Ein »Hoch!« auf den Föderalismus!

In ihrem kürzlich erschienenen lesenswerten Buch „Freiheit beginnt beim Ich – Liebeserklärung an den Liberalismus“ ruft die Welt-Redakteurin Anna Schneider im Grunde nur eine freiheitliche Binsenwahrheit in Erinnerung. Doch das war dringend wieder einmal nötig, denn die individuelle Freiheit hat einen schweren Stand, wenn im Bundestag von kollektiver Freiheit palavert wird und der Wirtschaftsminister vom befreienden Gefühl, das einen überkommt, wenn einem andere eine Entscheidung abnehmen, schwärmt.

Den meisten Menschen in unserer Zeit begegnet der Staat in Form von Rechnungen und Vorschriften, die immer mehr Aspekte unseres Lebens regeln. Dabei geht Grundlegendes vergessen: Wir sind als freie Menschen geboren und haben das Gemeinwesen zum Schutz unserer individuellen Interessen geschaffen. Darum hat der Staat für die Menschen da zu sein und nicht umgekehrt.

Zur individuellen Freiheit gehört auch die Freiheit, sich zu binden. Gewisse Ziele lassen sich nun einmal gemeinsam besser realisieren. Dazu gehören gewisse Grundregeln über die Organisation des Zusammenlebens und zu deren Durchsetzung. Dass wir inzwischen viel mehr Regeln unterworfen sind, als es für ein gedeihliches Zusammenleben braucht, ist offensichtlich. 

Vor allem der Wunsch nach Sicherheit liefert den Regierenden willkommene Munition zur Beschränkung der Freiheit des Einzelnen. Für freiheitliche Menschen ist der Konflikt zwischen Freiheit und Sicherheit nur ein scheinbarer. Denn: Sicherheit muss die Freiheit schützen! Die Sicherheit eines Gefängnisses ist abzulehnen.

Gemeinwesen tendieren im Laufe der Zeit zu Zentralismus und zu einer Machtverschiebung weg von der Legislative hin zur Exekutive. Dessen waren sich schon die amerikanischen Gründerväter bewusst. Umso nötiger ist von Zeit zu Zeit die Besinnung auf das Konzept von „checks and balances“ und die entsprechenden Instrumente. Das Wichtigste ist dabei der Föderalismus, das Pochen auf die eigene Souveränität, der Freiheit eines Gemeinwesens freier Menschen. 

Erklärte Julius Cäsar noch trotzig und selbstbewusst: „Ich bin lieber der Erste im Dorf als in Rom bloss Zweiter“ („malo in hoc vico primus esse quam Romae secundus“), fühlen sich die Regierenden in Europa heute mehr der olympischen Devise „Dabeisein ist alles!“ verpflichtet. Freiheit ist damit keine gewonnen. Dafür wird Verantwortung kollektiviert, sodass am Ende niemand verantwortlich ist.

Eine Geisteshaltung der Toleranz

Föderalismus ist in erster Linien eine Geisteshaltung, eine Geisteshaltung der politischen Bescheidenheit und der intellektuellen Grosszügigkeit. Sie geht davon aus, dass es in vielen Fragen wohl keine absolute Wahrheit gibt und darum dem anderen zugesteht, dass er ebenfalls Recht haben könnte. Oder zumindest, dass er das Recht hat, Dinge so zu regeln, wie es ihn in seinem Verantwortungsbereich gut und richtig dünkt.

Wer allerdings den Wettbewerb der Ideen und Systeme scheut, oder dermassen von Sendungsbewusstsein erfüllt ist, dass er keinen Widerspruch duldet, wird den Föderalismus schlecht reden oder gar lächerlich machen. So wird beispielsweise gerne behauptet, gewisse Probleme liessen sich nur international, oder gar global lösen. 

Eine logische Folge des Föderalismus ist Wettbewerb. Dieser trägt entscheidend zu einer Steigerung von Innovations- und Wirtschaftskraft bei. Schliesslich will jeder besser sein als die anderen. Föderalismus fördert auch den sparsamen Umgang mit öffentlichen Geldern, die Gestaltungskraft, das Verantwortungsbewusstsein und den Ideenreichtum. Darum ist Föderalismus so wichtig, und genau darum ist er den Sozialisten in allen Parteien, die auf Gleichmacherei und Einförmigkeit aus sind, ein Dorn im Auge.

Es ist also von enormer Bedeutung, dass sich die Bürgerinnen und Bürger mit dem Staat oder eben mit der «res publica» identifizieren. Hierzu leistet der Föderalismus einen entscheidenden Beitrag. Er garantiert die grösstmögliche Zufriedenheit der Menschen in einer Region. Und, sollten sie nicht zufrieden sein, so haben sie die Möglichkeit, in ihren überblickbaren Verhältnissen eine Veränderung herbeizuführen. Sehen sie sich jedoch dieser Möglichkeit beraubt, führt das zu Frustration, Entfremdung und schliesslich zur Stärkung zentrifugaler, sezessionistischer Kräfte. In der EU mehren sich die Beispiele dafür. Die Pandemie-Politik der vergangenen Jahre hat diese Entwicklung noch weiter verstärkt.

Schwindel mit der Subsidiarität

Wofür sollen nun aber die Gliedstaaten und wofür die Zentralregierung zuständig sein? Und wie soll die Kompetenzenaufteilung am zweckmässigsten vorgenommen werden? Hier kommt das berühmte Subsidiaritätsprinzip zur Anwendung. 

Doch, vorsicht! Nicht überall, wo „Subsidiarität“ draufsteht, ist auch Subsidiarität drin. – Dabei ist das Subsidiaritätsprinzip so einfach wie genial. Stellen Sie sich einen römischen Brunnen vor: Das Wasser, das in der obersten Schale keinen Platz mehr findet, fällt in die darunterliegende grössere und so weiter.

Die Schweizerische Bundesverfassung umschreibt dieses Prinzip der negativen Kompetenzenausscheidung in Artikel 3 wie folgt:

„Die Kantone sind souverän, soweit ihre Souveränität nicht durch die Bundesverfassung beschränkt ist; sie üben alle Rechte aus, die nicht dem Bund übertragen sind.“

Alles, was nicht Bundesangelegenheit ist, ist demnach Sache der Kantone. Damit ist lückenlos geregelt, wer wofür zuständig ist.

Um Bürgernähe zu demonstrieren oder zu simulieren, wie immer Sie mögen, hat sich auch die EU ein Subsidiaritätsprinzip ins Stammbuch geschrieben. Doch, anstatt sich des einfachen Prinzips zu bedienen, wie es in der Schweiz seit 1848, also seit dem Übergang vom Staatenbund zum Bundesstaat, erfolgreich praktiziert wird, schrieben die Regierenden in ihrer grenzenlosen Weisheit Folgendes in Artikel 5 des Vertrags über die europäische Union und des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union:

„Nach dem Subsidiaritätsprinzip wird die Union in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können, sondern vielmehr wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind.“

Demnach kann die Union erstens nach dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung innerhalb der Grenzen der Zuständigkeiten tätig werden, die ihr in den Verträgen übertragen wurden. Zweitens kann sie nach dem Subsidiaritätsprinzip in den Bereichen der geteilten Zuständigkeit nur tätig werden, sofern die in den Verträgen festgelegten Ziele auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind. Schliesslich hat sie den Grundsatz der Verhältnismässigkeit zu beachten, wonach ihre Massnahmen inhaltlich wie formal nicht über das zur Erreichung der Ziele der Verträge erforderliche Mass hinausgehen dürfen. Zu beurteilen, ob das europaweite Verbot von Glühbirnen, von Olivenölflaschen in sämtlichen Restaurants zwischen Lissabon und Bukarest oder der schmucken Duschmittel-Flakons in Hotels diese Bedingung erfüllt, überlasse ich dem geneigten Leser.

Sie haben es in der EU also – entgegen der erklärten Absicht – nicht mit einer klaren Regel für die Aufteilung von Kompetenzen zu tun, sondern mit einer Anweisung, nach welchen Kriterien die Diskussion darüber geführt werden soll. Doch der Nachweis, dass etwas „auf regionaler oder lokaler Ebene“ besser verwirklicht werden kann, ist in der Praxis schlicht und einfach nicht zu erbringen. Und wo jede Kritik an Brüssel als Rückfall in den dunklen Nationalismus und damit als „dem Geist der europäischen Einigung“ widersprechend gegeisselt wird, wird es nicht einmal versucht. Mit anderen Worten: Artikel 5 des EU-Vertrags ist Augenwischerei.

In der Schweiz haben die Kantone keine wie auch immer gelagerte Beweispflicht. Wo sie es für sinnvoll und nötig erachten, können sie zugunsten des Bundes auf eigene Kompetenzen verzichten. Wenn hingegen Volk und Stände – ein anderes Wort für Kantone – die Schaffung einer Bundeskompetenz ablehnen, dann gibt es keine Bundeskompetenz. Punkt. 

Die Schweizer Bundesverfassung ist vom Geist durchdrungen, Machtkonzentrationen zu verhindern. Macht soll geteilt und zerschlagen werden. Sie liegt entweder beim Staatsapparat oder bei den Bürgerinnen und Bürgern. Die Regierenden haben keine Macht über uns ausser jene, die wir ihnen zugestehen.

Friedensinstrument

Föderalisten suchen nicht die Grossmacht, sie glauben an die eigene Stärke. Wer überzeugt ist, dass sich mit Politik etwas bewirken lässt, dass es für Probleme sowohl gute wie auch schlechte Lösungen gibt, und dass es sozial gerecht ist, wenn die Guten belohnt und die Schlechten bestraft werden, der muss den Zentralismus ablehnen. Und der muss auch dagegen antreten, dass diejenigen, die sich für die schlechten Lösungen entschieden haben, über den Finanzausgleich von den Leistungen derjenigen profitieren, die eine gute Ordnungspolitik betreiben. Es muss möglich sein, anders zu sein. 

Innerhalb der EU wächst hingegen in wirtschaftlich starken Regionen und Staaten der Eindruck, dass die von ihnen erbrachte Leistung in einem schlechten Verhältnis zu dem steht, was sie zurückerhalten. Die nun geforderten Mindeststeuern für Unternehmen in den Staaten der OECD sind eine Absage an eine Politik, die denjenigen belohnt, der es besser macht als die anderen, indem sie unlautere Methoden unterstellt. Im Ergebnis läuft es darauf hinaus, dass derjenige von der Schwächung der Konkurrenz am meisten profitiert, der die schlechteste Politik betreibt. Damit wird ein nur schwer aufzuhaltender allgemeiner Niedergang eingeleitet.

Kritikern des Föderalismus oder Befürwortern zentralistischer Lösungen geht es angeblich darum, Doppelspurigkeiten zu verhindern oder, wie sie gerne behaupten, Synergien zu nutzen. Was in gewissen Einzelbereichen vielleicht zutreffen mag, erweist sich im Grossen als trügerisch. So erweist sich insbesondere ein dezentralisiertes Steuerwesen als Segen für die Steuerzahler. 

Wenn wir in der Schweiz die Entwicklung der Staatsaugaben oder der Verschuldung zwischen Gemeinden, Kantonen und dem Bund betrachten, dann zeigt sich eindeutig, dass Gemeinden mit dem Geld der Bürger wesentlich haushälterischer umgehen als die Kantone und erst recht der Bund. Die Gründe dafür sind einerseits der Konkurrenzkampf zwischen den Gemeinden, der auch ein Steuerwettbewerb ist, ja sein muss, und die stärkere direktdemokratische Kontrolle. Vom Föderalismus im Steuerwesen profitieren die Bürgerinnen und Bürger am meisten. Für Funktionäre mag er manchmal mühsam sein. Doch das ist Absicht.

Mit einem Werbespot für Föderalismus komme ich zum Schluss:

Ich sage ja zum Föderalismus, weil …

… ein von unten nach oben aufgebauter Staat maximale Mitsprache des Einzelnen sichert.

… politische Entscheide dort, wo sie von den unmittelbar Betroffenen gefällt werden, am Sachgerechtesten ausfallen.

… freie Mitbestimmung des Einzelnen nur garantiert ist, wo die politische Macht dezentralisiert, demokratisch eingegrenzt und überschaubar ist.

… der föderalistische Staatsaufbau die beste Voraussetzung für einen gesunden Staatshaushalt und für die Gleichheit aller Bürgerinnen und Bürger bietet.

… das Prinzip „Wer zahlt, befiehlt, und wer befiehlt, zahlt“ die Verantwortlichkeit für Staatsaufgaben am wirkungsvollsten zum Ausdruck bringt.

Föderalismus ist noch wichtiger als Demokratie. Föderalismus steht am Anfang des politischen Lebens, als Menschen anfingen, ihr Zusammenleben zu organisieren. Föderalismus kann man nicht schaffen oder gar per Dekret anordnen – man kann ihn bloss verteidigen.

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