Ich bin kein Heimschulaktivist. All meine Kinder haben öffentliche Schulen besucht. Hausunterricht war für mich immer ein sehr entferntes Randphänomen, keine Möglichkeit, die ich damals ernstlich erwogen hätte. Mit den Jahren habe ich einige Heimschulfamilien kennengelernt, bin ihrem Anliegen mit einigem Wohlwollen begegnet, aber immer noch hatte ich der Sache keine größere Aufmerksamkeit entgegengebracht. Es hat Jahrzehnte gedauert, bis ich verstanden habe, welch wichtiges Korrektiv diese Familien für unsere Gesellschaft sind.
Um das zu begreifen, reicht es nicht aus, die Heimschulbewegung als isoliertes Phänomen, als einen besonderen Bildungsweg zu sehen. Man muß den größeren Zusammenhang erfassen, in den die Kriminalisierung des Heimunterrichts — und auch der Widerstand dagegen — gehört. Die Vergesellschaftung der Bildung ist nur ein kleines Rad im Getriebe von Bestrebungen, die viel weiter reichen: Insgesamt geht es um die umfassende Entmachtung der Familie, wobei der Anspruch des Staates auf Bildung der Kinder nur ein Teil des Ganzen ist. Um dies zu erklären, muß ich etwas weiter ausholen:
Das moderne Gesellschaftsbild bewegt sich zwischen den drei Orientierungspunkten Gott, Staat und Individuum. Das biblische Menschenbild betont hingegen viel stärker eine weitere Gesellschaftsebene: Das Haus, den »Oikos«, die familiäre Verantwortungs- und Lebensgemeinschaft, in der unterschiedliche Begabungen und Verantwortungen einander ergänzen, helfen und ausgleichen. Schwach und stark, mündig und unmündig, erfahren und unerfahren sollen im Oikos als einem Solidarverbund gegenseitiger Ergänzung ein fruchtbares, funktionierendes Ganzes abgeben. Gott sieht den Menschen immer in Beziehung zu dem Haus, dem er zugeordnet ist: Wenn Noah die Weisung erhält, sich mit einer Arche in Sicherheit zu bringen, so gilt dieser Befehl auch für alle, für die Noah Rechenschaft geben muß. Und wenn Josua sagt: »Ich aber, und mein Haus, wir wollen Jahweh dienen«, so trifft er nicht nur eine Entscheidung für sich selbst, sondern gleichzeitig für alle, für die er Verantwortung trägt. Das gleiche Muster finden wir auch im Neuen Bund immer wieder, zum Beispiel beim Kerkermeister von Philippi oder dem Beamten in Kapharnaum.
Die meisten Gesellschaftsformen der letzten Jahrtausende respektierten den Oikos als selbständige Einheit, in der — im Vergleich zu unseren Tagen — außerordentlich viele Kompetenzen gebündelt waren. In vormodernen Gesellschaften, auch in den Gesellschaftsbildern, die wir in der Bibel finden, war der Großteil der Verantwortung nicht beim Staat, sondern in der Familie konzentriert. Die wesentlichen Lebensentscheidungen wurden dort getroffen und auch die gegenseitige Fürsorge war fast ausschließlich Familienangelegenheit. Das Gros der Angelegenheiten, die für den Einzelnen wichtig waren, spielte sich auf der Familienebene ab. Die griechische Antike kannte sogar Zeiten, wo Rechtsfälle des Oikos nicht vor einem Gericht der Polis, also des Staates, verhandelt werden durften.
Heute sind wir von solcher Eigenständigkeit der Familie so weit entfernt wie noch nie in einer Staatsform der Menschheitsgeschichte. In jeder Gesellschaft müssen die drei Zivilebenen Individuum, Oikos und Staat ihre Kompetenzen gegeneinander abgrenzen und zu einem Gleichgewicht finden. In der modernen Gesellschaft stehen sich aber nur noch Staat und Individuum gegenüber, die Familie ist nach und nach aller Aufgaben und Kompetenzen beraubt und bis zur Bedeutungslosigkeit ausgehöhlt worden.
Schrittweise Änderungen der Rechtsordnung haben die faktische Bedeutung der Familienebene immer mehr geschwächt und ihrer Vitalität beraubt. Besonders seit dem ersten Weltkrieg schreitet der Bedeutungsverlust der Familie immer schneller voran. In der Hauptsache waren es totalitäre Staaten, die den Familienzusammenhalt zielgerichtet geschwächt haben, weil eine atomisierte Masse, die der natürlichen sozialen Strukturen entkleidet ist, leichter zu beherrschen ist. Aber auch Demokratien erliegen im Wettbewerb um die Loyalität des Einzelnen, der zwischen Polis und Oikos — wenn auch zumeist unbewußt — immer ausgetragen wird, leicht der Versuchung, die Familie zu schwächen und ihre Verantwortung zu beschneiden, um die staatliche Einflußsphäre auszudehnen.
Der starke, gesunde Oikos ist das Schreckensbild jedes Diktators. Vereinzelte, entwurzelte Individuen sind hingegen leicht und ohne die Gefahr größeren Widerstandes zu beherrschen. So ergibt sich das Paradoxon, daß die extrem freiheitsfeindlichen Diktaturen des 20. Jahrhunderts ausgerechnet durch die Freiheitsbestrebungen der Aufklärung begünstigt wurden, welche die Oikos-Ebene geschwächt und den Individualismus gestärkt haben.
Das heutige Menschenbild betont neben der staatlichen Autorität in sehr starkem Maße die Individualität des Menschen. Die Verantwortung, die früher im Familienverband konzentriert war, wird auf die Einzelperson verlagert, der im Gegenzug ein hohes Maß individueller Freiheit zugestanden wird, deren Grenzen nun nicht mehr die patriarchale, sondern die staatliche Ordnung setzt. Wo aber der familiäre Verantwortungsrahmen schrumpft, wird in aller Regel der Staat das entstehende Machtvakuum ausfüllen. Zwar ist das Patriarchat eines der Lieblingsfeindbilder der Moderne, aber keine patriarchalische Struktur hat je solche Verwerfungen anrichten können wie die neuzeitliche Symbiose aus Individualismus und starkem Staat, schon allein deshalb, weil der Einflußbereich eines jeden Patriarchen enge natürliche Grenzen hat. Wenn der Staat nun die individuelle Freiheit — die er zunächst als Köder hinhält, den Einzelnen aus dem patriarchalen System herauszuziehen — plötzlich einschränkt, kann dieser nicht einfach zurück aus dem staatlichen in den familiären Schutzraum, da dieser längst zerstört ist.
Auch die demokratische Gewaltenteilung, welche die schlimmsten Wucherungen staatlicher Totalität beschränken soll, ist bei weitem nicht so effektiv wie die natürliche Gewaltenteilung durch die Stärkung der mittleren, der familiären Gesellschaftsebene. Strenggenommen leidet diese vielbeschworene demokratische Gewaltenteilung an einem unheilbaren Konstruktionsfehler: Denn die Teilung der Macht zwischen Legislative, Exekutive und Judikative ist nur eine Aufteilung der Macht zwischen verschiedenen staatlichen Organen: Der Staat teilt sich seine Macht also mit sich selbst. So ist es zwar paradox, allerdings auch konsequent, daß die demokratische Ordnung neben dieser Pseudogewaltenteilung gleichzeitig ein staatliches Gewaltmonopol zu ihren unaufgebbaren Grundlagen zählt. Es mag diese nun immer noch besser sein als eine offene Diktatur, dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß die eigentlich wirksame Gewaltenteilung, nämlich die zwischen Staat und Familie, zwischen Polis und Oikos, durch die Entmachtung der Familie beseitigt wurde.
Dies sieht auch der Nürnberger Staatsrechtler Prof. Dr. K. A. Schachtschneider so, der in seinem Aufsatz »Rechtsproblem Familie« die Verstaatlichung der Familienverhältnisse, die rechtliche Aufspaltung der Familienmitglieder zu einzelnen Rechtssubjekten und die Beseitigung der Ordnungsmacht der Familie als Gründe für eine Entwicklung hin zum totalen Staat benennt. Inzwischen kann, so Schachtschneider, der Staat seinem Auftrag zum Schutz der Familie schon deshalb nicht mehr nachkommen, weil er gar nicht mehr weiß, was eine Familie ist.
Aber nicht nur der weltliche Staat, auch viele Christen haben sich inzwischen mit dem individualistisch geprägten Menschenbild der Aufklärung angefreundet und können mit dem patriarchalisch verfaßten Oikos, der das Menschenbild der Bibel bestimmt, nicht mehr viel anfangen.
Die fortschreitende Entmachtung des Oikos betrifft einstweilen alle Lebensbereiche: Wirtschaft, Sicherheit, soziale Verantwortung und besonders auch Bildung. Im ökonomischen Bereich steht heute zumeist das proletarisierte Individuum übermächtigen Konzernen gegenüber, welche zu immer größeren Einheiten fusionieren und die Regeln des Wirtschaftens einseitig festsetzen. Der Familienbetrieb, jahrtausendelang das vorherrschende Element einer kleinteiligen Volkswirtschaft, in der viele Akteure einander auf Augenhöhe begegnen konnten, verliert immer mehr an Bedeutung. Die sozialen Probleme, die sich aus Proletarisierung und familiärer Entwurzelung des Einzelnen ergeben, versucht nun wiederum der Staat zu lösen. Von der Wiege bis zur Bahre bietet er sich als Ersatzvater an, der alles regelt: Die Betreuung der Jüngsten, die Ausbildung der Heranwachsenden, die Pflege der Kranken, die Ernährung der Armen, die Versorgung der Alten — überall ist der Staat zur Stelle und überdehnt sich damit doch hoffnungslos selbst — bis hin zu seinem wirtschaftlichen Zusammenbruch. Die Grenzen zwischen einem sozialen und einem sozialistischen Staat sind dabei fließend.
Besonders Bildung und Erziehung der künftigen Staatsbürger ist diesem »väterlichen Staat« ein Anliegen, das er nur ungern den Familien überläßt. Schon Plato und Aristoteles sahen den Staat als »Vater« und wollten die Erziehung der Kinder den Familien entreißen. Ab dem zwanzigsten Jahrhundert ist ihre giftige Saat schließlich zur Reife gelangt.
Lenin äußerte gegenüber der deutschen Feministin Clara Zetkin: »Wir machen Ernst mit unserer programmatischen Forderung, die wirtschaftlichen und erzieherischen Funktionen des Einzelhaushaltes der Gesellschaft zu übertragen.« 1930 schrieb Vladimir Sensinow in seinem Buch »Die Tragödie der der verwahrlosten Kinder Rußlands«: »Es gilt, die Kinder von dem rohen Einfluß der Familie zu befreien. Wir müssen sie verstaatlichen. Von den ersten Lebenstagen an werden sie unter dem segensreichen Einfluß der Kindergärten und Schulen stehen. Die Mutter zu bewegen, uns, dem Sowjetstaat, das Kind zu überlassen, das soll unsere praktische Aufgabe sein.« Adolf Hitler sagte 1937: »Heute beanspruchen die Volksführung wir, das heißt, wir allein sind befugt, das Volk als solches — den einzelnen Mann, die einzelne Frau — zu führen. Die Lebensbeziehungen der Geschlechter regeln wir. Das Kind bilden wir!« Und der deutsche Kanzler Olaf Scholz – damals noch SPD-Generalsekretär — verkündete 2002 im Deutschlandfunk: »Die Regierung will mit dem Ausbau der Ganztagsbetreuung eine ›kulturelle Revolution‹ erreichen. Wir wollen die Lufthoheit über unseren Kinderbetten erobern!«
So radikal diese Aussagen in dieser Bündelung erscheinen, sind sie doch längst alltägliche Realität geworden, und auch die meisten Christen akzeptieren klaglos, daß zum Beispiel in Deutschland die Entscheidung, ob man seine Kinder selbst unterrichtet, einen Hauslehrer beschäftigt oder sie in eine öffentliche Schule schickt, nicht mehr in der Hand derer liegt, die doch vor Gott Rechenschaft für diese Kinder ablegen müssen. Nicht nur das: Eltern, die hier den steinigen Weg des Heimunterrichts beschreiten, wird oft vorgehalten, daß man doch schließlich »dem Kaiser geben müsse, was des Kaisers sei«. Dabei wird regelmäßig darüber hinweggesehen, daß Jesus hier von Geld geredet hat, nicht aber von unseren Kindern.
Tatsächlich leisten Eltern, die ihre Kinder zu Hause unterrichten, nicht nur einen wichtigen Dienst an diesen selbst, sondern auch an unserer Gesellschaft: An ihrem Platz stellen sie sich der Tendenz entgegen, den Oikos bis zur völligen Bedeutungslosigkeit zu entkernen. Sie entziehen sich dem Anspruch des Staates, sich für alle Lebensbereiche zuständig zu erklären und wirken damit seiner Totalisierung entgegen. Und dafür sollte man ihnen auch dann dankbar sein, wenn man selbst einen anderen Weg geht.
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Dieser Artikel gefaellt mir besonders, da ich in einer gut funktionierenden Großfamilie aufwuchs. Wir waren 6 Toechter, die mit den Eltern und einem im Haus lebenden Großvater aufwuchsen. Wir mussten als Kinder im Haushalt mithelfen, was uns nicht geschadet hat und haben unseren Großvater sehr geliebt, der jedem von uns jeden Morgen einen Keks schenkte! Er spielte mit uns und erzählte aus seinem Leben. Er war ein studierter Muehlenbauer und als solcher weit herum gekommen. Er hat viel im Elsass gearbeitet und schwärmte im Alter immer noch von Colmar! Auch mein Vater stammte aus einer Familie mit 8 Kindern, welche im Nachbarort wohnte. Jeden Sonntag wanderten wir mit den Eltern zu Oma und Opa im Nachbardorf, wo sich alle Geschwister meines Vaters mitsamt ihren Familien einfanden! Es gab Kaffee und Streuselkuchen fuer alle, welcher in Schichten verzehrt wurde. Wir Kinder wurden dann zum spielen nach draussen geschickt, es war toll!!! Wir waren ueber 20 Cousins und Cousinen und unser enges Verhältnis begleitete uns ein Leben lang. Ich habe leider nur eine Tochter, doch auch sie hat engen Kontakt mit ihren Tanten und Cousins und Cousinen. Wir hatten eine schoene, wenn auch materiell nicht begueterte Kindheit, aber so war es in den 50er und 60er Jahren weit verbreitet und der Zusammenhalt in der Gesellschaft war damals noch gross. Lang, lang ist’s her. Vielleicht klingt das sehr nostalgisch, ist es wohl auch, aber ich kann definitiv sagen, das wir Kinder es damals besser hatten, als die Kinder heute!
Vielen Dank fuer diesen Artikel und herzliche Gruesse
Ihre Gertrud Aumann