Wirtschaft, Horatio, Wirtschaft!
Obwohl der Titel dazu verleiten könnte, handelt es sich im Folgenden nicht um einen Roman von Louis Aragon, sondern um die großen Veränderungen in der Welt, die ich in meinem Buch „Die Zukunft gestalten wir. Wie wir den lähmenden Zeitgeist endlich überwinden“ grob skizziert hatte: In der Hauptsache durchleben wir einen grundsätzlichen Paradigmenwechsel, wie ihn Europa im Übergang von der Spätantike zum Mittelalter und vom Spätmittelalter zur Neuzeit vollzogen hatte.
Wendet man den Begriff des Paradigmas als Beschreibung einer Gesellschaftsepoche, ganz allgemein für einen längeren Zeitabschnitt in der Geschichte der Menschen an, um Konstanz und Veränderung zu beschreiben, dann umfasst ein Paradigma die grundsätzlich allen Menschen gemeinsamen Vorstellungen von der Beschaffenheit der Welt und der Gesellschaft, der verbindlichen Normen und Werte, der Akzeptanz der Legitimität, der Glaubensinhalte und letztlich, was oft vergessen wird, einer gemeinsamen Ontologie, die ihre Ausprägung in der Vorstellung von Subjekt und Objekt findet.
Die einfachste Konsequenz der ontologischen Frage findet sich in der Bestimmung des Verhältnisses des Staatsbürgers zum Staat. Paradigmen stellen ein System von Normen und Übereinkünften dar, die Gesellschaft erst ermöglichen. Kennzeichnete den Beginn der Neuzeit – ich will mich hier nur pars pro toto auf einige, wenige Kennzeichen beschränken – die großen geographischen Entdeckungen, die Entdeckung des Individuums, wodurch das Subjekt eine Uminterpretation als Handlungstreiber erfuhr, den Übergang von der Bild- zur Schriftkultur durch den Buchdruck mit beweglichen Lettern und der Wissensgesellschaft, erleben wir nun den Menschen im Zeitalter seiner technischen Reduplizierbarkeit, die Entdeckung einer neuen, diesmal der virtuellen Welt, der Übergang von der analogen zur digitalen Gesellschaft, von der Wissensgesellschaft zur Informationsgesellschaft.
Objektiv betrachtet bedeutet das, dass sich die verschiedenen Kräfte bewusst oder unbewusst diesen Veränderungen stellen, Interpretationen anbieten und Handlungsoptionen durchsetzen müssen. Die politischen Kräfte unterscheiden sich nun darin, ob sie die Veränderungen in der Welt richtig einschätzen, ob sie überhaupt die Wirklichkeit zur Kenntnis nehmen oder in ihren Ideologien und/oder Privilegien gefangen sind, knapp formuliert, ob sie sich realistisch oder reaktionär zu den Veränderungen verhalten. Die politischen und wirtschaftlichen Konsequenzen bestehen darin, dass die einen Mächte aufsteigen, die anderen absteigen, welthistorisch gesehen nichts Neues. Letztlich handelt es sich um die große Frage, ob wir gestalten oder ob wir gestaltet werden. Oder in Goethes Worten:
Geh, gehorche meinen Winken,
Nutze deine jungen Tage,
Lerne zeitig klüger sein:
Auf des Glückes großer Waage
Steht die Zunge selten ein;
Du mußt steigen oder sinken,
Du mußt herrschen und gewinnen,
Oder dienen und verlieren,
Leiden oder triumphieren,
Amboß oder Hammer sein.
Deutschland wird von einer classe politique beherrscht, die weder die Zeichen der Zeit verstanden hat, noch verstehen will oder kann, eine classe politique, die unbeeindruckt vom historischen Geschehen ihre politischen Hinterzimmer-Spielchen treibt und sich in Berlin-Mitte in Neu-Versailles wähnt. Besonders die Grünen glauben daran, eine neue Aristokratie der Bessermenschen zu bilden. Nicht mehr die Geburt begründet das Adelsprivileg, sondern die möglichst bildungsferne Gesinnung mit einem gewissen Maß intriganter Fähigkeiten, wie die Affäre Gelbhaar belegt. In ihrer Verkennung der Wirklichkeit sind Grüne und Sozialdemokraten reaktionär, indem sie tatsächlich glauben, die totalitären Utopien und Ideologien von gestern seien die Rezepte für morgen. Wenn Grüne und Sozialdemokraten von Zukunft sprechen, stellen sie auf eine Zukunft ab, die nicht nur längst vergangen ist, sondern sich historisch kompromittiert und falsifiziert hat.
Um die Union steht es letztlich nicht besser, weil sie sich den Grünen und Sozialdemokraten unterwirft. Ihr politisches Gefängnis heißt Brandmauer. Von aller höchsten, allerdings schaurigen Witze ist, dass die Union nicht laut und oft genug verkünden kann, dass ihre höchste Pflicht darin besteht, selbst die Wächter des Gefängnisses zu stellen. Die erste christdemokratische Tugend besteht darin, den Brandmauerschutz persönlich zu übernehmen, womit die Union nolens volens die These bestätigt, dass der von ihr zwar geforderte Politikwechsel nota bene nur mit einem Wechsel der Politiker zu beginnen vermag.
Die letzte Woche bot dem überraschten Beobachter das Bild einer noch farcierten Farce, zu der man einzig in Neu-Versailles noch in der Lage ist, zum Leben des Politikers nach dem Tod der Politik.
Vor anderthalb Wochen präsentierte Friedrich Merz seinen Fünf-Punkte-Plan zur Migration. Der CDU-Vorsitzende setzte sich endlich in Bewegung und beendete seine parlamentarische Arbeitsverweigerung, die er im November meinte, damit schönreden zu können, dass er keine „Zufallsmehrheiten“ provozieren wollte. Die Vorstellung von „Zufallsmehrheiten“ erregte entweder Kritik oder Spott, zuweilen auch beides.
Auf TE fragte ich: „Warum benötigt Friedrich Merz eine entsetzliche Bluttat wie den Anschlag in Aschaffenburg, um Tätigkeit vorzutäuschen? Warum nicht am Tag des Bruchs der Ampel-Koalition? Statt den heillos opportunistischen und gründevoten Unfug der Zufallsmehrheiten zu verzapfen, hätte Merz allerspätestens vom Tag des Ampelbruchs an, Anträge mit Blick auf die drängenden Probleme wie Migration, Wirtschaft, Energie in den Bundestag einbringen können mit der richtigen Begründung: Ich gucke nicht rechts und nicht links. Ich gucke in den Fragen der Sicherheit der Menschen in diesem Land nur noch geradeaus. Doch geradeaus schaut Merz nur nach unten zu seinem Pelz, den er sich zwar reingewaschen, aber nicht nassgemacht wünscht.“ Um zu dem Schluss zu kommen: „Die Brandmauer fällt nicht. Merz kratzt nur ein wenig am Putz.“
Doch Merz wäre nicht Merz, wenn er nicht gleichzeitig die Brandmauer de jure aufrechtzuerhalten gedenkt und sie de facto für einen nur allzu kurzen Ausflug ins Freie de facto zu verlassen. Deshalb sorgte er in dem Interview mit der Heilbronner Stimme vor einer Woche für Verwirrung, als er verkündete, dass die AfD die Anträge nicht bekäme: „Es bekommen die ehemaligen Ampel-Fraktionen die Texte von uns mit der ausdrücklichen Bitte, darüber über das Wochenende zu sprechen und den Versuch zu unternehmen, in der nächsten Woche hier eine gemeinsame Entscheidung zu treffen.“
Angesichts der Ereignisse von Solingen, Magdeburg und Aschaffenburg entbehrten die spätbyzantinischen Spielchen des Friedrich Merz jeder Würde. Doch Merz konnte aus zwei Gründen nicht mehr zurück, zum einen, weil er in Davos den anderen, wie Larry Fink von BlackRock, zugehört, im Gegensatz zu Robert Habeck, der in Davos nur sich selbst ergriffen gelauscht hatte, zum anderen hätte er blamiert bis auf die Knochen dagestanden und den Wahlkampf der Union damit de facto beendet.
Am Mittwoch der vergangenen Woche brachte Merz seinen Fünf-Punkte-Plan als Entschließungsantrag in den Bundestag ein und bekam ihn mit der Hilfe der FDP und der AfD durch, obwohl Merz als Lordsiegelbewahrer der Brandmauer eine Präambel in den Antrag schreiben ließ, der die AfD daran hindern sollte, dem Antrag zuzustimmen. Die AfD stimmte zu und entlarvte Merzens spätbyzantinische Spielereien.
Doch während am Donnerstag ein von Grünen und Sozialdemokraten aufgehetzter Mob Bürgerbüros der CDU, Mitglieder und Angestellte der CDU angriff, vergnügte sich Friedrich Merz ganz fidel mit Annalena Baerbock in Anwesenheit von Jens Spahn, Katrin Göring-Eckardt und Cem Özdemir auf Einladung von Armin Laschet in dessen Berliner Wohnung beim Wein. Nun könnte man spotten, dass Armin Laschet so eine Art Dauerkarnevalskanone im Wahlendspurt ist, mal lacht er an der richtigen Stelle, mal spielt er zur richtigen Zeit den politischen Kuppler zwischen Baerbock und Merz zu einem fröhlichen Schwarz-Grün-Alaaf. Auf alle Fälle amüsierten sich Merz und Baerbock auf einer Rasenbank im Schatten der Brandmauer im giardino segreto der neuen Aristokratie.
Merz steht Baerbock näher als seinen Wählern, näher auch als vielen seiner Parteifreunde an der Basis. Es bleibt dabei und es wurde gerade wieder durch Friedrich Merz bestätigt, dass, wer schwarz wählt, grün bekommt – in welcher Konstellation auch immer, ob schwarz-grün, schwarz-rot oder schwarz-rot-grün. Mache sich niemand etwas vor, die Brandmauer steht fester denn je. Denn die Brandmauer ist das Bollwerk der Herrschaft der Eliten. Und „Eliten“ sind sie alle.
Seit Donnerstagabend weiß das ganze Land: Es bedarf für diese schwarz-grüne oder schwarz-rot-grüne Koalition keines Hendrik Wüsts, denn Friedrich Merz würde selbst den Hendrik Wüst geben – und das mit Freuden. Zwischen den beiden Herren besteht kein Unterschied.
Kurz vor der Abstimmung über das Zustrombegrenzungsgesetz im Bundestag am Freitag erklärte die FDP, dass sie die Abstimmung verschieben und zur Beratung in den Innenausschuss zurücküberweisen will. Die Union beantragte daraufhin eine Unterbrechung der Sitzung, um sich zu beraten. Man muss dazu wissen, dass das Gesetz im Innenausschuss bereits behandelt worden war. Ferner muss man wissen, dass Friedrich Merz mit dem Versuch, sich mit den Grünen und der SPD zu verständigen, gescheitert ist. Die SPD forderte inzwischen von der Union, dass sich die Union dafür entschuldigten solle, dass sie zur parlamentarischen Demokratie zurückzukehren gedachte. Doch Merz hatte keine andere Wahl mehr, als sich darin durchzusetzen, dass die Abstimmung stattfindet.
Um 13.30 Uhr führten Merz, Mützenich und Dürr noch ein Krisengespräch, das aber zu nichts führte. Dürr wollte seiner gespaltenen Fraktion vorführen, dass er alles unternimmt, um die Abstimmung zu verhindern – er wusste warum. Alle Gespräche führten zu nichts. Um 12:58 Uhr kündigte Kubicki die Zustimmung der FDP an. Mit erheblicher Verspätung fanden dann Debatte und Abstimmung statt. Das Gesetz scheiterte knapp an einer Handvoll Merkelianer, die ihre Stimme nicht abgaben, sondern sich bildlich gesprochen in die Büsche schlugen, wie Held Roderich Kiesewetter in schimmernder Wehr, vor allem aber an der FDP.
Die einzig entscheidende Frage aber, mit wem die Union ihren „Politikwechsel“ durchsetzen will, beantwortet Friedrich Merz nicht. Denn mit denen, mit denen er diesen Politikwechsel in Gesellschaft, Migration und Wirtschaft durchsetzen kann, will er es nicht, und mit denen, mit denen er diesen Politikwechsel in Gesellschaft, Migration und Wirtschaft nicht durchsetzen kann, will er. Die Konsequenz von Merzens spätbyzantinischem Brandmauerspiel jedoch gipfelt in einem Paradoxon: Deutschland sitzt in der Falle einer „Elite“, die hoffnungslos selbstbezogen nur noch damit beschäftigt ist, ihre Macht und ihre Privilegien abzusichern. Noch schlummert Deutschland in der Merkel-Ära.
Dass Friedrich Merz eine Änderung in der Migrations- und Wirtschaftspolitik fordert, ist so mutig, wie es in Deutschland den Anschein hat, auch nicht, denn die Richtung wurde ihm in Davos gewiesen. Die Finanzwirtschaft, die großen Hedgefonds und gewichtigen Geschäftsbanken ziehen sich aus der grünen Blase zurück, bevor sie platzt, und investieren in eine neue Blase, in die KI. KI ist die neue Blase.
Am 15. Januar äußerte sich der Chef von BlackRock in Davos: „Larry Fink, CEO von @BlackRock, sagt, dass Industrienationen mit „fremdenfeindlicher“ Einwanderungspolitik einen höheren Lebensstandard haben werden als je zuvor. Nicht-fremdenfeindliche Länder werden mit ihren neuen Einwanderern aus der Dritten Welt soziale Probleme bekommen.“
Larry Fink stellte einen Zusammenhang her zwischen Wohlstand, Wirtschaft auf der einen und Migration auf der anderen Seite, sogar zwischen Migration und KI. Der Präsident des Weltwirtschaftsforums, Borge Brende, äußerte nicht zufällig gerade jetzt in einem Interview mit dem Handelsblatt: „Wir befinden uns zwischen Weltordnungen. Das sind normalerweise sehr unruhige Zeiten.“ Denn: „Die Zusammenarbeit wird immer mehr rein auf nationalen Interessen basieren.“
Was Friedrich Merz, der Held, macht, ist also nichts anderes, als der neuen Weltordnung zu folgen, die in Davos verkündet wird. Doch die deutsche Politik, auch Friedrich Merz, hat hinter ihrer Berliner Brandmauer in Neu-Versailles nicht begriffen, in welcher Dimension von Veränderungen sie dilettieren. Bei Louis Aragon endet der Reisende der Oberklasse im Elend, in Deutschland aber die Bürger.
Oder wie Franz Kafka vor 100 Jahren schrieb und damit die deutsche Elite von Neu-Versailles gemeint haben könnte: „Er läuft den Tatsachen nach wie ein Anfänger im Schlittschuhlaufen, der überdies irgendwo übt, wo es verboten ist.“