Die zwei Seiten des Ich

Protokolle der Aufklärung #1

Wir Freiheitsfreunde sind mit vielen interessanten Dingen beschäftigt. Am liebsten ist uns die Freiheit des Individuums. – Nur: Was ist das für ein „Ding“, dem wir Freiheit zusprechen? Was ist dieses ursprünglich Unteilbare (in-dividuum)? Reden wir hier über unseren Körper, dessen Organe, unser Reden und Tun, unseren Charakter, unsere Gefühle? Wohl nicht, denn diese sind teilbar. Unteilbar hingegen ist allenfalls unser Ich. Was wir also lieben, ist die Freiheit des Ich. 

Das Ich als Spontanzentrum unseres Lebens

Was meinen wir eigentlich, wenn wir hundertmal am Tage sagen: „ich, ich, ich“? – Solches Fragen versetzt in Verlegenheit und verlangt Aufklärung. Offensichtlich ist jedenfalls: Ein gründliches Verständnis des Begriffs „Ich“ ist erforderlich, wenn man Genaueres über die Freiheit sagen will. – Um in dieser Sache weiterzukommen, fragen wir zunächst einmal: Welche Daseinsweise hat unser Ich im Unterschied zu anderen Daseinsweisen dieser Welt? Mancher könnte bei der Kenntnisnahme der Antwort die überraschende Entdeckung machen, dass sich seine Existenz nicht nur auf einer (der physischen) Seite abspielt. Es gibt in seinem Leben offenbar noch eine weitere, völlig andersartige Seite. Allerdings: Der Gang hin zu dieser Erkenntnis führt über ein Terrain, das unwegsam ist.

Das Ich ist den aufwachsenden Menschen zunächst unbekannt. Wenn sie als Kleinkinder über ihre Aktivitäten sprechen, sagen sie anstelle von „ich“ ihren Namen: Erna spielt, Egon rennt, Maria weint. Irgendwann beginnen sie zu sagen: Ich spiele, ich renne, ich weine. Und vor allem lernen sie zu sagen: „ich will“ und „ich will nicht“. Wir beobachten: Jetzt bezieht das Kind die Geschehnisse ausdrücklich auf sich. Vielleicht erlebt es sich schon vorher als Quell seiner Aktivitäten. Aber mit dem Ich-Sagen kommt dieses Erlebnis zur Sprache. Es wird, wenn auch nur symbolisch(!), objektiviert. Mit dem Wort „Ich“ gelangt das sich selbst erlebende Subjekt als Objekt in die Welt. Damit kann es sich selbst gegenübertreten. 

In dem Wort „Ich“ manifestiert sich das unauffälligste, aber auch das elementarste und wichtigste Erlebnis, was wir haben. Bemerkenswert ist, dass wir auch im Hinblick auf unser angeblich passives Erdulden der Sinneseindrücke (bei der Wahrnehmung) „ich“ sagen: ich höre, ich sehe, ich rieche. Also auch bei unserer Perzeption ist unser Ich mit dabei (daher auch „Apperzeption“=ad-perceptio). Immanuel Kant soll im hohen Alter einmal gesagt haben: „Wir machen alles selbst“, d. h., bereits unsere Wahrnehmungen sind gewissermaßen Ich-Produkte.

Der Mensch ist das einzige Wesen, das „ich“ sagen kann. Damit bringt er zum Ausdruck, dass er sich als Zentrum seiner Spontaneität, also als Ausgangspunkt all seiner Aktivitäten erlebt. Das Ich-Sagen entwickelt sich zwar schon früh. Das heißt aber nicht, dass wir den Bezug zu unserem Ich sogleich in aller Prägnanz geistig erfassen. Dies geschieht in einer Weise, die mit einer wissentlichen Ich-Habe nichts zu tun hat. Es basiert auf einem diffusen Ich-Erlebnis. Mag sein, dass sich diese Diffusität über das ganze Menschenleben hin durchhält. Viele sterben, ohne je ein Wissen von sich in aller Deutlichkeit erlangt zu haben. In der Regel brauchen wir lange, um uns als Quell unseres Lebens und als Ursache all unserer Lebensaktivitäten umfänglich zu begreifen. Erst dem wachen Bewusstsein ist das Ich als Spontanzentrum in voller Klarheit gegenwärtig.

Die „Dualität“ des Ich

Ganz ohne Wissen vom Ich ist niemand, schon das ich-sagende Kind nicht. Erst mit fortschreitender Geistesentwicklung lichtet sich der Nebel um den wahren Charakter des Ich. Dann kommt zum Vorschein, dass unser Ich offenbar zweimal da ist: einmal als wahrnehmbare Sache (Körper, Gefühle, Gedanken usw.) und zum anderen als ein Etwas, von dem unser unüberhörbares Ich-Sagen zwar Kunde gibt, das wir vorstellungsmäßig aber nicht erfassen können. Mit dem Ich-Sagen bringt der Mensch zum Ausdruck, dass er sich als Mitte und Ausgangspunkt seiner Aktivitäten erlebt. 

Immanuel Kant, der diesbezüglich als unser hilfreichster Gesprächspartner gelten kann, hat diesen Sachverhalt auf den Punkt gebracht. Er trennt die beiden Aspekte des Ich-Bewusstseins zum ersten Mal in aller Schärfe. Er war es auch, der dafür eindeutige Begriffe schuf: „empirisches“ (erkennbares) und „reines“ (nichterkennbares) Ich. In seinen Spätschriften ersetzt er den Terminus „reines Ich“ durch den sachgerechteren Ausdruck „intelligibles Ich“. Das intelligible Ich ist es eigentlich, was wir meinen, wenn wir im Alltag ständig „ich“ sagen (ich tue, ich rede, ich vermeide). Die Tradition spricht hier von persona. 

Die Person als solche ist sinnlich nicht fassbar. Was wir hingegen an uns sehen, hören, riechen, schmecken und fühlen, ist unsere Persönlichkeit, unser real greifbares Ich. Die Tradition spricht hier von habitus. Unser Habitus ist der physische Teil unseres Seins, die Person der nichtphysische, oder – wie wir auch sagen – der meta-physische.

Persona und Habitus sind ungetrennt ein und dasselbe Ich. Sie sind nur verschiedene Erlebnisweisen dieses einen Ich. Dies in aller Klarheit zu sehen, setzt voraus, den Kinderschuhen entwachsen zu sein. Das sind Einige offenbar nicht, wenn sie den Satz „Das Ich ist ein Märchen“ für eine brauchbare These halten, beispielsweise der Hirnforscher David Eagleman. 

Die Nichterkennbarkeit des „intelligiblen Ich“

Die Unterscheidung physisch und-meta-physisch in Bezug auf das Ich erlaubt, die zwei Bereiche des Icherlebens klar voneinander zu trennen: das Erleben unserer Sinneserscheinungen und das Erleben unserer Eigenspontaneität. Im Ich-Sagen dokumentiert sich eine Seinsweise, die zwar außerhalb des Erkennens liegt – nicht aber außerhalb des Erlebens. Das Ich ist – als Aktionsquell unserer Aktivitäten – in der Selbstreflexion erlebbar, nicht aber als konkret Vorstellbares erkennbar. Es ist nur so da, wie es sich in Redewendungen wie „ich will“, „ich tue“, „ich entdecke“, „ich erfahre“ manifestiert. In all diesen Sätzen sehe ich mich als Quell meines Tuns. Mein Tun ist von mir als physisch präsentes Faktum beobachtbar, sein Quell jedoch nicht. 

Die Unterscheidung Kants beim Ich ist keine bloße Erfindung oder gar ein extraordinärer Geistesblitz. Sie kann durchaus erlebt, wenn auch nicht (im Sinne einer Naturerkenntnis) erfahren werden. In der Erfahrung („Empirie“) erleben wir uns lediglich als Körper mitsamt seinen Funktionen. Darüber hinaus erleben wir uns aber noch auf ganz andere Art. Dieses Andere drücken wir im Ich-Sagen aus. Unser Körper ist für uns als Naturgegebenheit vorhanden. Von unserem Ich hingegen wissen wir nur über einen Reflexionsakt. Und da zeigt es sich als Ursprung aller unserer Aktivitäten. Wir sehen es als etwas, das sich jenseits unseres körperlichen Seins befindet, also meta-physisch ist. 

Das Ich ist wohl Inhalt einer Erlebnis- und Bewusstseinsform, nicht aber Gegenstand einer Erkenntnisform. Es ist „eine gänzlich leere Vorstellung … von der man nicht einmal sagen kann, dass sie ein Begriff sei, sondern ein bloßes Bewusstsein“ (Kant). Das Ich ist so etwas wie das „schöpferische Nichts“ unseres Lebens. – „Ich bin wie übersinnlich so überwahr“, bemerkt – wohl im Anschluss an Kant – der Freiheitsphilosoph Max Stirner. Von ihm stammt auch der berühmt gewordene Satz „Ich hab’ mein Sach’ auf Nichts gestellt“. Er hätte ebenso gut sagen können, und meinte es wohl auch so: Ich hab’ mein Sach’ auf mich gestellt. Denn das Ich ist das Nichts. Aber „ich bin nicht Nichts im Sinne einer Leerheit, sondern des schöpferischen Nichts, des Nichts, aus welchem ich selbst als Schöpfer alles schaffe“ (Stirner).

Das Leugnen der Doppelnatur des Ich

Ein Ich, so wird von Vielen beteuert, gibt es nicht. Dass z. B. ein Hirnforscher bei seinem Untersuchungsobjekt ein Ich nicht entdecken kann, ist nicht verwunderlich. Das Ich kann er ja nur bei sich selbst erleben: als aktiv-forschendes Ich. Das Forscher-Ich hat sich zwar selbst als Ich, wird aber ein solches an seinem Forschungsobjekt niemals entdecken können, dies aufgrund der naturgegebenen Beschränkung des menschlichen Erkenntnisvermögens. Der Satz „Ich behaupte, es gibt kein Ich“, der daraus gefolgert wird, enthält den krassesten Widerspruch, den man sich denken kann. Denn es ist offensichtlich ein Ich, das dies behauptet. Kant nennt derlei Behauptungen „frech“, weil sie sich anmaßen, die elementarsten Grundsätze menschlicher Erkenntnis außer Kraft zu setzen. Die bei einigen Neurologen zu lesende These, das Ich sei eine „Illusion“, kann immer nur ein Ich äußern, niederschreiben, verteidigen. Damit beweist es, dass es außerhalb seines Äußerns, Niederschreibens, Verteidigens existiert. Also schon aus logischen Gründen kommen wir an dem sogenannten „Dualismus“ beim Ich nicht vorbei. Wer ihn bestreitet, begibt sich weit unter das Niveau der kritischen Denkansätze des 18. Jahrhunderts. Die These von der Nichtexistenz des Ich steht im Widerspruch zu sich selbst.

Der „Dualismus“ beim Ich ist wegen seiner schweren Erfassbarkeit Vielen fremd. Aber die Analyse des menschlichen Erlebens offenbart ihn. Die neuere medizinische, insbesondere neurologische Forschung schenkt ihm wieder mehr Beachtung. Dort schien er bis vor nicht allzu langer Zeit gänzlich vergessen gewesen zu sein. Für die Humanwissenschaften, besonders für die Pädagogik und die Jurisprudenz ist das Wissen darüber unabdingbar (Personbegriff!). Um den „Dualismus“ klar herauszuarbeiten zu können, musste als erstes unser gesamtes Erkenntnisvermögen bis an seine Grenzen ausgeleuchtet werden. Das hat Kant in vorbildlicher Weise geleistet. 

Nun zurück zum anfangs zitierten Ausdruck „Freiheit des Individuums“. Jetzt, wo wir sehen, was es auf sich hat mit diesem in-dividuum, ist zu vermuten, dass auch dessen Eigenschaft „Freiheit“ nichts ist, was im Bereich des Physischen zu suchen ist. – Zumindest wissen wir jetzt mehr über den Ort der Freiheit. Damit wissen wir aber noch nichts über die Freiheit selbst. Es bedarf weiterer Explikation. 

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