Demokratischer Trumpismus

In den Vereinigten Staaten hat die juristische Aufarbeitung der Pandemie begonnen. Es geht um die Zusammenarbeit sozialer Netzwerke wie Twitter mit der amerikanischen Regierung, die Kritiker der Pandemiepolitik zum Schweigen zu bringen versuchten. Der Staat beanspruchte ein Monopol auf Information durch die Markierung vermeintlicher Desinformation. Bei uns ist diese Debatte noch nicht angekommen, aber es gibt die Chance einer auseinanderfallenden Gesellschaft eine Alternative anzubieten.  

Die Erklärung von Great Barrington

Am 20. August 2020 veröffentlichten Martin Kulldorff, Sunetra Gupta und Jay Bhattacharya die nach ihrem Entstehungsort benannte Great Barrington Declaration. Die drei Initiatoren galten bis dahin als hoch angesehene Epidemiologen, die in Harvard, Oxford und Stanford gearbeitet haben. In ihrer gemeinsamen Erklärung wandten sie sich gegen die Lockdown-Politik, die seit dem Ausbruch der Pandemie in China zum wichtigsten Instrumentarium der Seuchenbekämpfung avanciert war. Die totale Kontrolle des sozialen Lebens war bis zu diesem Zeitpunkt noch nie in dieser Radikalität praktiziert worden. 

Kulldorff, Gupta und Bhattacharya betonten in ihrer kurz und prägnant gehaltenen Erklärung ihre Herkunft aus unterschiedlichen politischen Lagern. Ihr Ansatz war in epidemiologischer Hinsicht konservativ, sie definierten die Seuchenbekämpfung unter der Bedingung, „die Mortalität und den sozialen Schaden zu minimieren, bis wir eine Herdenimmunität erreichen.“ Sie gingen von der Erkenntnis aus, dass Covid19 vor allem für „alte und gebrechliche Menschen“ ein hohes Risiko darstellt. Daraus resultierte ihre Strategie „denjenigen, die ein minimales Sterberisiko haben, ein normales Leben zu ermöglichen, damit sie durch natürliche Infektion eine Immunität gegen das Virus aufbauen können, während diejenigen, die am stärksten gefährdet sind, besser geschützt werden.“ 

Sie nannten das „gezielten Schutz (Focused Protection).“ Die zu dem Zeitpunkt noch nicht vorhandenen Impfstoffe betrachteten die Autoren als eine Perspektive. Manches in dieser Declaration hat sich später als nicht zielführend zum Schutz vor einer Infektion mit SARS-COV-2 erwiesen, etwa die klassische Hygienemaßnahme des Händewaschens. 

Erstaunen über den rabiaten Kurswechsel

Dieser Ansatz entsprach dem epidemiologischen Konsens vor der Pandemie. Er markierte das Erstaunen führender Epidemiologen über den rabiaten Kurswechsel, der sich weltweit in den acht Monaten seit Verhängung des ersten Lockdowns in Wuhan vollzogen hatte. Unter normalen Bedingungen wäre diese Erklärung als ein wichtiger Diskussionsansatz wahrgenommen worden, den man kritisch diskutiert hätte. Tatsächlich schlug er aber ein wie eine Bombe, weil er als ein politischer Angriff auf die herrschende Meinung interpretiert wurde. 

Diese saß aber in den Vereinigten Staaten nicht im Weißen Haus, sondern dort residierte mit Donald Trump ein vom linken und linksliberalen Medien-Mainstream gehasster Präsident. Die herrschende Meinung über die Pandemiepolitik betrachtete sie als einen Hebel, um dessen fast schon sichere Wiederwahl doch noch zu verhindern. Trumps Wahlsieg hing nicht zuletzt von guten Wirtschaftsdaten ab, die Pandemie gefährdete aber die wirtschaftliche Stabilität. Deswegen war er gegen eine rigide Lockdownpolitik und setzte auf die schnelle Entwicklung von Impfstoffen. 

Die in der Barrington Declaration versuchte wissenschaftliche Herangehensweise musste scheitern, gerade wegen der überwältigenden Resonanz, die sie erzeugte. Dieser Artikel von Christina Berndt in der Süddeutschen Zeitung fasst die damalige Kritik gut zusammen: Es sei alles widerlegt und die Declaration zudem Ausdruck rechter Umtriebe. Frau Berndt zitierte einen vermeintlichen Epidemiologen mit der Annahme, dass die Herdenimmunität in Deutschland mindestens 400 000 Menschen das Leben kosten werde. Sie meinte den damaligen SPD-Gesundheitsexperten Karl Lauterbach.

So wird die Barrington Declaration in der Rückschau zu einem der wichtigsten Dokumente der Pandemie. Nicht wegen ihres wissenschaftlichen Gehalts, der lediglich die bis 2019 für selbstverständlich gehaltenen epidemiologischen Erkenntnisse zusammenfasste, sondern wegen des Umgangs mit ihr. Kulldorff, Gupta und Bhattacharya wurden aus dem Diskurs ausgeschlossen, sie teilten damit das Schicksal vieler anderer Kritiker einer Politik der totalen Kontrolle des sozialen Lebens. Dazu gehörte selbst einer der meistzitierten Epidemiologen der Welt, John Ioannidis, wie hier nachzulesen ist. 

Aber wie funktionierte dieser Ausschluss aus dem Diskurs? Eine besondere Rolle spielten soziale Netzwerke wie Twitter, die nach dem überraschenden Ausgang der Brexit-Volksabstimmung im Vereinigten Königreich und der Wahl von Donald Trump im Jahr 2016 als Hauptschuldige ausgemacht worden waren. Sie hätten die Verbreitung von Fake News und damit die falsche Wahl ermöglicht: Wer stimmte sonst für den Brexit oder Donald Trump? Das sollte sich in der Pandemie nicht wiederholen, sodass die sozialen Netzwerke zu immer weitergehenden Zensurmaßnahmen griffen, um vermeintliche Fake News zu unterbinden. 

Der Ursprung dieser autoritären Vorstellung von Politik ist schon am Beginn der Pandemie zu finden: Ein am 7. März 2020 im Lancet veröffentlichter Aufruf verwandelte die Diskussion über den Ursprung des Virus in Wuhan in eine Verschwörungstheorie. Wer gegen die These eines natürlichen Ursprungs des Virus argumentierte, wurde in der öffentlichen Meinung als vogelfrei erklärt.

„Missouri versus Joe Biden“

Mit dem Amtsantritt des demokratischen Präsidentschaftskandidaten Joe Biden im Jahr 2021 wurde dieses autoritäre Politik-Verständnis zum Regierungsprogramm. Jetzt kam es zu einem Bündnis von Regierung und Plattformbetreibern, um gegen kritische Stimmen vorzugehen. Sie setzten das um, was man Bidens Vorgänger immer vorwarf: Die gezielte Manipulation der Öffentlichkeit, um die eigene Agenda durchzusetzen. Der Trumpismus kam ironischerweise erst mit Biden zur Vollendung. 

Twitter hatte zwar nie ein funktionierendes Geschäftsmodell, aber wurde für den demokratischen Trumpismus zur wichtigsten Waffe. Die Plattform hatte seit ihrer Gründung eine herausragende Bedeutung für den politischen Diskurs bekommen. Als einer der ersten hatte das Donald Trump begriffen, der das soziale Netzwerk für die direkte Ansprache der Wähler nutzte, ohne noch auf die klassischen Medien angewiesen zu sein. 

So wurde die Übernahme von Twitter durch Elon Musk im Jahr 2022 zum politischen Schlachtfeld, das den Milliardär viel Geld kostete, anstatt etwas einzubringen. Die anschließende Veröffentlichung der „Twitter Files“ wurde zu einer Dokumentation über die Praxis des demokratischen Trumpismus. Dazu gehörte der Umgang mit den drei Initiatoren der Barrington Declaration, wo die heute weitgehend unumstrittene Aussage von Kulldorff, Impfungen seien nicht für jede Altersgruppe notwendig, als irreführend klassifiziert wurden. 

Solche Hinweise hat in dieser Zeit wahrscheinlich jeder Leser erlebt. Sie schufen ein politisches Klima der Einschüchterung, wo selbst bis dahin harmlose Fachbegriffe wie „Herdenimmunität“ und „Durchseuchung“ in das Räderwerk ideologischer Glaubenskrieger gerieten.

Mit dem Trumpismus in ihren beiden Spielarten zerlegte sich die Gesellschaft in feindliche Lager. Selbst eine unpolitische Infektionskrankheit mutierte zur politischen Virologie, wo es nur noch um die Markierung und den Ausschluss des politischen Gegners ging. Der demokratische Trumpismus hatte nach dem Ausbruch der Pandemie deren politisches und agitatorisches Potential erkannt, um die für ihn unbegreiflichen Niederlagen gegen den Rechtspopulismus auszubügeln. 

Mit wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Pandemie hatte das nichts zu tun, ansonsten hätte man wohl eher den vermeintlichen Epidemiologen Karl Lauterbach statt eines tatsächlichen Epidemiologen wie Kulldorff das Etikett „irreführend“ anheften müssen. 

Dieser Missbrauch sozialer Medien zur Durchsetzung einer politischen Agenda gefährdete die Meinungsfreiheit in der amerikanischen Demokratie. Es gab schon immer Versuche, diese einzuschränken, um ideologische Überzeugungen durchzusetzen. So etwa im spektakulären Prozess gegen den Lehrer John Scopes im Jahr 1925, der gegen die fundamentalistische Überzeugung im Unterricht die Evolutionstheorie lehrte. Scopes verlor zwar den Prozess, aber gewann in der öffentlichen Meinung: Die Kritiker der Evolutionstheorie wurden zum Dasein als Hinterwäldler verurteilt. 

In diese Reihe gehört auch der Verleger und Pornograph Larry Flint, der im Jahr 1988 einen spektakulären Fall vor dem Obersten Gerichtshof zugunsten der Meinungsfreiheit gewann. Viele hielten seine Produkte für geschmacklos, aber „der erste Zusatzartikel und die Meinungsfreiheit seien wichtiger als der vermeintliche Schaden, den prominente Personen durch psychischen Stress infolge von Parodien hätten.“ 

Schließlich noch die Pentagon Papers über die Hintergründe des Vietnamkrieges, die 1971 zuerst die New York Times und anschließend andere amerikanische Zeitungen gegen den erbitterten Widerstand der Nixon-Regierung veröffentlichten.

Insofern ist es nicht überraschend, wenn es in den Vereinigten Staaten jetzt zur juristischen Aufarbeitung des demokratischen Trumpismus kommt. So gelang es unter anderem Kulldorff und Bhattacharya ein Verfahren „Missouri versus Joe Biden“ durchzusetzen. 

Das am 4. Juli veröffentlichte Urteil hat in den Vereinigten Staaten eine kontroverse Debatte entfacht, deren Positionen etwa bei MSNBC und in der Los Angeles Daily News nachzulesen sind. Natürlich fehlt bei den Kritikern des Urteils nie der Hinweis, dass der Richter Terry Doughty von Trump eingesetzt worden sei, womit seine richterliche Unabhängigkeit in Zweifel gezogen werden kann. Vergleichbare Hinweise auf die von Obama oder Biden eingesetzten Richter wären ebenfalls nicht zielführend, weil sich richterliche Unabhängigkeit erst in den Urteilen konkretisiert. 

In Deutschland ist das Verfahren und das Urteil kaum beachtet worden. Es ist das gleiche Phänomen wie bei den „Twitter Files“, wo etwa der Faktenfinder der Tagesschau über den „Spagat zwischen Meinungsfreiheit auf der einen und der Bekämpfung von Desinformation auf der anderen Seite“ räsonierte. Autor Pascal Siggelkow kann sich aber zum Glück auf die Meinungsfreiheit berufen, um seine Artikel zu legitimieren. 

Milosz Matuschek hat das Urteil in seinem Blog für das deutsche Publikum gut zusammengefasst. Er nennt es den „Beginn einer Aufarbeitung“, aber hier geht es nicht um die Pandemie, sondern um die Übergriffigkeit des Staates gegen die Grundrechte seiner Bürger. Man musste kein Fan eines Pornographen sein, um Flints Kampf vor dem Obersten Gerichtshof zu unterstützen.

Kreislauf zunehmender Radikalisierung

In den analogen Zeiten konnten die Druckmaschinenhersteller nicht mitreden, welche Geschmacklosigkeiten Flint auf ihren Maschinen druckt. Das hat sich geändert: Heute entscheiden die großen Plattform-Anbieter, was dort gesendet oder gesagt wird. Twitter löschte sogar den Account eines amtierenden Präsidenten, um seinen Wahlkampf zu sabotieren. Google entfernte 2021 auf YouTube ein Video, wo Floridas Gouverneur Ron DeSantis mit Kulldorff, Gupta und Bhattacharya über die Pandemiepolitik diskutierte. Der Vorwurf lautete Fehlinformation über das Coronavirus und das Maskentragen. Facebook ist berüchtigt für seine Sperrung von Nutzerkonten und musste schon vor Veröffentlichung der „Twitter Files“ die Unterdrückung von Meldungen über den Laptop des Sohnes von Joe Biden einräumen. 

Das sind nur wenige Beispiele für eine verfassungswidrige Praxis der amerikanischen Digitalmonopolisten. Die Debatte über deren Einfluss auf politische Willensbildungsprozesse ist wesentlich älter, die Veröffentlichungen von Edward Snowden dokumentierten zwar schon ihre Kooperation mit der NSA zur digitalen Überwachung der Bürger. Aber zu dem Zeitpunkt ging es trotzdem um die Rolle des Staates zur Begrenzung ihrer ökonomischen und politischen Macht. In der Pandemie zeigten sich die Folgen, wenn der Staat, hier der demokratische Trumpismus, deren Macht nutzt, um politische Gegner auszuschalten. Und dabei noch auf die Unterstützung weiter Teile der Medien setzen kann, die den demokratischen Trumpismus nutzen, um den Trumpismus zu bekämpfen.

Auch wenn die juristische Aufarbeitung „Missouri versus Joe Biden“ in den Vereinigten Staaten noch am Anfang ist, ist die Erwartung auf eine „Aufarbeitung der Pandemie“ ein Fehlschluss. Sie wird hoffentlich den Anspruch des Staates auf ein Erkenntnismonopol zurückweisen, ist aber nicht mit einer gesellschaftlichen Aufarbeitung der Pandemie zu verwechseln. Die findet nicht in den Gerichtssälen statt, sondern ist ein politischer Prozess. 

Die Pandemiepolitik hat in Deutschland das Vertrauensverhältnis zwischen Staat und vielen Bürgern zerrüttet. Das liegt nicht zuletzt an der Doppelmoral unserer demokratischen Trumpisten, die Gleiches ungleich bewerten. Das Recht auf Meinungs- und Demonstrationsfreiheit ist unteilbar: Wer die Aktionen von „Klimaschützern der Letzten Generation“ zur Störung des gesellschaftlichen Lebens für eine legitime Protestform hält, kann nicht gleichzeitig die Mahnwachen von „Lebensschützern“ verbieten wollen. Wobei diese im Gegensatz zu den Klimaaktivisten keine strafbaren Handlungen begehen, weshalb es ein entsprechendes Gesetz geben soll, um das trotz fehlender Rechtswidrigkeit zu unterbinden.

Aber es gibt bei der Aufarbeitung der Pandemie Chancen, um den Kreislauf zunehmender Radikalisierung zu durchbrechen. Schweden hatte das vorgemacht, als es die Versäumnisse auf Antrag der Oppositionsparteien in der Frühphase der Pandemie parlamentarisch aufarbeitete. Im Vereinigten Königreich gibt es ebenfalls eine solche Untersuchungskommission. 

In Deutschland wird die Forderung nach einer Enquetekommission des Deutschen Bundestages zwar von den Unionsparteien, der FDP und der AfD unterstützt, aber die Umsetzung ist bisher keinen Schritt vorangekommen. Dafür mag es politische, aber keine sachlichen Gründe geben. Damit verschenken wir als Gesellschaft eine Chance, um einer auseinanderfallenden Gesellschaft ein Signal der Dialogbereitschaft zu senden. 

Zudem könnten wir als Gesellschaft lernen, warum in Zukunft eine Initiative wie die Barrington Declaration aus dem politischen Diskurs nicht mehr verbannt werden darf. Denn ein Staat, der für sich das Informations- und Meinungsmonopol beansprucht, ist die eigentliche Gefahr für demokratische Verfassungsstaaten. 

Der demokratische Trumpismus sollte außerdem eines nicht vergessen: Falls der Trumpismus den Staat in gleicher Weise für seine politische Agenda missbraucht, haben seine Gegner keine überzeugenden Argumente mehr, um ihn daran zu hindern. 

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1 Kommentar. Leave new

  • Hans-Jürgen Jacobsen
    18. Juli 2023 17:53

    Die totalitären und bis jetzt anhaltenden Zensurmassnahmen der weltweit extrem links gelagerten und vereinten Main Stream Medien als “Trumpismus” zu bezeichnen ist nichts anderes als ein lächerlich heuchlerischer Versuch nach dem medialen Rufmord an ihm und Jair Bolsonaro das Werk fortzusetzen und schönzureden. Es ist eine glatte Lüge das dies nur mit dem senilen Biden in umgesetzt wurde, und entblößt die wahrhaftige Doppelmoral des Herrn Lübberding, der hier mit einem falschen Hoffnungschimmer einer vermeitlichen “Aufarbeitung” wedeln will, die es nieht geben wird, weil er eben nicht den eingenisteten Deep State wahrnehmen will, der Trump von innen abgesägt hat, besonders mit einer vorher links besetzten Justiz, die systematisch eine Transparenz und Aufarbeitung der eklatant dubiosen Wahlvorgänge aktiv verhindert hat. Selbes Modell auch in Brasilien angewendet.
    In DE ist die Justiz ebenso besetzt. Jetzt ist es zu spät um Herrn Ioannidis wieder recht zu geben.

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