Die Geschichte von der falschen Medizin

Es war in den Siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Meine Eltern hatten die damals recht verbreiteten Erbauungsheftchen von ‚Reader’s Digest‘ abonniert, eine monatliche Publikation im etwa DIN-A5-Format aus dünnem Papier und sehr kleiner Schrift, aber bunt. Das Konzept bestand (und besteht trotz mittlerweile zweier Insolvenzen immer noch) darin, Kurzgeschichten und Buchauszüge zu einem leicht verdaulichen Bildungsbürger-Potpourri von stark amerikanisch geprägten kulturellen und wissenschaftlichen Themen zu vermengen. Und weil die Heftchen jahrelang mit schöner Regelmäßigkeit ins Haus geflattert kamen und der Sammelplatz unter dem Fernseher irgendwann voll war, wurde das Abo gekündigt und der ganze Packen flog zum Altpapier.

Doch eine Geschichte daraus ist mir bis heute präsent, deren Titel ich zwar nicht erinnere, wohl aber den Inhalt. Ich nenne sie hier die Geschichte von der falschen Medizin. Und die geht so: Eine Mutter im Mittleren Westen hatte zwei Söhne. Natürlich war es eine Mutter aus einer amerikanischen Musterfamilie, denn so war das irgendwie immer im Digest. Man lebte in gesunder Umgebung auf dem Land, Papa brachte genug Geld heim, der Tisch war gut gedeckt und man lachte und freute sich des Lebens. Die Söhne spielten in ihrer Freizeit Baseball und brachten einigermaßen gute Noten heim. 

Eines Tages bemerkte die Mutter, daß der jüngere Sohn etwas blässlich wirkte, und über Müdigkeit zu klagen begann. Nun ist das bei Kindern nicht ungewöhnlich, daß sie immer wieder mal etwas fiebrig und angeschlagen sind, oder sie haben einfach zu lange an der Sonne gespielt. Doch weil sie eine gute Mutter war, ging sie mit dem Sohn zum Hausarzt. Dieser konnte nach Augenschein nichts Besonderes finden, empfahl Ruhe und gesunde Ernährung mit viel Vitaminen. Gerade Kinder im Wachstum bräuchten das. Und da bei den Mustermanns gelegentlich ein Krug mit frischem Orangensaft auf dem Esstisch stand, beeilte sich die Mutter, diesen ab sofort beständig nachzufüllen und den kränklichen Sohn anzuhalten, über den Tag immer wieder ein Glas davon zu nehmen.

Leider blieb die erhoffte Besserung aus. Der Junge wurde noch blasser, klagte über Kopfschmerzen, Appetitlosigkeit und begann immer häufiger der Schule fernzubleiben. Die beunruhigte Mutter beobachtete ihren Sohn jetzt noch genauer. Dem Ratschlag des Arztes folgend, schenkte sie dem Jungen nun noch häufiger den Orangensaft aus dem Krug ein. Es war die Zeit, als man Vitamin C wahre Wunderkräfte zuschrieb, und viele Schwächezustände auf Vitamin-C-Mangel zurückführte. Sie konnte also nichts falsch machen, und der Junge folgte und trank und trank.

Es half alles nichts, sein Gesundheitszustand verschlechterte sich weiter, und der Gang in eine Fachklinik wurde notwendig. Nach eingehenden Untersuchungen dann die völlig unerwartete Diagnose: Der Junge hatte eine Bleivergiftung! Niemand konnte sich darauf einen Reim machen. Das Gesundheitsamt schickte einen Mitarbeiter zu den Mustermanns, der akribisch untersuchen sollte, auf welchem Weg das Blei in den Körper des Jungen gelangen konnte. Die Ernährung konnte eigentlich nicht die Ursache sein, denn alle bekamen ja dasselbe Essen, gekocht aus besten Zutaten, hier würde man also nicht fündig werden, denn der Rest der Familie fühlte sich gesund. Eine andere Quelle für das Blei konnte im Haus aber zuerst nicht entdeckt werden.

Bis der Blick des Mannes vom Gesundheitsamt auf den Krug mit dem Orangensaft fiel. Es war ein besonders schöner, geerbter alter Keramikkrug, mit einem bunten Blumenmuster, das durch die Glasur besonders brillant wirkte. Er bat darum, den Krug zur Untersuchung mitnehmen zu dürfen. Das Ergebnis der Untersuchung war niederschmetternd: Der Krug hatte, was zu Vorzeiten nicht unüblich war, eine Bleiglasur. Und der säurehaltige Orangensaft hatte langsam, aber stetig, das giftige Bleioxid aus der Glasur gelöst. 

Es ist nicht überliefert, ob der Junge bleibende Schäden davontrug, auch wenn das Abstellen der Ursache natürlich von enormer Wichtigkeit war und sich sein Zustand verbesserte. Die Mutter aber fiel in eine Depression. Sie fühlte sich schuldig, trotz ihres Unwissens, denn sie war es, die immer und immer wieder den Krug gefüllt und den Jungen zum Trinken animiert hatte. Sie war überzeugt davon gewesen, die richtige Medizin zu haben, und wenn diese nicht wirkte, man eben die Dosis erhöhen müsse. Doch die Medizin war in Wahrheit das Gift, es war die falsche Medizin.

Diese Geschichte ist eine wunderbare Allegorie auf unsere Zeit. Um eventuellen Missverständnissen gleich vorzubeugen: Ich unterstelle nur sehr wenigen Menschen auf der Welt wirklich schlechte Absichten. Dies gilt auch für Politiker, oder die Wirtschaftseliten. Auch die Mutter wollte nur das Beste für ihr Kind. Die Wissenschaft (in Person des Arztes) hatte ihr einen vermeintlich wertvollen Hinweis gegeben, nach bestem Wissen und Gewissen der damaligen Zeit. Eine Zweitmeinung einzuholen schien also nicht nötig. Die Medizin wurde verabreicht, und wenn sie nicht wirkte, war die einzig mögliche Schlussfolgerung, die Dosis zu erhöhen.

Doch der Weg zur Hölle ist bekanntlich mit guten Absichten gepflastert. Der Lockdown wirkt nicht ‚die Zahlen‘ steigen trotzdem? Maßnahmen verschärfen, Lockdown verlängern! Strom wird durch massiven Ausbau der Erneuerbaren immer teurer, die Industrie wandert ab? Noch mehr Solar- und Windparks, Atom abschalten! Neubauten werden durch überbordende Bürokratie immer unattraktiver? Bauen durch Isolationspflicht und Heizungsgesetz noch teurer machen! Illegale Migration in die Sozialsysteme explodiert? Gute Versorgung für Alle! Bürgergeld für arbeitsunwillige Ukrainer!

So gerät man immer tiefer in die Falle der ‚Sunk Cost Fallacy‘, eines Verhaltensmusters, das zumindest jeder Börsianer kennt: „Die Sunk Cost Fallacy ist unsere Tendenz, etwas weiter zu verfolgen, in das wir bereits viel investiert haben (sei es Zeit, Geld, Mühe, emotionale Energie usw.), selbst wenn es eindeutig besser wäre, umzukehren.“ Und wenn sich als Folge dieser Denk- und Handlungsweise immer mehr Menschen, alleingelassen von Politik und Eliten, vom System abwenden? Brandmauer erhöhen! Demos gegen ‚Rechts‘! Es ist ‚unsere Demokratie!‘ – Nein, ist es nicht. Es ist unser aller Demokratie. Und sie gehört nicht denen, die einen vermeintlich gesunden Saft aus einem vergifteten Krug ausschenken. Und seien die Absichten auch noch so gut. 

Der Patient ist noch nicht tot, aber zunehmend vergiftet. Wenn sich unsere Gesellschaft als Ganzes dazu entschließt, diese Diagnose anzunehmen und sich den Ursachen zu stellen, wird der Patient nicht über Nacht gesunden. Einige Organe haben wohl schon bleibende Schäden davongetragen, vielleicht müssen sie sogar erneuert werden. Verschließen wir aber weiterhin die Augen, lehnen jede Zweitmeinung ab und schenken auf das bereits angesammelte Gift immer neues Gift nach, wird es kommen, wie es kommen muß.

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