Es ist schwer, jemanden aufzuwecken, der sich schlafend stellt

Stellt man die politische Wetterkarte über Europa mal wie beim Wetterbericht dar, dann würden man vielleicht Deutschland im Auge eines riesigen Sturmsystems sehen.

So fühlen sich viele Deutsche offenbar auch – alles ist prima, die Sonne scheint, uns geht es hier gut. Zumindest hören sich viele so an, wenn man sie auf die allgemeine Lage anspricht. 

Dass sich global alle Länder neu aufstellen und ihren Platz in der globalen Hackordnung neu zu erobern versuchen, scheint in diesem wundersamen Land keiner mitzukriegen. Ja, es gibt erste Demonstrationen, aber die Lage ist insgesamt immer noch ziemlich ruhig angesichts der Zumutungen, die die neue Regierung aus Naivität mit sich machen lässt oder den Bürgern in der Tat ideologisch antun möchte. Dabei stürzt sich Deutschland vor den Augen der Welt ökonomisch ins Schwert. Die Welt blickt kurz hin, seufzt fassungslos und wendet sich dann zügig wieder den eigenen Angelegenheiten zu. 

Globale Gamechanger

Ich habe mir inzwischen die Erklärung zurecht gelegt, dass ganz viele in Deutschland ihre alten Träume einfach weiter träumen wollen, egal, was auf der Welt passiert. Dafür wird gnadenlos auf die Schlummertaste gehauen und alles, was einen beeinträchtigen könnte, ignoriert. 

Es gab in diesem Jahr bereits zwei fundamentale Gamechanger, die eigentlich jedem hätten die Augen öffnen können: Der Krieg zwischen Russland und der Ukraine zeigt, dass in Europa keine verbindliche Sicherheitsstruktur existiert und nun eine Abspaltung Russlands von Europa vorgenommen wird. Russland wird in die Arme Chinas getrieben. Und das wird Europa sehr wahrscheinlich noch bitter bereuen: Der Verlust Russlands wird eine schwere Bürde. 

Und die Sprengung der Gaspipelines in der Ostsee war der zweite Gamechanger. Unabhängig von den Untersuchungen zur Täterschaft ist dieser Anschlag der ultimative Stresstest für die deutsche Wirtschaft und damit für Europa, denn Deutschland ist das ökonomische Rückgrat zumindest der EU. 

Statt nun kraftvolle Debatten über die neuen Rahmenbedingungen und Herausforderungen zu führen und sich neu aufzustellen, werden Sündenböcke (z.B. „Putinversteher“) gesucht und ein fröhliches „Weiter so!“ ausgerufen. Psychologische Übertragungen eigener Ängste auf andere, die Fragen stellen oder Zweifel äußern (hervorragende demokratische Qualitäten übrigens), führen zu gegenseitiger Sprachlosigkeit. Da sind viele zumindest im Halbschlaf. Und der Traum ist auch wirklich einer mit Feen und Trollen. 

Traumwelten im Stresstest

All diese Systeme, die jetzt unter diesem Stresstest – wenn auch in Zeitlupe – kollabieren, wie z.B. die Zuwanderungspolitik oder die Gemeinschaftswährung, stehen seit mindestens 15 Jahren in der Debatte, zumindest bei strategischen Denkern. Manche stehen schon seit den 80er Jahren zur Debatte, z.B. das Rentensystem: verschoben, verdrängt, geleugnet und oft nicht verstanden. Jede Partei wollte an die Regierung kommen, aber keine wollte die Augiasställe ausmisten. Und nach der personifizierten Schlummertaste Angela Merkel, kam die Hosentaschenausgabe Olaf Scholz. Es scheint, dass die Deutschen mit Absicht immer diejenigen wählen, die sie am wenigsten aufwecken und ihnen ermöglichen, ihre Illusionen aufrecht zu erhalten. 

Die Anarchie ist immer nur drei warme Mahlzeiten entfernt

Was hält die Demokratie und den Kapitalismus zusammen? – Individuelle Freiheit, die Herrschaft des Rechtsstaats und freie Wirtschaft als Wettbewerb. Darauf könnte man sich an vielen Orten in der Welt einigen. Deutschland hat eine weitere Säule, die für es selbst viel wichtiger ist, als viele denken: den Sozialstaat. Deshalb gibt es den rheinischen Kapitalismus, die soziale Marktwirtschaft. Der Kapitalismus wurde der deutschen, eigentlich mitteleuropäischen ökonomischen Grundstruktur angepasst – einer hohen Wettbewerbsbereitschaft vieler kleiner Einheiten, die jahrhundertelang in der Kleinstaaterei gelernt hatten, sich miteinander zu vergleichen, aber immer auch Maß zu halten. 

Diese historisch gewachsene ökonomische Stärke Deutschlands, die sich von den anderen europäischen Ländern im Süden und im Westen Europas, die ihren Wohlstand eher ihren Kolonien verdanken, unterscheidet, hat sich in eine besondere Art des Wirtschaftens weiterentwickelt, die in ganz Mitteleuropa so oder so ähnlich gepflegt wird. Das europäische Binnenland hat sich dabei anders entwickelt als das europäische Küstenland. Das war eine konfliktträchtige Konstellation im 20. Jahrhundert. Nach den zwei Weltkriegen und dem Zusammenbruch der Kolonialreiche haben sich die europäischen Länder ganz gut hinter dieser mitteleuropäischen Wirtschaftsweise versammelt, auch die zusammengefallenen ehemaligen Imperien, weil sie sehr von ihr profitierten. Deutschland ist mit Abstand der größte Einzahler in die EU.

Kultureller Bürgerkrieg in Deutschland 

Die Deutschen wurden als einträgliches Gewerbegebiet im Herzen Europas gelobt und sahen sich endlich wieder wohlgelitten. Nie wieder sollten die anderen in Europa mit Deutschland hadern – auch das steckt im „Nie wieder!“, genauso wie der Antifaschismus oder auch der Pazifismus. 

Nun ist Deutschland ein Hort überbordender Toleranz, die Tradition und Lebensweise maximal herausfordert. Manch einer überdreht moralisch und will das deutsche Volk und seine Kultur ganz abschaffen und reitet immer wieder neue hanebüchene Attacken auf die etwas lädierte Identität der Leute. 

Wie sehr das Bedürfnis, endlich von der Welt geliebt zu werden, dominiert, erkennt man daran, wieviel so mancher bereit ist, herzuschenken und aufzugeben, auch wenn die eigene Truppe im Hintergrund nicht mehr nur murrt und mit den Füßen scharrt, sondern laut und deutlich sagt, dass es das nicht mehr will. 

Diese „hässlichen Deutschen“ mundtot zu machen, ja, von ihnen endlich „befreit“ zu werden, und dafür selbst um so strahlender als „guter Deutscher“, oder besser: „Weltbürger ohne Nationalität“ dazustehen, scheint mir der schlimmste innenpolitische Reflex zu sein. Daraus entspringen kollektive Erziehungsphantasien genauso wie heftigste Beschimpfungen von Mitmenschen, die andere Ansichten vertreten. Vielleicht überträgt sich hier Selbsthass auf das Volk, dem man entstammt. Vielleicht ist die Generation der in den 60er und 70er Jahren Geborenen die narzisstischste, die man sich vorstellen kann, was allerdings durch das Dickicht der Moral-Monstranzen, die man vor sich herträgt, kaum zu erkennen ist. Also bleibt nur, zu betrachten was abläuft und das zu bewerten.

Deutschland muss auf die Couch – im Westen 

Ich finde, Deutschland muss dringend auf die Couch. Ohne Fisimatenten, brachial und mit einer Härte in der Sache, die nur aus tiefer Liebe kommen kann. 

Zur Zeit sieht das noch so aus, dass der Westdeutsche mitleidig und etwas angefressen auf den Ostdeutschen blickt und der Meinung ist, der habe nach mittlerweile über 30 Jahren die Demokratie noch immer nicht verstanden und sei undankbar. Und der Ostdeutsche blickt ebenso mitleidig und deutlich angefressener auf den Westdeutschen und denkt sich still und leise: „Dr Wessi vrstähdds eenfach ni.“ 

Dann seufzt er kurz und sieht zu, dass er in seinem Umfeld die nötigen Anpassungen hinbekommt, um mit seiner Familie gut durch die neue Zeit zu kommen. So, wie es fast alle Europäer tun. 

Es ist nicht von ungefähr, dass Ost-West-Bilder wieder auftauchen. Wir erleben eine neue Mauer wie damals im Kalten Krieg, ein neuer Ost-West-Konflikt – global. Die westliche Welt (G7 plus Kanada und Australien) bringt zusammen nicht einmal eine Milliarde Menschen auf die Beine. Die BRIC-Staaten bereits über drei Milliarden Menschen – und das ohne die muslimischen Staaten wie Saudi-Arabien, Türkei oder die VAE, die sich den BRICS anschließen. Die Globalisierung zerfällt in mehrere Weltregionen und es bildet sich eine weltumspannende Rohstoff-Allianz. Von Europa wird nicht so viel übrig bleiben, wenn es nicht mehr am fast vollständigen Welthandel partizipiert. Das kann man gut am Beispiel Italiens seit 2001 nachvollziehen. Deutschland speist seine staatlichen Ausgaben zu knapp 50 Prozent aus den Einnahmen, die direkt oder indirekt mit seiner Exportleistung zusammenhängen, wenn es nicht auf Schulden zurückgreift. Deutschland war das einzige Land weltweit, das diesbezüglich mit China einigermaßen mithalten konnte. 

Die Ostdeutschen sind im europäischen Mainstream, die Westdeutschen isolieren sich

Was passiert, wenn diese Exportleistung, die mehr ausmacht als die von Frankreich und dem Vereinigten Königreich zusammen, drastisch nach unten geht, weil die Wettbewerbsfähigkeit aufgrund eskalierender Rohstoff- und Energiepreise den Bach runter geht? Es gibt einen Bevölkerungsteil, der über einen reichen Erfahrungsschatz verfügt, was passiert, wenn das eigene Land deindustrialisiert wird: Deutschlands Osten ist aktuell hellwach und weiß, was kommt. 

Er wird aber mit Beschimpfungen vorbeugend verunglimpft, damit er keinen Weckruf nach Westdeutschland, der vermeintlichen Insel im Auge des Sturms, aussenden kann. Die Ostdeutschen sind mit vielen ihrer Ansichten nüchtern in der Realität angekommen und passen hervorragend in den inzwischen in ganz Europa neu aufkommenden Mainstream. Aber wie sollen sie auch die anderen Deutschen wecken, die damals den Systemwettstreit gewonnen hatten, wenn diese sich entschlossen schlafend stellen? Der alte Traum ist einfach so schön, sie wollen ihn eben weiterträumen, egal was auf der Welt passiert … Schlummertaste! 

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3 Kommentare. Leave new

  • Peter Ackermann
    11. November 2022 10:08

    Eine aktuelle Beschreibung, die ich teile.
    Freue mich über weitere Texte.

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  • Ich teile Ihre Einschätzung, nur in der Begrifflichkeit würde ich genauer sein. Sie schreiben von West- und Ostdeutschen, meinen aber West- und Mitteldeutsche. Ostdeutschland gibt es seit 1945 ff., d.h. seit der Vertreibung und der De-Facto-Annexion nach dem 2. Weltkrieg, nicht mehr, die Ostdeutschen sind, wenn sie noch leben und noch Kindheitserinnerungen an den deutschen Osten haben, heute weit über 80. Übernimmt man den heutigen Sprachgebrauch von West- und Ostdeutschland wird man – wenn auch unfreiwillig – zum Helfer der Ausblendung der mehrhundertjährigen Geschichte und Kultur des deutschen Ostens.

    Antworten
  • Sehr treffend auf den Punkt gebracht. Diese Ignoranz und Besserwisserei, die bei vielen Westdeutschen vorhanden ist, wird mit der Inkompetenz dieser Regierung schneller zum Untergang führen als der Großteil der Wessis glaubt.

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