In der zweiten Instanz vor dem Landesgericht für Strafsachen in Wien fiel im Fall „Mia“ (Name geändert) nun das nächste Urteil: ein Freispruch für alle zehn Angeklagten. Ein Skandal, der nicht nur Mias Welt erschüttert, sondern unser gesamtes System in Frage stellt.
Sex im Hotelzimmer, trotz klarem „Nein“
Alles begann im Frühling 2023, März bis April: Die Rede war von bis zu 30 Männern. Sie sollen Mia, damals Schülerin eines Gymnasiums, in Parks, Stiegenhäusern und sogar einem (für lächerliche 56 Euro) angemieteten Hotelzimmer zu sexuellen Handlungen gezwungen haben. 17 konnten ermittelt werden. Zehn wurden angeklagt.
Zehn junge Männer – neun davon unter 18 –, alle aus migrantischen Familien, sechs von ihnen ohne feste Beschäftigung, zwei Schüler, zwei Lehrlinge, alle wohnhaft in Wiens 10. Bezirk.
Sie hielten Mia fest, um Handverkehr zu erzwingen. In der Mehrzahl haben sie sich nach Ansicht der Staatsanwaltschaft der „Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung“ (§ 205a österr. StGB) schuldig gemacht – Geschlechtsverkehr trotz vielfachem, klarem „Nein“.
Vorher Pizza, nachher Marihuana
Die zwölfjährige Mia hatte sich hinzuknien oder hinzulegen. Der Reihe nach, einer nach dem anderen, vergingen sie sich an ihr. Davor oder danach bestellten sie Pizza oder rauchten Marihuana. Mia ließ das schmerzhafte Martyrium über sich ergehen, in der Hoffnung, dass es nicht noch schlimmer werde, und ging anschließend nach Hause. Lange Zeit brachte sie nicht den Mut auf, sich ihrer Mutter anzuvertrauen.
Überwiegend wandten die jungen Männer keine körperliche Gewalt im klassischen Sinne an, keine Drohungen mit Messern oder Waffen. Aber sie spannen ein subtiles und wirksames Netz aus psychischem Druck, Erpressung mit geteilten Videos und Erzählungen, wen man alles mit Gewalt schon gefügig gemacht habe. Sie erzeugten ein Bild einer gewaltsamen, brutalen Bande, die sich über alles hinwegsetzt, was der Befriedigung ihrer abartigen Begierden im Weg steht.
Psychische Gewalt und Videobeweise
So entstand eine Drohkulisse, die die damals zwölfjährigen Mia lähmte. Ein „Geflecht“ aus Übergriffen und Psychoterror, das sich über Wochen verdichtete, mit Chats und Videos, mit denen die jugendlichen Täter, als wären dies Trophäen, ihre Taten dokumentierten.
Schließlich aber brach Mia, vertreten durch Rechtsanwalt Mag. Sascha Flatz, ihr Schweigen. In Vernehmungen bei der Polizei schilderte sie detailliert: wie sie festgehalten wurde, wie ihr „Nein“ ignoriert wurde, wie Videos als Waffe dienten. Auf mindestens einem Video ist deutlich zu hören, wie sie sich gegen die Angreifer zu wehren versuchte. Verzweifelt, hilflos, eine Zwölfjährige gegen ein Rudel testosterongesteuerter und charakterlich unterbemittelter Kerle im Alter zwischen 13 und 19 Jahren, die aus Nordmazedonien, Bulgarien, Syrien, Italien, der Türkei und aus Österreich stammen.
Strafunmündige Dreizehnjährige
Die Verfahren gegen die dreizehnjährigen Tatverdächtigen mussten eingestellt werden, da sie bei Tatbegehung noch keine 14 Jahre alt waren, sind sie „strafunmündig“. Diese Altersgrenze gehört endlich herabgesenkt – auf zehn Jahre, wie es in der Schweiz heute schon geregelt ist. Die Schere zwischen der biologischen und geistigen Reife geht, wie dieser Fall zeigt, zu weit auseinander. Der Gesetzgeber muss darauf reagieren.
Die Täter in Wien, umringt von einer Armee aus Verteidigern, schwiegen vor Gericht oder widersprachen. Es war das vierte Verfahren aus diesem Komplex – und doch endete es wie die vorherigen: mit Freispruch.
Warum? Die Urteilsbegründung ist ein Schlag ins Gesicht. Bisher sind nur eine kurze mündliche Begründung und eine Pressemitteilung des Landesgerichts Wien bekannt.
Nein ist ein Nein?
Angebliche Widersprüche in Mias Aussagen zwischen Polizeiprotokoll und der sogenannten „kontradiktorischen Vernehmung“ vor Gericht gaben demnach den Ausschlag.
Zudem heißt es, dass Chatverläufe beim Landesgericht Zweifel säten, obwohl diese auch die Täter belasten: „Einfach weitermachen, auch wenn sie Nein sagt“, soll ein Mittäter als Handlungsanweisung sinngemäß durchgegeben haben. Dass ein Nein ein Nein ist, das lernten diese jungen Tatverdächtigen zu ignorieren.
Des Weiteren wird in der Begründung auf eine Zeugin verwiesen, eine ehemals enge Freundin der Geschädigten, die von keiner Gewalt, nur von „sexuellen Handlungen“ – angeblich ohne körperlichen Zwang – zu berichten wusste.
Einvernehmen mit einer Zwölfjährigen?
Außerdem scheint das Landesgericht zu der Auffassung gelangt zu sein, dass sich die Täter im Alter ihres Opfers getäuscht haben könnten. Mia hätte älter gewirkt, und weil alles ohne körperliche Gewaltanwendung abgelaufen sein soll, sei nicht auszuschließen, dass alles doch „einvernehmlich“ gewesen sein könnte.
Dabei übersehen die Richter offensichtlich, dass eine Zwölfjährige in solche Geschehnisse rechtlich nicht wirksam einwilligen kann – sie übersehen das Prinzip „Minderjährigenschutz“. Den haben die Richter in Wien, zwei Berufs- und zwei Laienrichter, völlig außer Acht gelassen. Genauso wie die Maßgabe, dass bei einem angeblichen Irrtum über das Alter des Opfers geprüft werden muss, ob ein solcher Irrtum „vermeidbar“ war. Und vermeidbar war und ist es für Männer jeden Alters, ein Kind wie eine junge Frau anzusehen.
Systemisch krank
Und so urteilen sie: Freispruch. Und die Angeklagten verlassen hämisch grinsend den Gerichtssaal. Von einem Angeklagten findet sich in der Presse ein Foto, auf dem er, sein Gesicht hinter einem Aktendeckel versteckend, den Pressefotografen den ausgestreckten Mittelfinger zeigt.
Dieser Freispruch spiegelt das Innenleben der Angeklagten und den Zustand des Rechtsstaats wider: systemisch krank.
Das Landesgericht übersieht, dass bei Minderjährigen ein Trauma Widersprüche erzeugt, den Versuch, sich selbst zu schützen, indem die Tat „klein geredet“ wird – Erinnerungslücken sind ein Symptom, kein Beweis für eine Lüge.
Psychischer Druck? Im österreichischen Recht zu eng gefasst; er muss „körperlich“ wirken, um als Nötigung angesehen zu werden. Aber Mia war gelähmt von Angst, nicht geschlagen.
Und die Videos? Diese Trophäen, die die Täter untereinander teilten, blieben vor Gericht Beweisstücke ohne Überzeugungskraft. Alle Angeklagten waren seit der Verhaftung auf freiem Fuß – sie hatten Zeit genug, um ihre Geschichten abzustimmen.
Ein Tiefpunkt der Justiz
Dieser zweite Freispruch (über das erste Urteil lesen Sie hier) markiert den bisherigen Tiefpunkt in dieser Sache. Er signalisiert: Junge Täter, oft aus schwierigen Verhältnissen, bekommen Schlupflöcher, während Opfer wie Mia reviktimisiert werden.
Die Freigesprochenen tun das, was eine kriminelle Laufbahn befördert und was der Neurobiologe Gerald Hüther beschreibt: Sie hatten „Erfolg“, sie machen weiter!
Kurz nach dem Freispruch tauchen neue schwere Vorwürfe auf: Gegen sieben der zehn Freigesprochenen läuft ein neues, separates Ermittlungsverfahren wegen sexueller Übergriffe auf ein weiteres zwölfjähriges Mädchen in Wien.
Die Vorwürfe ähneln stark dem Fall Mia. Staatsanwältin Judith Ziska bestätigt: „Es gibt ein weiteres Verfahren mit teils denselben Beschuldigten.“ Die Ermittlungen umfassen Vergewaltigung, Nötigung, Mobbing und Körperverletzung.
Strafmündigkeitsgrenze senken – Opferrechte stärken
Die Politiker in Wien und Berlin müssen jetzt handeln: Ändern Sie das Gesetz – erweitern Sie den „Gewalt“-Begriff auf psychische Einwirkung auf das Opfer, geben Sie Opfern stärkere prozessuale Rechte, insbesondere in Österreich mit einem eigenen Recht auf Rekurs bzw. Berufung oder Revision. Senken Sie die Strafmündigkeitsgrenze auf zehn Jahre.
Die Staatsanwaltschaft Wien hat auf Weisung des Justizministeriums inzwischen Nichtigkeitsbeschwerde gegen das Urteil des Landesgerichts beim Obersten Gerichtshof eingelegt.
Mia verdient Gerechtigkeit, nicht nur formelle Gesetzesanwendung.