Die Schönheit des Scheiterns

Was ist Ihre früheste Kindheitserinnerung? Diese Frage ist gar nicht so einfach. Meistens muss man da durchaus eine Minute überlegen. Manche Leute benötigen auch länger oder können gar nicht darauf antworten. Nicht schlimm. 

Ich verrate Ihnen meine: Ich halte eine Tasse in der Hand, die ich mag. An das Motiv darauf erinnere ich mich gar nicht mehr, aber ich nehme an, dass es der Grund war, warum ich sie mochte. Sagen wir einfach, es waren Pferde gewesen. Darin ein Getränk, an welches ich mich ebenfalls nicht erinnere. Sagen wir einfach, es war ein Kakao. 

Bevor Sie beginnen zu mutmaßen, mein Nachname laute Scholz, erzähle ich Ihnen, woran ich mich erinnere: Mit meiner Pferdchen-Tasse und dem Kakao darin gehe ich durch die Laube des Schrebergartens meiner Eltern. Dabei bin ich unachtsam, stolpere über irgendwas und stürze. Und hierbei geht meine Pferdchen-Tasse zu Bruch. An den entstehenden Scherben verletze ich mich. 

Die Narbe dieser Verletzung trage ich noch heute. Aber das war nicht der Grund warum ich daraufhin weinte. Auch war es nicht dieses Aufmerksamkeits-Weinen nach Stürzen oder Stößen, die eigentlich gar nicht besonders weh getan haben. Ich weinte, weil meine Tasse kaputt war. Ich weinte, weil ich die gern gehabt habe. Ich weinte, weil ein Teil von mir sehr wohl bereits in diesem Augenblick verstand, dass man die nicht reparieren kann, auch wenn ich hinterher in Verweigerung, diese Realität zu akzeptieren, darauf bestand, genau das zu probieren. Ich weinte aus emotionaler Überforderung. Denn ich war traurig. Aber ich war noch viel mehr als nur traurig. Ich war sauer. Ich war sauer auf den, der meine Tasse kaputt gemacht hat und noch saurer war ich darüber, dass ich das ja dummerweise selbst war und die Schuld daran an mir allein haftete. 

In diesem Augenblick habe ich mich der Realität verweigert, weil sie mir einfach nicht gefallen hat. Ich habe versucht, Verantwortung zu externalisieren und war pampig, als mir das nicht gelingen wollte. Und das war zwar einfach schwach, aber durchaus okay. Aus einem sehr einfachen Grund. Weil ich damals vielleicht drei oder vier Jahre alt war. 

Aber wissen Sie was? Inzwischen bin ich gar keine drei Jahre mehr alt. Und Sie auch nicht. Und diese Gesellschaft ebenfalls nicht. Und deshalb haben wir alle, sowohl als Individuum als auch in unserer Summe als Gesellschaft, einfach kein Recht dazu, uns wie Dreijährige zu verhalten. 

Tun wir aber. 

Und das ist absolut nicht okay. Und es ist auch weit jenseits von nur „schwach”. Es ist infantil, unverantwortlich, kurzsichtig, erbärmlich und in letzter Konsequenz zivilisationszersetzend. Ich werde nun versuchen herauszuarbeiten, warum das so ist.

Eitelkeit ungleich Eitelkeit

Mögen Sie Dostojewski? Oder lassen Sie mich etwas anderes fragen: Sind Sie eitel? Halten Sie Eitelkeit für etwas Gutes oder Schlechtes? 

Ob ich eitel bin oder nicht, können meine Mitmenschen gewiss besser beurteilen als ich. Aber dennoch kann man ja versuchen, eine Selbsteinschätzung abzugeben. 

Wir sprachen die letzten Male bereits über Zorn und Neid und dass man sie allzu leichtfertig fälschlicherweise als Synonym ihrer Gegenteile Wut und Missgunst verwendet. Der Eitelkeit würde ich keinen solchen Gegenspieler zusprechen wollen, aber dennoch verwenden wir das Wort allzu gerne undifferenziert und schreiben ihm eine negative Bedeutung zu. Weil es schwammig und unpräzise ist. Es gibt bessere Worte als Eitelkeit. Selbstliebe und Narzissmus zum Beispiel. Die sind konkreter. Und sie sind vielleicht nicht ganz so offensichtlich, in letzter Konsequenz aber ähnliche Antipoden wie Zorn und Wut oder Neid und Missgunst es sind.

Das möchte ich gerne belegen, muss Sie hierfür jedoch noch kurz mit Religion behelligen. Keine Angst, das dauert nur ein paar Sätze. 

In der zweiten Hälfte des Doppelgebots der Gottes- und Nächstenliebe spricht Christus „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.” (Mk 12:31) Jeder praktizierende Christ kennt diese Stelle, auch wenn er sie vielleicht nicht zuordnen kann. Aber jeder kennt sie. Nur: Hat sie auch jeder verstanden? „Wie dich selbst”, ich wiederhole: „wie dich selbst”! 

Das Doppelgebot der Gottes und Nächstenliebe ist also eigentlich gar keines. Es ist vielmehr ein Tripelgebot der Gottes-, Nächsten- und Eigenliebe. Die Eigenliebe wird von vielen dabei gerne vergessen. 

Schon klar, dass ein depressiver oder sich selbst hassender Mensch andere Probleme hat als laienhafte theologische Exkurse. Wer ein Graecum, Latinum oder Hebraeicum hat, dem mag es vielleicht schneller einleuchten, aber eigentlich ist es keine wahnsinnig komplizierte Sache: Sprachen unterscheiden sich. Und so gut wie nie lassen sie sich 1:1 ineinander übersetzen, ohne dass Kontext verloren ginge. 

In der deutschsprachigen Formulierung „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst” würde man dieser Forderung also auch entsprechen, wenn man sich selbst genauso sehr hasst wie seine Umwelt. Nun ja, nur weil dieser Umkehrschluss in der deutschen Formulierung funktioniert, tut er das in anderen Sprachen noch lange nicht. Seien Sie sich dessen versichert. Und ich bin mir trotz Ermangelung eines theologischen Studiums schon ausgesprochen sicher, dass dies auch wirklich nicht die Intention des Urhebers war.

Worauf ich damit hinaus will: Selbst vor 2000 Jahren war bereits jemand, den man wahlweise für einen Gottessohn, einen Propheten oder einfach nur für eine historische Figur halten kann, schlau genug, um die Notwendigkeit der Selbstliebe zu erkennen. Und weil es eben bei Liebe um mehr als nur um Selbstaufgabe geht, ist unser heutiger Gebrauch des Wortes Eitelkeit allzu negativ belastet, weil man darunter auch durchaus gesunde Mechanismen der Selbstliebe und des Selbstschutzes subsumiert. 

Dass wir dennoch in einer der hedonistischsten (was je nach Betrachtung gar nicht schlimm sein muss) und narzisstischsten (was ich in der Tat für schlimm halte) Gesellschaften seit langem leben, macht es nur umso traurig-schöner, da jene Menschen, die allzu selbstkritisch Eitelkeit nur negativ attribuieren einen unnötig hohen Anspruch an sich selbst anlegen in einer Umwelt, die schon lange nicht mal mehr Mittelmaß ist. 

Ich finde diese unnötige Strenge schade. Selbstreflexion ist super und es ist toll, hohe Ansprüche an sich selbst zu haben. Aber gelegentlich darf man durchaus auch einmal nach links und rechts schauen, in welcher Umwelt man eigentlich gerade lebt. Denn diese Umwelt ist, vorsichtig formuliert, gar nicht mal so geil. Gelegentlich darf und sollte man sich dies vergegenwärtigen.

Du bist gut, wie du bist. Du bist nur nicht gut, wenn du so bleibst.

Ich jedenfalls mag mich. Ich habe viele kleine Makel und hoffentlich nicht ganz so viele große Fehler. Und wenn ich solche Fehler bemerke und die ungerecht oder hässlich finde, dann versuche ich, sie abzustellen. Selbstreflexion halt. 

Aber ich habe auch Eigenheiten, die mir gelegentlich oder sogar regelmäßig zum Nachteil gereichen und die mir trotzdem gefallen. Die will ich gar nicht abstellen, weil sie zu mir gehören. Und das eben, obwohl die auch einen Preis haben. Ich nenne das in diesem Kontext Selbstliebe. 

Im Normalfall würde ich eher davon sprechen „mit sich selbst im Reinen zu sein”. Wenn mir das jemand als Eitelkeit oder gar Narzissmus auslegen möchte, nur zu. Es könnte mich kaum weniger interessieren. 

Genauso wenig wie es mich interessiert, ob mich jemand für ungebildet hält, wenn ich nun zugebe: Dostojewski war für mich zwar bereichernd, aber schon ausgesprochen schwere Kost. Nix, was man als Pendler auf dem Weg zur Arbeit mal häppchenweise zwischendurch im Zug verköstigt. Zumindest nicht für mich.

Da die Mehrheit der Leser aber gebildeter sein dürfte als ich es bin, können Sie ja kurz überlegen, was Raskolnikov Sie gelehrt hat und mir vielleicht verborgen blieb. Es wird ja hoffentlich etwas tiefsinniger sein, als dass Verbrechen sich nicht lohnen. 

Welche Erkenntnis also haben Sie für sich mitgenommen? Was können wir im inzwischen dann doch nicht mehr sooooo jungen 21. Jahrhundert heute von dieser Romanfigur lernen? Ist es die Erkenntnis, dass Unrecht Unrecht hervorbringt? Geht es um Eskalation? Um Abwärtsspiralen? Oder doch eher um Selbstvergegenwärtigung? Um Karma? Oder um etwas ganz anderes? 

Ich jedenfalls habe unter anderem zwei Dinge mitgenommen, die ich erst später zusammenfügen konnte: Ich habe mitgenommen, dass Fehler einen Preis haben! 

Für all meine Makel und Fehler bezahle ich einen Preis. Wenn ich meine Makel nicht abstellen möchte, setzt das voraus, dass ich sie mir überhaupt erstmal leisten kann. Wenn ich hingegen meine Fehler nicht abstelle, naja, dann bin ich zumindest unter diesem Aspekt schlicht eines: blöd. 

Nicht zwingend, jedoch durchaus wahrscheinlich werde ich dadurch außerdem auch noch etwas anderes, nämlich ungerecht. Aber ich habe noch etwas mitgenommen, nämlich dass Fehler mehr haben als nur einen Preis. 

Sie haben auch einen Zins.

Doch der Reihe nach. Bevor wir über Zinsen reden, müssen wir über den Preis reden und darüber, warum er einen heiligen Zweck hat. Denn was haben wir in der Vergangenheit getan? Wir haben verwaltet, wir haben vertagt und wir haben verschleppt. Vornehmlich haben wir damit aber vor allem eines getan: Versagt. 

Wir haben auf fast jeder nur denkbaren Ebene versagt. Und wann immer uns die Realität einzuholen drohte, haben wir versucht, die Konsequenzen unserer Fehler mit Geld zu übertünchen. Wir haben unsere Fehler nicht behoben, wir haben uns nur von deren Konsequenzen freigekauft und damit den nächsten Fehler begangen. Immer wieder.

Wir haben wie so eine Dreijährige die Augen vor der Realität verschlossen in der häretischen Annahme, diese begriffsstutzige Realität müsse sich unserer Geisteshaltung doch irgendwann endlich einmal anpassen. 

Tut sie aber nicht. 

Diese verflixte Realität weigert sich einfach, sich in unsere Wunschvorstellung von ihr einzufügen. Was für ‘ne Bitch! Diese blöde Realität verhandelt einfach nicht. Sie kennt nur sich selbst. 

Sie dafür aber als Schlampe zu titulieren, nur weil sie ehrlich und nicht zu Verhandlungen bereit ist, wird niemandem gerecht. Weder uns noch ihr. Die Realität ist keine Schlampe. Die Realität ist nicht immer, aber immerhin erstaunlich oft erstaunlich fair. Die Realität ist weder nachtragend noch besonders emotional. Sie bestraft auch gar nicht. Lediglich derjenige, der sich ihr verweigert, bestraft sich selbst. Und dummerweise sind das: Wir. Wir haben nur so getan, als könnten wir uns dem entziehen.

Die Schönheit des Scheiterns

So läuft’s aber nicht. Fehler müssen einen Preis haben. Und dieser Preis muss wehtun. Damit wir sie nicht ignorieren. Damit wir gezwungen sind, aus ihnen zu lernen. Nicht, damit wir nicht auf die Fresse fliegen, sondern damit wir nicht umsonst auf die Fresse fliegen. Nicht, damit wir aufhören zu versagen, sondern damit wir das nächste Mal an einer höheren Hürde versagen. Nicht, damit wir uns schlechter fühlen, sondern damit wir einfach besser werden. Fehler sind Geschenke. Und wir haben kein Recht, sie abzulehnen.

Fehler sind Geschenke, aber keine gewöhnlichen. Denn erstens ist der Schenkende und der Beschenkte meist die gleiche Person. Wir schenken uns unsere Fehler selbst. Und zweitens hat dieses Geschenk anders als andere Geschenke einen Preis für den Beschenkten. Denn Fehler sind hoffentlich nicht umsonst, aber definitiv auch niemals gratis. Sie haben einen Preis. 

Bezahlen muss man den so oder so. Dass sie ein Geschenk sind, hat einen anderen Grund. Sie bringen uns etwas, das ihren Preis bei Weitem übersteigt. Sie bringen uns Erkenntnis. Sie ermöglichen uns, es beim nächsten Mal besser zu machen. Fehler haben damit einen göttlichen Charakter, gerade wenn man ein Gottesbild hat, das von dessen Vollkommenheit ausgeht, völlig egal ob man das nun Gott, Jehova, Allah, Schicksal, Universum oder sonst wie nennt. 

Indem Fehler einen Preis haben, zwingen sie uns dazu, zu lernen und in Zukunft hoffentlich bessere Entscheidungen zu treffen als in der Vergangenheit. Fehler dienen dazu, den Menschen immer göttlicher werden zu lassen, indem sie uns schmerzhaft aufzeigen, wie wenig göttlich wir sind.

Fehler sind nicht gut- oder bösartig, denn weder sind sie ein Wesen noch haben sie eines. Fehler sind einfach nur ein Angebot des Göttlichen ans Menschliche, selber göttlicher zu werden. Fehler bieten uns an, uns selbst empor zu heben. Fehler ermöglichen uns, zu lernen. Fehler ermächtigen uns, uns selber in den Schatten zu stellen und zu überflügeln. Fehler zeigen uns, wie wir morgen besser sein können als wir gestern noch waren.

„Ich will dein Bestes. Ich will mein Bestes. Ich will, dass du mich tötest.”

Wären Fehler aber ein Wesen, dann wären sie ein altruistischer Kamikaze-Pilot, ein Oxymoron, ein Paradoxon. Wären Fehler ein Wesen, dann würden sie uns so schmerzhaft wie möglich in den Arsch treten wollen, in der einfachen Hoffnung, dass wir hinreichend sauer sind, um sie als Reaktion darauf zu töten. 

Wären Fehler ein Wesen, dann wäre das Einzige, das man ihnen anlasten könnte, die „Eitelkeit”, so unwiederbringlich und einzigartig wie möglich sein zu wollen. Denn hätten Fehler einen Willen, dann würden sie einmalig sein wollen. Fehler wollen, dass wir sie zelebrieren. Fehler wollen als unwiederholbares Ereignis in die Geschichte eingehen. Fehler wollen gar nicht leben. Fehler wollen sterben. Fehler wollen, dass wir sie töten. Fehler wollen nur, dass wir uns so lange wie möglich daran erinnern, wie und warum wir sie getötet haben. Denn nur so werden Fehler im positivsten aller Sinne unsterblich, gerade indem sie sterben.

Wären Fehler Wesen, dann wären sie genau so. Sind sie aber nicht. Fehler sind keine Wesen. Und sie haben auch kein Wesen. Fehler sind weder gut noch schlecht. Sie sind einfach da. Wir erschaffen sie selbst. Jeden Tag. Fehler sind das, was wir aus ihnen machen. Sie sind ein Geschenk. Ob sie aber ein segensreiches oder ein vergiftetes Geschenk sind, das liegt an uns und an uns allein. Ein Angebot eben. Ein Angebot, dass man nie annehmen muss, aber immer annehmen sollte.

„There is no such thing as a free lunch …”

Wir haben uns dagegen entschieden, dieses Angebot anzunehmen. Wir haben uns dagegen entschieden, aus unseren Fehlern zu lernen. Wir haben uns dagegen entschieden, den fälligen Preis für unsere Fehler zu zahlen, weil das ja irgendwie wehtun könnte. Wir haben uns dagegen entschieden in der größenwahnsinnigen und in denkbar negativster Bedeutung des Wortes „eitlen”, nämlich selbstgerechten und narzisstischen Annahme, dass dies überhaupt möglich sei.

Wir haben uns stattdessen dafür entschieden, unsere Fehler zu ignorieren. Wir haben uns dafür entschieden, ihre Konsequenzen zu überdecken indem wir immer neue, noch größere Fehler begingen und noch immer begehen. 

Wir haben uns dafür entschieden, die Konsequenzen der Fehlentscheidungen unserer Vergangenheit auszublenden, indem wir den Korridor dessen, was publiziert, gesagt und gedacht werden darf, zunehmend verengt haben, sodass weniger laut auf jene Fehler hingewiesen werden konnte. Das aber macht sie nicht minder existent.

Das kann man zwar alles machen, nur löst es weder ein Problem noch macht es den ihm zugrunde liegenden Fehler ungeschehen. Und schon gar nicht begleicht es die angeschriebene Rechnung. Fehler haben Preise. Und diese werden bezahlt. 

Fehler hatten schon immer einen Preis. Zu jedem Zeitpunkt der Geschichte. Immer, ausnahmslos. Und dieser Preis wird bezahlt. Immer, ausnahmslos. 

Die Frage lautet nicht, ob er bezahlt wird, sondern nur wann und von wem. In einer gerechten Welt zahlt jenes Individuum, jenes Unternehmen, jene Institution oder jene Gesellschaft den Preis, die diesen Fehler begangen hat. Und zwar vorzugsweise so zeitnah wie irgend möglich. In einer asozialen Welt werden Fehler vertuscht, verschleppt und outgesourct. 

Der Preis von Fehlern kann exorbitant hoch oder lächerlich gering sein – er ist eigentlich zumeist moderat, ganz egal wie hoch, denn er bemisst sich meistens an der Größe des ihm zugrunde liegenden Fehlers. Ein kleiner Fehler kostet wenig, ein großer Fehler kostet viel. Das ist nicht nur verhältnismäßig, sondern es ist mehr als das. Es ist fair.

Doch wie ich es bereits erwähnte: Fehler haben mehr als nur einen Preis. Sie haben auch einen Zins. Und dieser Zins ist hoch. Wer sich der Einsicht verweigert, einen eigentlich nur mittelschweren Fehler begangen zu haben, der mag auch für diesen mittelschweren Fehler einen sehr hohen Preis bezahlen müssen, sobald dieser beginnt, nennenswerte Zinsen zu tragen. 

Und weil der Zinssatz so hoch ist, tut er das in aller Regel schneller als der Betroffene denkt. Wem sein Falschparken zweifelsfrei nachgewiesen wurde, der wird, wenn er sich konsequent weigert, das Knöllchen zu bezahlen, irgendwann in Beugehaft genommen. Kann man gerecht oder ungerecht finden. Nicht mein Punkt. Ich benenne nur den Zinsenszinseffekt dieses ursprünglich doch ziemlich kleinen Fehlers. Doch was fürs Individuum gilt, das gilt auch im größeren Kontext.

Ein Unternehmen, das grundlegend falsche Entscheidungen bei fundamentalen Weichenstellungen trifft, wird eher früher als später pleite gehen. Und eine Gesellschaft, die am laufenden Band einen Fehler nach dem nächsten begeht, kann nicht erwarten, auf Dauer wohlhabend, friedlich und lebenswert zu bleiben. 

Eine bereits wohlhabende Gesellschaft kann sich mehr Fehler erlauben als eine darbende. Sie kann auch die Zinslasten ihrer Fehler länger tragen. Aber wenn sie sich dauerhaft ihre Fehler einzugestehen weigert, dann werden jener Fehler Zinslasten dieser Gesellschaft nicht nur jämmerlich in den Arsch treten, sondern diese Gesellschaft je nach ihrer Mentalität entweder quälend ersticken oder krachend zum Einsturz bringen. 

Dann wird Wohlstand zum Synonym für Fallhöhe. 

Dann hat es diese Gesellschaft auch schlicht nicht besser verdient. Eine solche Gesellschaft ist wie der Typ, der aus dem 10. Stock fällt und sich, während er am 3. Stock vorbeifliegt, denkt: „Naja, bis hierhin ging’s ja eigentlich noch ganz gut.” 

Aber der Aufprall wird kommen. Die Realität wird uns einholen. Versprochen.

Schuld und Sühne

Dass wir uns noch immer einen Scheiß dafür interessieren, was Geld eigentlich ist und wo es herkommt … Dass wir mutwillig und sehenden Auges unsere Energieversorgung demontieren … Dass wir uns der Annahme hingeben, unser Minderverbrauch an fossilen Energieträgern würde den Gesamtausstoß an CO₂ mindern, statt ihn woanders für andere Marktteilnehmer einfach billiger zu machen … Dass wir Milliarden für Schwachsinn ausgeben, während unsere Infrastruktur verfällt … Dass wir einen über alle Maße adipösen Staatshaushalt lieber noch weiter aufblähen statt ihn auf die längst überfällige Zwangsdiät zu setzen … Dass wir erwarten, man könne Leistungsträger zu diesem Zwecke beliebig hoch belasten, ohne dass die irgendwann die Schnauze voll haben und einfach abhauen … Dass wir jeden, der hier eine geile Idee hat und daraus etwas machen will, in einem Meer von Zetteln, Formularen, Genehmigungen und Compliance ertränken … Dass wir einen öffentlich-rechtlichen Rundfunk dulden, der seinen genuinen Auftrag der unabhängigen und neutralen Berichterstattung nicht nur nicht erfüllt, sondern fundamental durch eigene Agitation pervertiert … Dass wir uns eine Bürokratie gefallen lassen, die längst jeden Bezug zum gesunden Menschenverstand verloren hat … Dass wir augenscheinliches Justizversagen schulterzuckend hinnehmen … Dass wir hemmungslosen Arschlöchern mit Toleranz begegnen … Dass wir offensichtliche Idioten zu Volksvertretern machen …

Dass wir überhaupt glauben, wir könnten es uns irgendwie leisten, uns für all das nicht zu interessieren … All das wird uns jämmerlich auf die Füße fallen. 

All unsere unbezahlten, verdrängten und outgesourcten Fehler werden uns einholen und heimsuchen. Versprochen. Diese Gesellschaft wird nach allen Regeln der Kunst auf die Schnauze fallen. Vollkommen zu Recht. Weil sie es genau so wollte. 

Diese Gesellschaft wird fundamental auf die Fresse fliegen, aber nicht etwa aufgrund ihrer vergangenen Fehler, sondern aufgrund der Verweigerung, sich diese Fehler einzugestehen und aus ihnen zu lernen. Sie wird für diese Fehler bezahlen. Und für deren Zinsen. 

Wir alle. Wir werden für unsere Fehler bezahlen. Und für den weit größeren Kardinalfehler, unsere Fehler nicht eingesehen, sie nicht wertgeschätzt und schon gar nicht aus ihnen gelernt zu haben. Wir werden für unsere Fehler bezahlen. Versprochen.

Und der Preis wird hoch sein.

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3 Kommentare. Leave new

  • Anonymous
    19. Juli 2023 8:50

    Worum geht es in dem Text?

    Antworten
  • Immo Sennewald
    19. Juli 2023 12:30

    Der Artikel enthält neben Bedenkenswertem und Diskussionswürdigem m.E. einige begriffliche Ungenauigkeiten, das ist schade, denn er ist mit ehrlichem Engagement und Emphase geschrieben, die auf sinnvolle Veränderung hinauswill. Was mich vor allem stört und worüber ich immer wieder gestolpert bin, ist der gänzlich unreflektierte Gebrauch des “wir”, das sich mal auf die Gesellschaft, mal auf die Regierenden, dann wieder auf die Journaille, aufs Wahlvolk bezieht und auf diese Weise handelnde Subjekte unkenntlich macht. So entsteht eine weitgehend wirre “Kanzelrede”, ein Monolog ohne Adressaten und echte Gesprächspartner. Im einzelnen wäre vielem zu widersprechen, etwa der Absicht, den “Dreijährigen” im Erwachsenen abzuschaffen. Ich hoffe, dass über solche Unterschiede im Verständnis ein Austausch zwische Autoren und Lesern möglich wird.

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  • Ich finde den Artikel sehr gelungen und es ist für mich klar, was erreicht werden soll: sich bewusst werden, daß Fehler gemacht werden, aus den gemachten Fehlern zu lernen, und am Besten noch Fehlerfolgenabschätzungen machen. Diese werden in der Politik grundsätzlich nicht beobachtet, weshalb wir wiederum beim letzten Absatz des Artikels wären! Irgendwann fällt einem alles auf die Füsse und dann wird es richtig weh tun. Das ist unser Weg, leider geht es nur mit starken Schmerzen und großem Leid – nicht gleich, aber zusehend schneller und ultimativer.

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