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Es gibt Gestalten in der Geschichte, die nicht nur ihre Epoche überragen, sondern auch aus ihr herauszufallen scheinen – als hätten sie sich ein Leben lang dagegen gewehrt, Teil einer einzigen Ordnung, einer einzigen Kultur, einer einzigen Idee zu sein. Sir Richard Francis Burton war einer dieser seltenen Menschen: ein Abenteurer, Sprachenkenner, Soldat, Fechtmeister, Diplomat, Frauenheld, Schriftsteller, Ethnologe, Übersetzer, Provokateur und Grenzgänger, der im viktorianischen Zeitalter immer wieder gegen dessen Normen rebellierte, obwohl er sie wie kaum ein anderer beherrschte.
Sir Richard war dabei kein „Widerständler“ im klassischen Sinn. Er führte keine Armeen, stürzte keine Regierungen, schrieb keine politischen Pamphlete; sein Widerstand war subtiler – und gerade deshalb umso wirksamer. Er widerstand der Uniformität, der Konformität, der Selbstgewissheit seines Zeitalters und zeigte, daß das Fremde nicht per se minderwertig sein muß, sondern oft genug ebenso reichhaltig wie das Vertraute; daß man Teil eines Systems sein kann, ohne sich von ihm gänzlich vereinnahmen zu lassen.
Der Weltmann
Geboren 1821 in Torquay als Sohn des britischen Offiziers Joseph Netterville Burton, wurde Richard Francis Burton früh mit dem Leben in fremden Ländern vertraut: Italien, Frankreich, Deutschland – der junge Richard sog die Sprachen und Kulturen jener Länder auf, als wären sie Bausteine für sein zukünftiges Ich. Bereits als Jugendlicher sprach er fließend Französisch, Italienisch, Griechisch und Latein, später sollten über dreißig weitere Sprachen folgen, darunter Arabisch, Persisch, Türkisch, Hindi und Swahili. Doch seine Begabung war nicht bloß intellektuell – sie war Ausdruck eines Willens zur Durchdringung, zur vollständigen Aneignung des Fremden, nicht um es zu unterwerfen, sondern um gewissermaßen darin zu verschwinden und sich neu zu erschaffen.
Nach dem Studium am Trinity College in Oxford, das er wegen Disziplinlosigkeit abbrechen mußte, trat Burton 1842 in die Dienst der „British East India Company“ und wurde nach Bombay entsandt. Bereits seine Zeit als Offizier in Britisch-Indien offenbarte Burton als doppelten Grenzgänger: Als loyaler Soldat diente er dem Empire, doch als Mensch suchte er das Abenteuer, das Wissen und die Erfahrung jenseits der Grenzen seiner Uniform. Er studierte hinduistische Philosophie, nahm an lokalen Riten teil, lernte Persisch, Hindustani, Arabisch, ließ sich in geheime Kulte und Gesellschaften einweihen – und erlebte zahllose Liebschaften.
Sein Blick war immer zugleich von innen und außen – er beschrieb Kulturen nicht aus der Distanz, sondern als jemand, der sich in sie hineinzuleben versuchte, auch wenn ihm dies die dauerhafte Feindschaft vieler Waffenbrüder eintrug, die ihm vorwarfen, zum „native“ geworden zu sein.
Abenteurer, Außenseiter, Diplomat
Berühmt wurde Burton insbesondere durch seine verkleidete Pilgerreise nach Mekka im Jahr 1853, die er als „Scheich Abdullah“ unternahm – ein Unterfangen, das für Nicht-Muslime eigentlich mit dem Tode bestraft wurde. Burtons Bericht „Personal Narrative of a Pilgrimage to Al-Madinah and Meccah“ (1855) machte ihn international bekannt und wurde wohl auch eines der wichtigsten Vorbilder für Karl Mays spätere Orient-Romane und die Figur des Kara ben Nemsi.
Auch in Afrika sollte Burton Geschichte schreiben: Mit dem Entdecker John Hanning Speke begab er sich 1856–1859 auf eine Expedition zur Entdeckung der Nilquellen im ostafrikanischen Hochland. Die Reise, die sie unter anderem nach Tanganjika (heutiges Tansania) führte, war geprägt von extremen Strapazen und endete zudem in bitterer persönlicher Feindschaft: Während Speke den Victoriasee als Quellgebiet des Nils reklamierte und sich öffentlich feiern ließ, blieb Burton der Zweifler und kritische Analytiker – ein Außenseiter in der britischen Gesellschaft. Der öffentliche Disput gipfelte tragisch in Spekes Suizid am Vorabend einer gemeinsamen Debatte 1864.
Burton war auch ein bedeutender Übersetzer orientalischer Literatur. Seine berüchtigte, vollständige Übersetzung der Geschichten aus 1001 Nacht („The Book of the Thousand Nights and a Night“, 1885) wurde durch zahlreiche detaillierte Anmerkungen zur erotischen Tradition des Orients berühmt; und auch seine Übersetzung des indischen „Kama Sutra“ (1883) sorgte im prüden viktorianischen England für großes Aufsehen; beide Werke veröffentlichte er daher auch vorausschauend über die von ihm gegründete „Kama Shastra Society“, um der Zensur zu entgehen.
Als Diplomat war Burton in mehreren britischen Konsulaten tätig: Fernando Po (heute Bioko, Äquatorialguinea) ab 1861, Santos (Brasilien) ab 1865, Damaskus von 1869 bis 1871 und schließlich, seit 1872, Triest; eine Stellung, die Burton zahlreiche Reiseaktivitäten ermöglichte, aber eine Art karrieretechnisches Abstellgleis war, nachdem er in Damaskus aufgrund seiner kompromißlosen Berichte zur politischen Lage und seines zu großen Verständnisses für die einheimische Bevölkerung in Konflikt mit britischen Interessen geraten war – ein steter Begleiter seines diplomatischen Werdegangs.
Offenheit und Selbstbehauptung
Burton starb 1890 in Triest. Seine Frau Isabel, selbst eine faszinierende Persönlichkeit, die ihren Mann auf zahlreichen abenteuerlichen Reisen begleitet hatte und ihn trotz seiner anglikanischen Herkunft und seiner großen Sympathien für den Sufi-Islam für den Katholizismus gewinnen konnte, verbrannte nach seinem Tod viele seiner Manuskripte aus Sorge, sein nachgelassenes Werk könne als zu anstößig gelten – ein Akt der Zensur aus Liebe, und gleichzeitig auch ein Symbol für das Unverständnis, das Burton sein Leben lang begleitete: Bis heute sind viele seiner Werke nur antiquarisch, in Teilauflagen oder zensierten Fassungen bekannt.
Doch der Mythos überlebte. Burtons Verständnis des Islam, seine tiefgehenden Studien zu Sufismus, Sexualität, Esoterik und Mythologie machten Burton zum Gegenentwurf jener imperialen Selbstgewissheit, die den Anderen nicht verstehen, sondern nur katalogisieren wollte. Für Burton aber war das Fremde nicht Objekt, sondern Subjekt – ein gleichwertiges Gegenüber, ja manchmal sogar ein Lehrer. Seine Haltung war dabei allerdings nie durch naive Idealisierung geprägt (hatte er doch auch für die vielfältigen Mängel Afrikas und des Orients stets einen wachen Blick und unzählige sarkastische Anmerkungen parat), sondern durch Neugier und Sympathie.
Sir Richard Francis Burton wurde somit rasch zur Figur der Literatur, zum Helden des Geistes, zum Wanderer zwischen den Welten. In einer Zeit, die sich gerne hinter den prächtigen historistischen Fassaden geborgter Vergangenheit versteckte, lebte er die Unruhe des Wissens, das Staunen des Kindes, das in allem eine Frage und keine Antwort sieht. Er war ein Mann der Ambivalenzen: Mitglied der „Royal Geographical Society“ und ihr schärfster Kritiker; Ritter des Empire (eine überaus späte Ehre) und doch voller Zweifel an dessen Mission: Verteidiger britischer Interessen und doch ein unermüdlicher Vermittler der Kulturen. In dieser Spannung und inneren Zerrissenheit lag seine eigene Wahrheit: Ein Reisender ohne Heimkehr; und gerade dadurch bis heute ein Zeitloser.
Was aber können wir Heutigen aus dieser Vita lernen? Immer mehr Europäer gefallen sich angesichts der durchaus realen Bedrohung von Massenmigration, Überfremdung und Islamisierung in der Rolle von unerbittlichen Kulturkämpfern, die die gegenwärtige Situation dadurch überkompensieren, daß sie die eigene Identität nicht nur als schützenswert per se verteidigen, so wie eben alle Identitäten in ihrem jeweiligen Kontext ein Überlebensrecht besitzen, sondern gleichzeitig auch als den anderen überlegen herausstreichen. Dies mag psychologisch verständlich sein – wer um sein Überleben kämpft oder es zu tun glaubt, hat kaum Zeit und Lust zur Mäßigung –, ist aber, bei Lichte betrachtet, kontraproduktiv, denn es setzt eine Spirale der gegenseitigen Ablehnung in Gang, die vielleicht kurzfristig die nötigen Energien zum eigenen Widerstand freimacht, langfristig aber einen Zivilisationskampf noch verschärft, der uns durchaus überwältigen könnte.
Auch hier kann Richard Burton durchaus ein gewisses Vorbild sein: Ohne doch je an seinen patriotischen Pflichten irre zu werden, hat er bis zum Ende die geistige Größe besessen, Freund wie Feind mit Neugierde und Offenheit zu begegnen und jede der angetroffenen Kulturen und Gesellschaften nach ihrem eigenen Maßstab zu bewerten, anstatt sich in oberflächlichen, notgedrungen rein quantitativen Vergleichen zu verlieren.
Der Kampf um das Eigene, wenn er langfristig siegreich bleiben will, darf zwar sehr wohl alle Energien mobilisieren, die aus dem Recht auf Selbstverteidigung und das Ringen um Chancengleichheit entspringen, sollte aber eher auf der berechtigten Liebe zur eigenen Tradition gründen als auf dem Haß auf die Zivilisation der anderen.
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