einer gemeinschaftlich geschaffenen Kaffeehauskultur standen. Das natürliche Resultat solcher Dienstbarkeit ist die Partizipation aller. Wer nur als Konsument im Eck sitzt und schmallippig seinen Kaffee bestellt, der wird zwar auch freundlich bedient, trägt aber zur Gemeinschaftserfahrung nur wenig bei. Wer sich aber dem natürlichen Fluß des Rituals hingibt, wird sich selbst dabei ertappen, dass auch er bald mit dem Kellner einen Scherz wechselt, oder mit dem Nachbartisch ein kurzes Gespräch anknüpft, anstatt atomisiert auf seinen Laptop oder sein Handy zu starren.
Und wer in solch einem Moment anfängt zu rechnen, wieviel denn zehn Prozent Trinkgeld von drei Euro sechzig sind, dem ist auch nicht mehr zu helfen. Wichtiger als der reine Betrag (der natürlich nicht zu knausrig ausfallen sollte, wir müssen ja alle von etwas leben), ist die Wertschätzung und Selbstverständlichkeit, mit der gegeben wird. Das erfordert allerdings, wie jedes Ritual, auch Übung. Wer immer nur im Stillen gerechnet hat, was angemessen ist, wird beim Trinkgeldgeben in solch einer Situation ähnlich nervös sein und in ein Fettnäpfchen treten, wie ein Pubertierender beim ersten Versuch ein Mädchen anzusprechen. Macht nichts, Übung macht den Meister!
Rituale als Orientierung
Was diese Erinnerungen verdeutlichen sollen, ist die Bedeutsamkeit, ja die Notwendigkeit der Pflege von Ritualen. Die Beispiele aus der Gastronomie könnten dabei genauso gut durch andere Beispiele aus dem Alltagsleben ersetzt werden, zentral steht dabei immer, dass das Ritual ein Grundpfeiler des Ausdrucks einer kulturellen Gemeinschaft ist. So wie der nahöstliche Bazar etwas über den dortigen Menschen aussagt, so spricht aus dem Verständnis der Dienstbarkeit und der dazugehörigen sprachlichen Formeln im Westen das Menschenbild des Abendlandes. Der Verlust dieser Rituale ist keineswegs trivial, G.K. Chesterton schrieb dazu bereits 1906 in “Importance of Ritual and Symbolism”:
“Die menschliche Natur verlangt überall nach dem Ritual. Wer seine Rituale abschafft, bekommt stattdessen mindere Rituale. Wer das beeindruckende Zeremoniell zerstört, bekommt stattdessen lediglich ein enttäuschendes Zeremoniell.”
Wer mit offenen Augen durch unsere Welt schreitet, wird dabei erkennen, dass Rituale keineswegs ersatzlos gestrichen werden, sondern dass, sobald die ursprünglichen Rituale abgeschafft wurden, ein erbarmungsloser Wettkampf um die Einführung von Ersatzritualen stattfindet. Zu Beginn von Corona sollten sich die Menschen das Händeschütteln abgewöhnen. Wie bei so vielen Dingen wurde aber auch hier gelogen, als man so tat, dass es sich dabei nur um einen temporären Verzicht handelte. Der ungelenke Ellbogengruß und das subkulturell angehauchte “Faust geben” wurden – ebenso wie der Spruch “bleiben Sie gesund” – zur tugendhaften Tat verklärt und für viele wurde der im Abendland seit der Zeit des antiken Roms übliche Brauch des Händedrucks, zur hygienischen Verantwortungslosigkeit umgedeutet. Gleiches gilt für christliche Rituale, deren Abschaffung nicht zu einem rituell-spirituellen Vakuum führte, sondern um deren Nachfolge eine Reihe zivilreligiöser Rituale, vorzugsweise aus der Klimabewegung, buhlen.
Die Art der Rituale, die unsere Gesellschaft prägen, ist also alles andere als nebensächlich. Sie sind ein realer Ausdruck jener Werte, die unsere Kultur ausmachen und damit im Umkehrschluß weitergegeben werden an die nächste Generation. Die Moderne hat es sich zu eigen gemacht, das, was sie nicht versteht (oder was ihr ein Dorn im Auge ist), vorschnell abzuschaffen.
Meine Eltern schrieben mir als Kind ins Stammbuch: “Reiß das Band der Freundschaft nie entzwei, knüpfst Du es auch, ein Knoten bleibt dabei.” Das gilt auch für Traditionen und Rituale! Wo sie verloren gehen, tritt an ihre Stelle Konformität und Langeweile. Der Reichtum Deutschlands, Österreichs, ja ganz Europas, liegt in der unermesslichen Vielfalt der unterschiedlichsten lokalen Rituale und Gepflogenheiten. Das ist, was Europa einzigartig macht. Verlieren wir das, verlieren wir die europäische Seele. Schon jetzt gleicht jeder Flughafen, jede Großstadt der anderen. Widerstehen wir der utilitaristischen Versuchung, die letzten Reste vermeintlich überkommener Rituale abzuschaffen, bevor sie für immer verloren sind und unsere Kinder höchstens in Geschichtsbüchern noch darüber lesen können!
Der Dokumentarfilm “Die große Stille” aus 2005 zeigt das Leben der Mönche des Mutterklosters der Kartäuser, La Grande Chartreuse, in den französischen Alpen. Der durchritualisierte und entbehrungsreiche Alltag des Schweigeordens bestimmt das gesamte Leben der Mönche, wird allerdings an bestimmten Tagen des Jahres durchbrochen. Während eines Spaziergangs außerhalb des Klosters zu Ostern tritt das Schweigegelübde für einige Stunden außer Kraft.
Dabei wird der Zuschauer Zeuge eines bemerkenswerten Gesprächs über die Bedeutung von Ritualen, spezifisch über jenes des rituellen Händewaschens. Einer der Mönche erzählt, dass “in Selignac [ein anderes Kartäuserkloster] das Händewaschen seit zwanzig Jahren nicht mehr gemacht wird.”
Darauf fragt ihn ein Mitbruder: “Findest du, wir sollten uns vom Händewaschen trennen?”
Der erste Mönch erwiderte: “Nein, aber es wäre keine große Sache, etwas Nutzloses abzuschaffen.”
Da mischte sich ein weiterer Bruder in das Gespräch:
“Unser ganzes Leben, die ganze Liturgie und alles Feierliche sind Zeichen [Rituale]. Schafft man die Zeichen ab, reißt man die Mauern des eigenen Hauses ein. Im Kloster von Pavia haben sie statt einem Waschbecken gleich sechs. Dort kann man sich also richtig die Hände waschen.”
Diese Feststellung erheiterte die Gruppe und ein älterer Mitbruder wies darauf hin, dass das “ja auch Trappisten sind!” Dann aber fuhr er fort:
“Wenn wir die Zeichen zerstören, verlieren wir die Orientierung. Stattdessen sollten wir nach ihrem Sinn suchen. Man sollte aber das Wesentliche in den Zeichen suchen. Nicht die Zeichen stehen in Frage, sondern wir. Der Fehler liegt nicht im Händewaschen, sondern der Fehler ist im Kopf.”
Darum, ob in der Kirche oder im Kaffeehaus: Lasst uns nach dem Wesentlichen in den uns überlieferten Ritualen suchen, sodass wir in dieser wahnsinnigen Welt nicht die Orientierung verlieren, sondern sie stattdessen unseren Mitmenschen bieten können!