Fakenews, Hatespeech und die Realität

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Für Leser:

Das Selbstverständnis jeder Gesellschaft lebt nicht zuletzt von ihren Außenseitern. Sie bewundert, verehrt, beneidet, fürchtet, schmäht, verfolgt sie – alles in wechselnder Folge oder zugleich. Jede mehr oder weniger geregelte „Normalität“ kennt das Verlangen nach dem Bruch von Regeln und Gesetzen, den Wunsch nach Unerlaubtem, die Neugier aufs Unerlebte, aufs Abenteuer. Wird abweichendes Verhalten getadelt, gar bestraft, wollen Kollektive nicht nur den Abweichler zügeln und womöglich auf den Pfad der Tugend zurückzwingen, sie wollen vielmehr ihre Vorstellung von sich selbst konsolidieren und sich der Geltung von Gesetzen und Moral vergewissern – sie wollen sich „ins Recht setzen“.

Der Pranger und die Guten

Besonders wirksam – weil öffentlich praktiziert – ist der Pranger: Strafe und Ritual zugleich. Der zur Schau gestellte Verurteilte verliert seine Würde, seinen gesellschaftlichen Rang, womöglich lebenslang seine wirtschaftliche Existenz. Wer ihn beschimpft, bespuckt, schlägt, mit Steinen bewirft, demonstriert vor aller Augen und vergewissert sich so, dass er zu den Braven, Untadeligen, ja Unschuldigen gehört. Er erhöht sich, indem er erniedrigt. Dieses uralte, bis heute unausrottbare Ritual stellte vor 2000 Jahren ein Außenseiter in Frage: „Wer unter euch ist ohne Schuld – der werfe den ersten Stein!“

Sind anstelle der Dorfanger, Richtstätten, Märkte heute die „Social Media“ Schauplätze solcher Prozesse? Oder sind sie nur Sammelpunkte für Klatsch und Tratsch, wie es seit jeher die Waschplätze überall auf der Welt waren? Das vom Aufprall nasser Gewebe auf Steinen begleitete „soziale Rauschen“ der Gerüchte, Anekdoten, Horrormeldungen und Liebesdramen, war nicht mehr und nicht weniger als Beziehungsmanagement. Frauen und Mädchen hechelten allgemeine Wertvorstellungen und individuelle Haltungen und Handlungen durch. Ähnliches geschah in Küchen, Spinnstuben, Kränzchen und anderen Versammlungsorten, die dem weiblichen Geschlecht weitgehend vorbehalten waren, später auf Pausenhöfen in Schulen oder am Arbeitsplatz. Alle Versuche, dies zu unterbinden, um die Effizienz zu steigern, schlugen fehl – die Produktivität der Frauen sank nachweisbar, wenn man ihnen das Reden verbot.

Im Rausch der Zahlen

In modernen Gesellschaften sind viele geschlechtsspezifische Rollenmuster in der Ökonomie eingeebnet. Sind sie es auch in der Kultur? Beim Konsum von Medien etwa? Dazu gibt es einige soziologische Befunde; sie dürften sich je nach Interessenlage zwischen feministischen, LGBTQ- oder anderen Konnotationen ziemlich unterscheiden. Indessen darf sich, wer die „Frage, wer mit wem schlief“ erörtert, immer noch einiger Beachtung sicher sein. Dasselbe gilt fürs Skandalisieren mehr oder weniger Prominenter, kurz „sich das Maul zu zerreißen“ ist ein unausrottbares Ritual. 

Für die Medien war es zu allen Zeiten ein wichtiges Geschäftsfeld. Die ambivalenten Ziele der Klatschenden und Tratschenden sind unerschöpfliche Quellen. Im Zeitalter der „Aufmerksamkeitsökonomie“, gesteigert durch „Social Media“, blüht der Weizen des Sich-selbst-darstellens wie nie zuvor; fast jede(r) erhofft sich beim Auftritt im Facebook, bei Twitter oder anderen Portalen, möglichst stark beachtet zu werden. Was Presse und Einweg-Programmen die Quote, ist dem Twitterer die Zahl der „Views“, „Likes“, „Follower“, „Klicks” oder „Mentions”. Fast keine Korporation, sei sie Regierungsinstanz, Partei oder Unternehmen, kann diese Kanäle ignorieren. 

Die Mehrheit der Nutzer will sich damit des wohligen Gefühls vergewissern, in sozialem Einvernehmen zumindest eines Teils der „User“ zu schwimmen, also eines – schlimmstenfalls kleinen – Kollektivs. Manche sind allerdings darauf trainiert, mittels apriorischer „höherer Moral“ – also religiös, wissenschaftlich oder von Mehrheiten zementierter Glaubenssätze – den Dialog zu dominieren; aus so gewonnener Deutungshoheit leiten sie einen allgemeineren Anspruch auf Führung ab. Zu erkennen ist das oft am Gebrauch des „wir“ in Wendungen wie „Was wir dringend brauchen“, „Wir müssten“, „Wir sollten“, gar „Wir fordern, verlangen, erwarten, …“. Wird ihnen widersprochen, reagieren sie aggressiv.  

Sie bezeugen damit tiefe Unsicherheit sowohl den Wechselfällen des Lebens als auch den eigenen Möglichkeiten gegenüber. Dagegen braucht Mut und Selbstvertrauen, wer die Grenzen der Ideologie und eigener Bedürfnisse und Ängste überwindet.

Armeen von Gummibärchen 

Trollen fehlt dieses Verständnis. Ihnen liegt nur und ausschließlich an der Selbstdarstellung. Sie wollen Aufmerksamkeit um jeden Preis. Sie schleimen, giften, faseln, salbadern, beleidigen, biedern sich an, kriechen, prahlen, lügen, schmähen, verleumden, heucheln – kurz: sie steigern sich ins ganze von Molière im „Tartuffe“ beschriebene Repertoire der Strategien, mit denen sie sich zu Herren im fremden – öffentlichen – Haus machen wollen. Es bleibt ein ihnen fremdes Haus, aber sie lassen sich gern von jeder Macht – sei’s Religion oder Staat – in Dienst nehmen, die ihnen gesteigertes Selbstgefühl und das Recht der Inbesitznahme verspricht. Sie scheitern, weil sie keinen Zugang zu wirklichem Vertrauen haben. Sie neiden uns das Vertrauen in die Freiheit, deshalb versuchen sie, es zu paralysieren.

Es gibt relativ wirksame Gegenwehr: Sie ihre Suada singen lassen, ohne darauf zu reagieren, kein Futter für ihre Häme, keines für ihre Geltungssucht. Natürlich kann, wer ’s mag, Trollgefechte als Spiel nehmen – falls nichts besseres zu tun und Sucht halbwegs ausgeschlossen ist. Trolle haben dabei gute Karten. Sie sind darin geübt, „Soziale“ Medien zu strapazieren: Imponiergehabe, Beleidigungen und Drohungen für Gegenspieler, üble Nachrede, Verleumdungen, Unterstellungen, Rufmord, Greuelpropaganda, Hetze, Rassen- und Klassenhass, Geschichtsklitterung, Gerüchte, Klatsch und Tratsch – kurz: Das ganze Repertoire der Sünden gegen das achte Gebot („Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten“) erscheint ihnen gerechtfertigt, um ihr Ego zu ertüchtigen. Am liebsten mit korporativer Rückendeckung von Parteien, NGO oder Regierungen. Der Troll taugt zum perfekten Kontrolleur und Denunzianten: Das Übel liegt immer bei den anderen.

Vom Wir zum Ich

Das ist nicht schön. Leider ist es menschlich, denn es gibt keine Belege dafür, dass Menschen ihre selbstgewisse Wahrnehmung massenhaft kritisch reflektierten: Der Balken im eigenen Auge wird gewohnheitsmäßig über dem Splitter im Auge des anderen übersehen. So steht ‘s in der Bibel, die vielleicht nicht direkt göttliche Wahrheiten verkündet, aber beachtliches Erfahrungswissen versammelt. Und ja, der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Dafür gibt es meines Wissens keinen seriösen Gegenbeweis. Neuere Erkenntnisse einschlägiger Disziplinen (Anthropologie, Ethnologie, Psychologie, Neurologie …) sprechen jedenfalls dafür.

Jeder und jede unterliegt den naturgesetzlichen Bedingungen eigener – subjektiver – Wahrnehmung. Überlassen wir – Sie, geneigte Leser, und ich – dem Leben, der Realität, die Entscheidung, was wahr ist. Vertrauen wir vor allem nicht auf „letzte Wahrheiten“: „Nichts bleibt, mein Herz, und alles ist von Dauer“, sagt Erich Kästner. 

Misstrauen wir allem, was auf Feindbilder und Sündenbockrituale hinaus will. Entmutigen wir die Trolle und ihre staatlichen, ideologischen, religiösen Scharfmacher durch Schweigen, wo es ihnen nicht passt – und verständigen Widerspruch, wo sie ihn nicht erwarten – etwa indem man deutliche Widersprüche innerhalb ihres Denkens, Redens, Handelns mit Zitaten aufdeckt – Argo Nerd ist darin virtuos – oder mit dem Blasrohr der Satire bis zum Platzen schillern lässt. 

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