Entkoppelte Demokratie

Die Demokratie ist den Deutschen viel wert, jedenfalls, wenn man den Verlautbarungen der unterschiedlichen Protagonisten glaubt. Eigentlich sollten sich daher alle links und rechts des politischen Spektrums und quer durch alle Parteien einig sein. Trotzdem möchten sich die einen die Demokratie „zurückholen”, während die anderen eben diese Demokratie mit Zähnen und Klauen gegen die Erstgenannten verteidigen wollen. Wie geht das zusammen? Reden wir hier von zwei unterschiedlichen Demokratien?

Dazu einige Überlegungen:

Moderne Demokratien nach westlichem Vorbild sind immer eine Mischung aus elitären und plebiszitären Elementen. In einer repräsentativen Demokratie herrscht zunächst einmal eine Elite und nicht das Volk. Dennoch kann diese Elite nicht gegen das Volk (= Plebs – daher plebiszitär) regieren, denn sie muss sich und ihre Politik in regelmäßigen Abständen in Wahlen und gegebenenfalls Abstimmungen zur Disposition stellen. 

Nach Popper ist der Wahltag eine Art „Volksgericht” über die Politik der Regierung und stellt somit sicher, dass sich die Eliten nicht zu sehr vom Volk entfernen. Plebiszitäre und elitäre Elemente halten sich also gegenseitig die Waage. Man könnte es als eine erweiterte Form der vertikalen Gewaltenteilung bezeichnen, wobei mir dieser Begriff dafür zu festgelegt erscheint. Die angelsächsische Bezeichnung „Checks & Balances“ trifft es besser.

Soviel zur Theorie.

Bürgerferne

In der Praxis hat sich jedoch in vielen europäischen Demokratien das Gleichgewicht sehr zu Ungunsten des Plebiszitären verschoben. Das hat eine Reihe von Gründen. Der Bedeutendste ist sicherlich die zunehmende Verlagerung der nationalen Politik an supranationale Organisationen, wie die EU. 

Damit einher ging auch eine Verlagerung des Abstimmungsprozesses: Während man seine Politik vorher primär vor dem heimischen Parlament und dem Wähler rechtfertigen musste, rückte nun immer mehr die Abstimmung mit den europäischen Partnern und der wachsenden Brüsseler Technokratie in den Vordergrund. Der heimische Wähler wurde dadurch schleichend entmündigt, denn die mühsam erreichten europäischen Kompromisse mussten zuhause als alternativlos verkauft werden.

Ein weiterer Grund für die Schwächung des plebiszitären Elementes war, zumindest in Deutschland, die Normalisierung lagerübergreifender Koalitionen. Zum einen wurde dadurch die Abwahl einer ungeliebten Regierung durch den Wähler fast unmöglich und zum anderen erfordern solche Regierungen ebenfalls einen komplizierten Einigungsprozess hinter den Kulissen, der sich dann in einem umfang- und detailreichen Koalitionsvertrag niederschlägt. 

Der Mechanismus ist dabei der Gleiche, wie in Brüssel: Der Abstimmungsprozess verlagert sich weg vom Parlament, weg vom Bürger und, in diesem Fall, hin zum Koalitionsausschuss. Was hier ausgehandelt wurde, ist abermals alternativlos und den Protagonisten bleibt nur noch, das zu verkaufen, was ohnehin bereits beschlossen ist.

Spiel über Bande

Nun möchte man vielleicht einwenden, „Ja, schade, aber so ist das nunmal, die europäische Einigung, die Globalisierung, die komplizierten innenpolitischen Verhältnisse, all das hat diese Schritte notwendig gemacht”. 

Dem möchte ich hier jedoch widersprechen, denn wenn von den regierenden politischen Eliten neue Institutionen geschaffen, zu denen dann wichtige Entscheidungsprozesse verlagert werden, so kann man davon ausgehen, dass dies nicht gänzlich ohne Eigeninteresse erfolgt. So eröffnete die EU den Eliten auch die Möglichkeit, Politik „über Bande” zu spielen, also Brüssel für Entscheidungen verantwortlich zu machen, die man eigentlich hinter den Kulissen selbst initiiert hat. Auf die gleiche Weise kann man sich hinter Koalitionsentscheidungen verstecken. Der wahre Verantwortliche ist für den Wähler nicht mehr erkennbar und Kontrollmechanismen werden umgangen. Auch so kann man „Durchregieren”.

Ein Koalitionsausschuss ist jedenfalls im Grundgesetz nicht vorgesehen und dennoch ist er heute wichtiger als das Parlament. Gleiches gilt natürlich für den ganzen Brüsseler Apparat. 

In der Folge jedenfalls haben wir heute zwei sehr unterschiedliche Vorstellungen von Demokratie, zwei unterschiedliche Demokratiebegriffe, mit denen die Protagonisten hantieren. Und diese unterschiedlichen Auffassungen erklären viel vom wachsenden Unmut in großen Teilen der Bevölkerung und warum es zur Zeit so viele Parteineugründungen gibt, während die andere Seite Tausende auf die Straße bringt, um „ihre” Demokratie zu verteidigen. 

Eure oder unsere Demokratie?

Nach Auffassung der regierenden Eliten bedeutet Demokratie heute nämlich in erster Linie ein regelgebundener liberaler Verfassungsstaat, der jedoch durch die vielen Abhängigkeiten, all die komplizierten, gemeinsam ausgehandelten Regelungen und internationalen Vereinbarungen so komplex und unübersichtlich geworden ist, dass nur noch die Eliten in der Lage sind, all das zu überschauen und zum Wohle aller zu regeln.

Plebiszitäre Kontrolle halten diese daher nicht mehr für machbar, nicht mehr für zeitgemäß. Und da man sich ja ohnehin an die selbstgeschaffenen Regeln hält (oder es zumindest versucht), erscheint dies auch nicht mehr notwendig. Das Volk darf gerne abstimmen, aber bitte doch so, dass die bereits beschlossene Politik nicht gefährdet, sondern bestätigt wird. 

Ein Bürgerrat, der Vorschläge ausarbeitet für ein Gesetzesvorhaben, was insgeheim bereits in Planung ist, ist daher als vermeintlich plebiszitäres Element höchst willkommen, ein Protest von Bauern, die wegen der herrschenden Politik um ihre Existenz kämpfen, hingegen nicht. Wenn das Volk die Weisheit der Eliten in Frage stellt und sich „seine” Demokratie sogar zurückholen will, wird dies regelrecht als Bedrohung empfunden.

Mehr noch: Es ist ein Angriff auf ein sorgfältig und aufwändig austariertes Regelwerk, das die europäischen Eliten über Jahrzehnte untereinander ausgearbeitet haben und was sie heute fälschlicherweise für den eigentlichen Kern der modernen westlichen Demokratie halten.

Wer das ernsthaft infrage stellt, gefährdet die bestehende Ordnung, gefährdet die Stabilität des ganzen Systems und muss daher entweder dumm und naiv oder von außen gesteuert sein. Und genauso fällt dann auch die Reaktion aus.

Vom Mündel zum Staatsfeind

Wenn die Elite also von einer wehrhaften Demokratie spricht, oder sich eine solche wünscht, so meint sie die Verteidigung des Status Quo, in dem sie sich einerseits bequem eingerichtet hat und den sie andererseits, aus durchaus ehrlich gemeinten Gründen, für alternativlos hält.

Dieses „neue” Demokratieverständnis ist hochgefährlich, daran darf kein Zweifel bestehen. Denn wenn das Volk nicht mehr über die Richtung der Politik abstimmen darf, dann tut es natürlich jemand anderes, und das sind die überall entstandenen technokratischen Organe (vor allem auf europäischer Ebene), die keine klassische demokratische Legitimation mehr besitzen.

Und schon finden wir uns in einer Herrschaftsform wieder, wo der Bürger vom Souverän zum unmündigen Mündel des Staates degradiert wurde, der von einer nur noch sich selbst verantwortlichen Elite erzogen und gelenkt werden muss, damit er ja auch einsieht, was den Eliten ohnehin unvermeidlich erscheint. Wehrt er sich jedoch dagegen, mutiert er unmittelbar vom unmündigen Mündel zum höchstmündigen Staatsfeind.

Erosion

Sie sind wohlwollend, die neuen Herrscher, sehen sich als Wächter „ihrer” modernen Demokratie, doch wer sie kritisiert, ist der Feind. Und ja, das alles erinnert immer mehr an den Sozialismus, wie man ihn von Osteuropa kannte, doch ganz so weit sind wir glücklicherweise noch nicht. Dass dies allerdings dauerhaft so bleibt, oder sich gar wieder zum Besseren wendet, darauf würde ich nicht wetten, denn in der Entkopplung der Elite vom Volk ist der totalitäre Keim bereits angelegt und der gelegentlich zu vernehmende Tonfall gegenüber dem aufmüpfigen Volk gibt durchaus Anlass zur Sorge.

Dabei ist, wie gesagt, eine Elitenherrschaft ja durchaus gewollt und auch sinnvoll – allerdings braucht sie als Regulativ eine funktionierende regelmäßige Überprüfung und Legitimation durch das Volk. Denn der Plebs mag zu dumm sein um selbst zu regieren und all die Sachzwänge und Zusammenhänge zu durchschauen, er merkt jedoch irgendwann, wenn er schlecht regiert wird und die Herrschaft korrumpiert.

Dass diese Selbstverständlichkeit heute in Frage gestellt wird und die herrschenden Eliten ihre Kritiker eher zum Staatsfeind erklären, als ihren einmal eingeschlagenen Kurs zu ändern, zeigt, dass hier in den letzten Jahrzehnten gehörig was schief gelaufen ist und wir dringend systemischer Korrekturen bedürfen.

Denn dass das elitäre Element der Demokratie immer stärker wurde, während das Plebiszitäre gleichzeitig immer mehr zur bloßen Folklore verkam, rächt sich nun gleich in mehrerer Hinsicht: Noch bevor das Vertrauen erodierte, erodierte nämlich zunächst die Qualität der Politik, denn natürlich ist die gegenwärtige deutsche und europäische Politik weder alternativlos, noch besonders erfolgreich. Sowohl wirtschaftlich als auch sicherheitspolitisch (nach innen, wie auch nach außen) bietet sich dem politischen Beobachter ein eher trauriges Bild. Überhaupt klafft zwischen Anspruch und Wirklichkeit sowohl bei, deutscher, als auch europäischer Politik, eine gigantische Lücke. Überall wird man den hochtrabenden, selbstgesteckten Ansprüchen nicht mal im Ansatz gerecht. 

Man hat sich verrannt und es bräuchte einen Neustart, doch von einer Kurskorrektur ist nirgendwo was zu erkennen. Diese hätte mehr oder weniger geräuschlos, schon vor langer Zeit stattfinden können, wenn, ja wenn sich die Elite nicht entkoppelt hätte. Denn man kontrolliert sich eben nicht selbst, sondern bestätigt sich im Zweifel nur gegenseitig seine (falsche) Politik.

Kontrollverlust

Die Stärke der Demokratie liegt nicht darin, dass in irgendeiner Weise „das Volk” regiert (das tut es nicht), sondern darin, dass die Macht kontrolliert und begrenzt wird. Nur durch regelmäßige und effektive Kontrolle durch Wahlen, die Poppers Vorstellung von einem „Volksgericht” gerecht werden und (im Idealfall auch) Abstimmungen, werden Fehlentwicklungen zeitnah korrigiert. Das mag für die immer selbstherrlicher agierenden Eliten schmerzhaft sein, aber selbst kontrollieren können sie sich nicht, und da auch jeder selbst geschaffene Kontrollmechanismus irgendwann korrumpieren würde, bleibt am Ende nur das Volk für diese Aufgabe. 

Das wiederum führt dann dazu, dass letztlich Politik zum Wohle des gesamten Volkes gemacht wird, wodurch auch die Elitenherrschaft wiederum die Legitimation erfährt, die ihre gerade abhanden kommt. Hinzu kommt, dass das Gefühl, die politischen Geschicke des Landes beeinflussen zu können, demokratisches Selbstvertrauen und Zufriedenheit schafft, während das Gefühl der Ohnmacht nur zu Frustration und Wut führt.

In guten, funktionierenden Demokratien ist man sich dieses Zusammenhangs bewusst. Gute Demokratien verfügen daher über intakte „Checks & Balances” auch zwischen Eliten und Volk, die selbst in der Krise nicht in Frage gestellt werden.

In entkoppelten Demokratien sind diese „Checks and Balances” zu einem großen Teil verloren gegangen. In der Folge leistet die Demokratie nicht mehr, wozu sie eigentlich in der Lage wäre, nämlich Fehlentwicklungen rechtzeitig zu korrigieren und die Zufriedenheit mit dem politischen System zu stärken (und damit z.B. auch gegen ausländische Einflussnahme zu immunisieren). Die Folgen treten nun immer offensichtlicher zutage.

Es sind nicht jene, die wieder mehr Rückkopplung an den Wähler, wieder mehr „Checks & Balances” fordern, sondern jene, die sie zurückweisen, die man als Feinde der Demokratie bezeichnen muss.

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3 Kommentare. Leave new

  • Ralf Schmidt
    30. Januar 2024 16:41

    Dem ersten Teil mag ich noch zustimmen, dem letzten Teil nicht.
    Ich kann meinem eigenen Verstand vertrauen , daher brauche ich keine selbsternannte „Elite“, die mir die Welt erklärt.
    Entscheidungen sollten daher immer auf der Ebene gefällt werden, die sie betreffen.
    Subsidarität wäre hier das richtige Stichwort.
    Und am Ende so wenig Staat wie möglich und nur so viel wie nötig.
    Die Menschen wissen selber, was für sie gut ist. Wir sind erwachsen!!

    Antworten
    • Dies bezweifle ich. Die allermeisten Menschen sind maximal „teilerwachsen“. Sie informieren sich nicht umfassend, sind häufig rel. ungebildet, ideologisch verblendet, egoistisch, wissen vielleicht höchstens was kurzfristig „gut“ für sie persönlich ist (oder was sie dafür halten).
      Leider sind solche Menschen momentan überwiegend in verantwortlichen Positionen in der Regierung, gewählt von genau denselben.
      Es ist ein Dilemma!

      Antworten
      • Ralf Schmidt
        1. Februar 2024 16:44

        Zweifel sind gut. Sie sind Vorraussetzung von wissenschaftlichem Denken.
        Aber zu glauben, das das eigene Wissen größer ist als das der anderen zeugt von einer gewissen Ignoranz darüber, dass man selbst nur sehr wenig wissen kann.
        Man zeigt dabei mit einem Finger auf andere und übersieht die drei, die auf einen selbst zeigen.

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