Protokolle der Aufklärung #36
Mit der deutschen Justiz hat es im Großen und Ganzen seine Ordnung. So meint man jedenfalls. Doch kürzlich schreibt der SPIEGEL – wieder einmal(!) – „eine Geschichte über die Justiz, die daran scheitert zu erkennen, was wahr ist und was falsch“: Im sogenannten „Braunschweiger Justizskandal“ hat eine Staatsanwältin, durch die #me-too-Debatte stark beeindruckt und im Kopf dadurch offenbar völlig verwirrt, einen Prozess angeschoben, bei dem drei unschuldige Menschen zu langen Haftstrafen verurteilt wurden. Sie ist immer noch im Amt. Zumindest ein involvierter Richter hat sich für das Debakel entschuldigt – immerhin.
Die nahezu unfassbare Story, die der SPIEGEL zu diesem Vorgang recht ausführlich erzählt, ist kein Einzelfall. In regelmäßigen Abständen berichtet uns die Presse von Ähnlichem. In Worms z.B. sind sage und schreibe 25 Angeklagte verurteilt worden – für nichts und wieder nichts.
Irren ist menschlich, wie wir alle wissen, bei der Justiz aber mit dramatischen Folgen. Selbst beim Umgang mit ganz elementaren Rechtsbegriffen wird es mit der Wahrheitsfindung manchmal schwer. Lange gelang es z.B. den bundesdeutschen Verfassungsrichtern nicht, darüber einig zu werden, ob man Straßenblockaden verbieten oder erlauben soll.
Der Einfluss außergerichtlicher Instanzen
Immer mehr und immer häufiger gewinnen außergerichtliche Instanzen und Entscheidungsträger Einfluss auf das Gerichtswesen, obwohl Thomas Fischer, einer der ehemals obersten Strafrichter Deutschlands, dies herunterspielt. Vor allem „die Experten“ sind im Vormarsch. Oft nehmen sie, etwa als professorale Gutachter, den überforderten Richtern das Urteilen ab und erledigen deren Job quasi im Vorfeld.
Auch der Boulevard formiert sich immer selbstbewusster als Gerechtigkeitsinstanz – offenbar nicht ohne Einfluss auf richterliches Urteilen. Richter nehmen Vieles für bare Münze, was Ermittlungsbehörden und Öffentlichkeitsmeinung ihnen vorsetzen. Die peinlichen Berichte des legendären Strafverteidigers Rolf Bossi sind noch gut in Erinnerung. Und schon vor Jahrzehnten beobachtete der Erkenntnistheoretiker Gerard Radnitzky „eine gewisse Nähe zum Straßenpöbel“ bei den Gerichten.
All diese Dinge sind nicht erfreulich. Und es erhebt sich die Frage: Wie wird man Richter in der heutigen Gesellschaft und wer macht einen dazu?
Der normale Bildungsweg des Richters ist eine in sich geschlossene Schulkarriere: Vorschule („Kindergarten“), Grundschule, Oberschule, Hochschule. Ein Referendariat unterbricht diese Karriere kurzfristig. Dann folgen noch fachspezifische Schulungen. Richter wird nur, wer auf dieser Laufbahn Überflieger war. Die Obrigkeit hievt ihn dann ins Amt.
Man kann davon ausgehen, dass die Psychostruktur des Richters wesentlich von der Fahrt durch den Schultunnel geprägt ist, womöglich zusätzlich noch von der Fahrt durch den Medientunnel. So ist sein Blick auf die Realität oft ein Tunnelblick – durch Journaillenhysterie und „Experten“ leicht zu beeinflussen. Es erscheint fast als Wunder, dass es überhaupt noch gute Richter gibt. Aber es gibt sie – wider Erwarten.
„Unabhängigkeit“ der Staatsjustiz
Eine der größten Errungenschaften der Aufklärungsepoche war die im Anschluss an die Antike reaktivierte Erkenntnis, dass Gerichte beim Urteilen unabhängig und neutral sein sollen. Dazu gehört nicht nur ihre ideologische, sondern auch ihre existentielle Unabhängigkeit. Eine entsprechende Deklaration findet sich in der deutschen Bundesverfassung, und zwar im Artikel 97 (1) GG: „Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen.”
Die Unabhängigkeit soll übrigens auch bei der Konfliktschlichtung zwischen den Bürgern und ihrem Streitgegner „Staat“ möglich und absolut gesichert sein.
Nun gibt es zumindest im deutschen Rechtskreis eine Form von justizieller Abhängigkeit, die die Neutralität in Frage stellt. Unabhängigkeit der Justiz bedeutet hier: Halten sich die Richter an die von ihrem Ernährer aufgestellten Regeln, dann brauchen sie um ihr Auskommen nach erfolgter Festanstellung nicht mehr zu bangen – und auch um ihre Verhaltensnormen nicht.
Dem Einfluss „von oben“ unterliegen sie über die sogenannte Dienstaufsicht. Vorhalt, Ermahnung, Pensenschlüssel, Disziplinarrecht, Beurteilung durch die Vorgesetzten – in letzter Instanz durch den Justizminister – geben die Regeln vor, dem die Richterbeamten unterworfen sind. Spruchkammervorsitzende, Gerichtspräsidenten, Richterwahlausschüsse, Personalreferenten und letztlich auch hier wieder der Justizminister bestimmen, was richterliche Unabhängigkeit heißt.
Die Neutralität der Gerichte ist bei der derzeitigen Organisation des Rechtswesens pure Fiktion. Die Justiz ist Staatspersonal, das seine Amtsgeschäfte zur Zufriedenheit von Vorgesetzten erledigen muss – aller gegenteiligen Behauptung zum Trotz. Der Staat kann seine Richter immer dann in die Pflicht nehmen, wenn es ihm aus irgendeinem Grund in den Sinn kommt.
Die Kette am Fuße eines Richters ist zwar lang und man übersieht fast den Pflock, an dem sie festgemacht ist. Aber die Ankettung ist sicher und fest. Denn eine existentielle Abhängigkeit ist die haltbarste Kette, mit der man einen Menschen festbinden kann. Sowohl die Staatsanwälte als auch die Richter sind Günstlinge der Staatskasse. Insofern befinden sie sich in einer regelrechten Kombattantenrolle, ob sie das wahrhaben wollen oder nicht. Die oft gehörte Äußerung, erst die feste Staatsanstellung sichere die Unabhängigkeit der Richter, ist ein schlechter Witz.
Bei Beförderungen hat nur jeder vierte Richter eine Chance. Ein Aufstiegswilliger ist der Konkurrent des anderen. Auf die für das Hochkommen geltenden Maßstäbe wird der Aspirant sich einstellen müssen. Berühmt geworden ist der Satz des preußischen Justizministers Adolf Leonhardt, der gesagt haben soll: „Solange ich über die Beförderung bestimme, bin ich gern bereit, den Richtern ihre sogenannte Unabhängigkeit zu konzedieren.“
Wes Brot ich ess, des Lied ich sing. Am Kletterbaum der stufenweise dotierten Beamtenhierarchie muss das Lächeln, je höher die Sprossen, desto freundlicher sein. Wo ein Schlüssel zur Kasse ist, bilden sich Gefolgschaftsverhältnisse. Wer vom Hofe lebt, bildet den Höflingsgeist aus. So wird der Richter zum willigen Werkzeug des machthabenden Willens.
Bei solcher Gemengelage gehört viel Mut dazu, in der Rechtsprechung neutral zu sein. Kann dieser Mut bei jedem Richter und jeder Richterin unterstellt werden? – Die Angst um ihre bürgerliche Existenz wird sie dazu bringen, vor allem jene Rechtsverstöße, die vom Staat ausgehen, zu verschleiern. Vor allem bei deutschen Verfassungsgerichten ist dies immer wieder beobachtet worden.
Die systemische Korruption
Nicht nur sind die Richter aufgrund der Art ihrer Anstellung in einer exzeptionellen Abhängigkeit von der potentiellen Streitpartei „Staat“. Sie befinden sich auch in einer inneramtlichen Abhängigkeit. Darauf wurde schon früher – auch wieder vom SPIEGEL – im Anschluss an peinliche Fehlurteile aufmerksam gemacht. Dabei sind die Richter den Vorgaben der Staatsanwälte mehr oder weniger kritiklos gefolgt. Das Wochenblatt vermutet hier einen „Systemfehler“ im deutschen Recht.
Nun sind seitens des Deutschen Richterbundes Bestrebungen im Gange, den unwürdigen Status der Justiz zu beenden und eine eigenständige Verwaltung zu schaffen mit eigenem Kassenwesen. Die Bemühungen in diese Richtung sind jedoch bisher immer wieder durch das Parlament abgeblockt worden, so der Vorsitzende des Deutschen Richterbundes, Jens Gnisa.
Besonders bei seinen Verwaltungsgerichten und beim Bundesverfassungsgericht tritt der Staat quasi als Richter in eigener Sache auf – mit den entsprechenden Folgen (Murray Rothbard, Michael von Prollius, Hans Herbert von Arnim). Das kann man an den Urteilen dieser Gerichte ablesen. Weit über 90 Prozent der Urteile z.B. des höchsten deutschen Gerichts gehen zugunsten des Staates und zu Ungunsten der klagenden Bürger aus.
Wolfgang Müller meint sogar, dass das oberste Verfassungsgericht Deutschlands eine Art „Echokammer“ sei, in der zurückhallt, was von außen (dem Zeitgeist oder den „Anmahnern“ der politischen Klasse) hineingerufen wird. Die Obrigkeit bemüht sich zwar, möglichst honorige Persönlichkeiten für den obersten Richterjob zu gewinnen. Aber ohne ihr Votum tut sich nichts am Verfassungsgericht. Außerdem – so Müller – warteten in diesem Gericht die jeweiligen Chefs darauf, von den machthabenden Parteien eines Tages zum Präsidenten der Nation gekürt zu werden.
Das deutsche Justizsystem blieb im Grunde bis heute korrupt und zwar korrupt in dem Sinne, dass die Richter ihre Position und ihre bürgerliche Existenz einer Instanz verdanken, gegen die sie eventuell einmal angehen müssen. Vor diesem Hintergrund kann der Rechtsschutz, vor allem wenn man den Staat zum Gegner hat, zum Abenteuer werden.
Der Korruptionsvorwurf trifft nicht so sehr die einzelnen Richter, die das Geld unbesehen annehmen, das ihnen ihr Brotgeber monatlich als Gehalt überweist. Die Korruption ist systemisch. Sie besteht darin, dass Geld in die Taschen der Richter gelangt, das von einer Partei stammt, gegen die sie eventuell eines Tages entscheiden müssen. Der staatliche Justizapparat ist aufgrund seiner Systemkonstruktion in sich korrupt: Einer der potentiellen Konfliktgegner bezahlt die angeblich Unabhängigen und Neutralen.
Im Namen des Volkes?
Die Unabhängigkeitsforderung des Artikels 97 (1) GG ist bloße Augenwischerei. Es war zu erwarten, dass wegen des Versäumnisses der Verfassungsschöpfer, die richterliche Unabhängigkeit inhaltlich genau festzuschreiben, nachgeordnete Gesetzgebung (etwa das Deutsche Richtergesetz) die unerbittlichste Abhängigkeit der Justiz schuf: ihre Abhängigkeit vom Staat. Es sind die Staatsoberen, welche die bürgerliche Existenz der Richter sichern und die den Rahmen für alle ihre Entscheidungen zimmern.
Auch wenn dagegen von den Verantwortlichen immer wieder eingesprochen wird: „In unserem schwindsüchtigen System“, so Jens Gnisa, agieren Richter zweifelsfrei in der Rolle von Staatsangestellten. Insofern sind sie dem Staat (in Gestalt z.B. des Justizministers) persönlich verpflichtet und gewissermaßen ausgeliefert.
Fazit: Die jedes staatliche Gerichtsurteil einleitende Formel „Im Namen des Volkes“ ist bloße Attrappe. Der Richter, der sie bei der Urteilsverkündung spricht, ist weit weg vom Volk. Sowohl wirtschaftlich, als auch rechtlich und auch ideologisch ist er mit der Obrigkeit engstens verbunden. Die allenthalben gepriesene Rechtssicherheit der Bürger gegenüber dem Staat ist eine Fata Morgana. Auch die Existenz von Schöffen ändert an dieser Einschätzung nichts.
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