Die Scheiterhaufen der Moderne

Ideologien, Dogmen und Weltanschauungen gibt es, seit der Mensch den aufrechten Gang erlernt hat und es ihm dadurch möglich wurde, auf der Basis dieser neu erlangten buchstäblichen Horizonterweiterung seine je eigenen Gedankenwelten zu bilden. Die Fähigkeit zur Aggression, zum Kampf (oder zur Flucht) stecken ihm ohnehin seit Anbeginn des höheren Lebens in den Genen. 

Die besagte Horizonterweiterung, die neu entstehenden Gedankenwelten und die Ideen-Entwicklungen sowie die urtümlichen Emotionen gehören also untrennbar zusammen. Auch wenn heute der redliche Intellektuelle und der sauber argumentierende Vernunftmensch immer versucht (oder es zumindest versuchen sollte), im rationalen Diskurs die Gefühle exakt von den präzisen Gedanken zu trennen – die gemeinsame Wurzel von beidem bleibt, weil es den emotionslosen Menschen nicht gibt. 

Da diese Trennung von Ratio und Emotio eben längst nicht immer sauber gelingt und weil sich seit der frühen Antike oder sogar schon davor die Ethik und die Moral zwischen die Ratio und die Gefühlswelt gedrängt haben, erleben wir seit dem Entstehen komplexer sozialer Strukturen wie Sippen, Stämme, Völker und später noch höher organisierter Einheiten wie Staaten und Nationen einen ständigen Kampf der Weltanschauungen und Ideologien. 

Die Sicht auf die Welt wird ja nicht nur vom Standort, sondern auch durch die jeweilige Kultur, die ökonomischen Bedingungen und die je herrschenden Geisteshaltungen bestimmt. Und immer kommt aufgrund der weltweit zu beobachtenden jahrtausendelangen Entwicklung sittlicher Codices auch eine so bekannte wie unerfreuliche menschliche Eigenschaft hinzu: die Heuchelei bzw. das Pharisäertum. Diese Eigenschaft beeinflusst überall das Denken und macht auch vor der Intellektualität nicht halt. 

Mit der Entwicklung des Bewusstseins und der Intelligenz, die sich unweigerlich mit den archaischen und angeborenen Eigenschaften des Menschen wie der Fähigkeit zur Aggression und den anderen fundamentalen Gefühlen (wie Angst, Geltungsdrang etc.) paaren mussten, begannen in der Urzeit auch die Überlegungen zum prinzipiellen Sinn und Zweck des Daseins. Älteste archäologische Funde bestätigen, dass schon der frühe Homo sapiens die Fähigkeit zur Transzendenz und zur Abstraktion besaß. Damit war auch der Boden zur Entstehung erster religiöser (also de facto ideologischer) Gedankengebäude bereitet. 

Nun sag‘, wie hast du’s mit der Religion?

Die Religionen stellen die Prototypen ideologischer Strömungen dar und sie beanspruchen aufgrund ihres transzendenten und auf reiner Glaubensbasis beruhenden Charakters auch stets die alleinseligmachende Wahrheit. Nach unserem heutigen, allgemeingültigen westlichen Konsens ist das auch legitim und in unserer Welt gesteht man dem Einzelnen daher auch die Religionsfreiheit zu. Ebenso ist der westliche Mensch zumindest nach den Buchstaben der verschiedenen Verfassungen und Grundgesetze im Rahmen der Gesetze frei, seine politische Haltung bewusst zu wählen.

Allerdings birgt der immanente und ebenso wahrheitsbeanspruchende wie unverrückbare Charakter jeder Religion auch immer den Kern des Totalitären in sich. Diese in gewisser Weise fatale Grundeigenschaft von Religionen wurde und wird mühelos von praktisch allen politischen Ideologien übernommen. Jede Ideologie fußt auf einem Gedankengebäude, das in seinem Kern wiederum einerseits auf rationalen Gedanken, andererseits auf emotionalen Fundamenten beruht. 

Das macht jede Ideologie letztlich zu einer totalitären Geisteshaltung, weil es aus keiner der  facettenreichen ideologischen Zwickmühlen des jeweiligen Rechthaben-Wollens, des Glaubens, der Überzeugungen und der nie bis zum Ende rational argumentierbaren Richtigkeit ihrer selbst kein Entrinnen gibt. Man nennt freiheitlich orientierte Ideen-Konvolute daher gerne Weltanschauung statt Ideologie, weil der Begriff „Ideologie“ prinzipiell als einengend verstanden wird – aber auch die liberalste Weltsicht bis hin zum libertären Gedankengebäude stößt irgendwann an ihre Grenzen, so ehrlich muss man sein.

Um dieses Dilemma aufzulösen, haben sich zahllose Religionsgründer, Philosophen, Ideologen, Revolutionäre und unzählige sonstige Geistesgrößen schon ihre Köpfe zerbrochen – bis heute ist es aber nicht gelungen, eine politische Ideologie oder eine Religion als rational begründbar oder unwiderlegbar und allgemeingültig zu belegen. Am Ende bleibt alles eine Glaubensfrage, an der sich stets und immer wieder die Geister scheiden und die Gemüter erhitzen und oft sogar entzünden.

Stichwort „Entzünden“: Mit diesem Begriff sind wir schon bei dem im Titel angesprochenen Scheiterhaufen. Dieser ist das Symbol der Vernichtung des Ketzertums und somit auch ein Sinnbild dafür, was eine Religion (=Ideologie mit absolutem Wahrheits-Anspruch) im Namen des Guten anrichten kann. Ein Ketzer musste im Zeitalter der Inquisition und der öffentlichen Verbrennungen gar kein schlechter oder böser Mensch oder ein Verbrecher sein. Es reichte oft schon aus, als Zweifler am herrschenden Dogma aufzutreten. 

Wer zweifelte oder widersprach, der machte sich schuldig – und wer in den Augen der Mächtigen schuldig war, der konnte schnell auf dem brennenden Holzstoß landen. Die Urteile in den Ketzerprozessen waren meist rasch gesprochen und immer mit der damals herrschenden offiziellen religiösen Moral begründet. Man brauchte längst nicht in jedem Prozess profunde Beweise, es genügte meist schon, wenn etwa der Nachbar oder ein „Zeuge“ bestätigte, dass der Delinquent diese oder jene ketzerische Aussage getroffen hätte. 

Manchmal war es auch Motiv genug, an einem unangenehmen, aber bekannten Zeitgenossen ein Exempel statuieren zu wollen – siehe Galileo Galilei: Das Entkommen vor dem Scheiterhaufen war ihm nur möglich, weil er seine Theorien widerrief und sich der Macht beugte. Jedenfalls aber waren die Reputation, das Ansehen und der Einfluss zunächst einmal offiziell dahin. Galileo ist aber auch Beispiel dafür, was aus einem verfemten Ketzer werden kann – der Mann gilt heute als Genie und einer der größten Geister der Menschheit.

Am gefährlichsten für die Herrschenden waren jene Ketzer, denen andere Leute folgten, weil ihre „ketzerischen“ Sichtweisen um so viel glaubwürdiger und authentischer oder einfach nur sympathischer waren als die um jeden Preis aufrecht zu erhaltenden Dogmen der Mächtigen. (Dafür wiederum kann etwa Jan Hus als Beispiel gelten.)

Brenne, Scheiterhaufen, brenne!

Vor 500 Jahren hat man die Ketzerei bekämpft, indem man die Ketzer auf grausame Art und Weise zu Tode brachte. Die massenweisen Verbrennungen gibt es zu Glück heute nicht mehr, unsere Zivilisation ist zumindest in diesem Bereich zum Besseren fortgeschritten und durch die Säkularisierung ist es in unseren Breiten nicht mehr möglich, aus religiösen Gründen an Leib und Leben von Staats wegen bedroht zu werden. 

Aber natürlich gibt es noch die Ketzer und die Ketzerei. Heute meint man mit diesen Begriffen jedoch vor allem Menschen, die bestimmte moralgetränkte politische Haltungen kritisieren oder die allseits bekannten und durch den Mainstream vermittelten Dogmen des Zeitgeists in Frage stellen. Gendern, Gleichheitsmanie, politische Korrektheit oder das Covid-Thema sind typische Beispielbereiche, in denen es hüben vor Ketzern und drüben vor systemkonformen Heuchlern nur so wimmelt. Und natürlich wollen die Herrschenden, ihre politisch akkreditierten Meinungsmacher und ihre medialen Schergen auch die moderne Form der Ketzerei bekämpfen und die unliebsamen Akteure zum Schweigen bringen. 

Der Ketzer von heute wird aber nicht auf einem Scheiterhaufen aus Holz, sondern auf einem in den Medien aufgestellten Nachfolge-Modell „verbrannt“. Diese Art der Verbrennung hat auch einen neuen Namen: sie nennt sich Shitstorm und stellt eine oft gelenkte Kampagne dar, die von den Politikern mit der „richtigen“ Meinung und deren oben genannten Schergen im wahrsten Sinn des Wortes befeuert wird. 

Diffamierung, Diskreditierung und Delegitimierung qua persönlicher Anpatze sind der Zündstoff, aus dem die neuen Scheiterhaufen sind – und sie brennen in den sozialen wie in den traditionellen Medien gleichermaßen lichterloh, wenn sie einmal entzündet sind. Sie haben auch im Vergleich zu den alten Scheiterhaufen einen unschätzbaren Vorteil: Man kann sie immer wieder aufs Neue entfachen und auch den Ketzer immer wieder aufs Neue verbrennen – so lange, bis sein Ruf und seine Reputation nachhaltig beschädigt und geradezu verkohlt sind. Dieser Schaden ergibt dann paradoxerweise neues Futter für die Flammen, denn jeder Shitstorm bereitet den Boden für den nächsten. Allerdings: Wenn der Ketzer recht hat und genügend Überzeugungskraft und Standfestigkeit besitzt, dann kann er langfristig aus diesem Feuer gestärkt hervorgehen, die Feuerstelle wird ihm dann zur Schmiede. Diesen mühevollen Weg bis zur Rehabilitation schaffen aber längst nicht alle, die meisten bleiben von den Flammen angeschwärzt. 

Wir haben also mit diesem Scheiterhaufen der Moderne ein breitenwirksames und nie versiegendes Feuer zur Hand, mit dem die Menschen alle ihre eingangs beschriebenen archaischen Gefühle, ihre Aggressionen, ihre Ideologien und hypermoralischen Rechthabereien ohne Pause und ohne Ende ausleben können. 

Somit sind wir mehr als 200 Jahre nach der Aufklärung mit unserer Ankunft im Medienzeitalter wieder hinter die Aufklärung zurückversetzt worden und können ganz offen in Ressentiment, Denunziationsgelüsten, übler Nachrede und ideologisch-irrationaler Denke unsere niedersten Triebe ausleben – noch dazu belohnt vom Mainstream, gern gesehen vom Zeitgeist und ausgestattet mit einer Dauer-Aufenthaltsbewilligung im Juste Milieu. 

Die Überwindung dieses unschönen Status quo kann nur gelingen, wenn der „Ketzer“ den Scheiterhaufen als das sieht, was er im Medienzeitalter ist: Ein virtuelles Strohfeuer, das ihm im Grunde nichts anhaben kann, wenn er bei der unbeirrten Wahrheitssuche, bei der gesunden Skepsis und bei der intellektuellen Redlichkeit bleibt.

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2 Kommentare. Leave new

  • Hermann-Josef Merting
    8. November 2022 10:45

    Religion ist das Gegenteil von Ideologie. Aber sicher nur dann, wenn Gott ist.

    Antworten
  • Haberfeldtreiber
    21. November 2022 19:53

    … gehört zur Rezeptur für FASCHISMUS, der zwar nicht politisch ist, doch die Politik ist letztendlich dahingehend ausgerichtet. Denke man da nur an den „Klub-Zwang“ in den Parlamenten
    Zweitausend Jahre auch schon das Mea Culpa, Mea Culpa, Mea Maxima Culpa – und wer die Schuld nicht zugibt, kommt in die Hölle.
    SCHULD & ANGST die Zutaten – was wir gegenwärtig erleben.
    Wir haben Schuld daran, wenn in Burkina Faso ein Mais-Feld austrocknet – und dass wir uns nicht auch noch schuldig machen, dass dem Schneider Michl sein Weizen im Marchfeld nicht auch noch austrocknet, sollen wir unseren Obolus leisten. Seit Oktober beim Tanken noch extra einen Zwanziger dazu legen. Natürlich in bar – weil das Geld nimmt der nobelpreisige „Äl“, und vergrabt den Scheiß hinter seiner Hüttn, dann ist alles gut, und alle haben sich lieb – der Alber Arnold Gore, einer der Erfinder dieser Geschäfts-Sparte.
    Und ANGST mit allerhand Allerlei, zwar nichts mit Politik zu tun habend, doch allgegenwärtig.
    Dass der Scheiterhaufen bei gutem Feuer ist, dafür sorgen die Außenstellen, die sich die Politik geschaffen hat. Die „demokratische“ Politik, diese es beweisen kann, dass sie demokratisch ist. Natürlich auf die „Exekutionen“ bei den Außenstellen sie keinen Einfluss hat, weil gibt´s ja „freie Meinung & freies Tun & Handeln“.
    Angst vor dem Chef – „… ja, ich tät´ ja eh was sagen, aber weißt eh, die Firma …“ – ja, die exekutiert
    …. weißt eh, mein Kind geht ja in diese Schule … weißt eh, mein Schwager, der ist ja dort ….
    … weißt eh, mein Nachbar …
    Ja, so weit sind wir bereits, dass der zwischenmenschliche Diskurs, der kleine Tratsch am Haustor, ja sogar der Nachmittags-Kaffee im Lieblings-Lokal zum Erliegen kam – weil die Menschen ANGST haben, dass sie im Gespräch was sagen, was dem Gegenüber nicht gefallen könnte

    Das Schöne & Gute wird mit „smart & grün“ bezeichnet – und wer nicht das als gut befindet, was als solches vorgegeben ist, landet am Scheiterhaufen.

    Und nicht der Politik ist die Schuld zu geben, sondern dem anderen Menschen – die Menschen selber sind es, die den Scheiterhaufen befüllen – weil jede will besser sein, als der andere …

    …. und so fühlen sie sich auch – besonders jene, die vom „Dunning Kruger Effect geplagt sind

    Kein „Eigenbrötler“ bin ich, doch wäre es allemal besser gewesen, wenn wir als kleines Österreich den zweiten Anschuss im selben Jahrhundert nicht zugelassen hätten – nur 57 Jahr nach dem ersten Anschluss.
    Zumindest den Faschismus hätten wir uns erspart – den SMART-GRÜN-FASCHISMUS.

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