Das System der demokratischen Widersprüche #3
Wie faschistische Staatsauffassung in die Demokratie der Nachkriegsordnung nahtlos überführt werden konnte, lässt sich gut ablesen an einem der wenigen Denker des «geistigen Wiederaufbaus» nach 1945, der, obgleich nicht emigriert, die Zusammenarbeit mit den Nazis verweigert hatte: Theodor Litt (1880-1962). Er war ein führender Repräsentant des von der Weimarer Zeit über das Dritte Reich bis weit in die unmittelbare Vergangenheit vorherrschenden, sich geisteswissenschaftlich nennenden Historismus.
Als Litt in «Staatsgewalt und Sittlichkeit» 1942 – erstmals 1948 veröffentlicht – den Nationalsozialismus als Unrecht ablehnen will, muss er wenigstens indirekt zugeben, dass er dafür kein Kriterium besitze. Sein Dilemma: Sollensfragen seien nicht durch allgemeingültige Überlegungen zu lösen, sondern müssten aus der Geschichte «herausgelesen» werden. In der Politik sei die historische Instanz der Entscheidung die Gewalt, weil erst siegreiche Gewalt zwischen gebotener und verbotener Gewaltausübung unterscheide.
Damit wird Kritik unmöglich. Litt bleibt nur die theoretisch unbegründete, ohnmächtige, ja rein willkürliche Empörung, dass Nationalsozialismus nicht sein solle.
Litt ändert seine Haltung nicht. 1958 wettert er gegen die «Staatsfremdheit oder Staatsfeindschaft» der liberalen Auffassung Humboldts, die den Staat zum «Mittel» degradiere und ihm den «Eigenwert» abspreche. Eine «beschränkte Wirksamkeit» des Staats gäbe es nicht, denn «sein Leben pulsiert in jedem Akt des Denkens, Wollens und Handelns»: Gewalt sei nicht bloß notwendig, um «Ordnungsbrecher, Rechtsbrecher und Friedensbrecher» abzuwehren, sondern auch, um angesichts divergierender Ideen zum Gemeinschaftsleben die «Herstellung der Einheit» zu bewirken.
Demokratie ist bei Litt nicht die liberale Beschränkung der Staatsgewalt, sondern eine Organisation, in der ohne offen gewalttätige Kämpfe, vielmehr durch eine Abstimmung der Mehrheitspartei die Möglichkeit gegeben wird, «den Staat in der ihr gemäßen Weise zu gestalten und zu leiten», also ihre Idee der Einheit zu verwirklichen. Das ist nichts als ein institutionalisierter Bürgerkrieg.
Liberal und faschistisch zugleich
Litt gibt dem totalitären Staatsprinzip eine demokratische Form und weist damit auf den Strukturzusammenhang zwischen gegenwärtigem demokratischem Wohlfahrtsstaat und Faschismus hin. Der Strukturzusammenhang zeigt sich in der Behauptung, dass der Staat «Recht» setzen könne. – (Unterschiede ergeben sich aus verschiedenen Verfahrensweisen der Rechtsetzung.) – Nach Errungenschaft des Liberalismus aber muss die Rechtsfrage außerhalb historischer Staaten entschieden werden – denn dies ist das zentrale Merkmal des Gesellschaftsvertrags.
Jeder Staat, der mehr will, als die Bedingung der Möglichkeit für das freie Handeln aller Menschen aufrechtzuerhalten, macht die subjektiven Werthaltungen zu gewaltsam durchzusetzenden Bestimmungsgründen des Handelns. Eine solche gewaltsame «Objektivierung» subjektiver Werthaltungen ist nicht zu rechtfertigen, weil Recht auf Gründen beruht und nicht auf Gewalt beruhen darf: Ist Gewalt die «letzte Instanz», wie Litt es will, schweigen Gründe.
Die politische Frage lautet: Lässt sich Staatsgewalt auf die Funktion verpflichten, die Bedingung der Möglichkeit für das freie Handeln aller Menschen aufrechtzuerhalten?
Die Hoffnung eines der amerikanischen «Founding Fathers», James Madisons (1751-1836), hat, obgleich mit einer bestechend einfachen Begründung abgesichert, getrogen – die Hoffnung, dass in einem zentralen demokratischen Parlament die Vertreter der Interessengruppen sich auf ein positives Programm der Staatseingriffe nicht werden einigen können, sondern bloß «negativ» über gegenseitiges Sich-in-Ruhe-Lassen wachen. Der Franzose Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) war da realistischer. Ihn beschlich die Ahnung, dass Vertreter der Interessengruppen das demokratische Verfahren zur Farce machen und sich wie Verschwörer verhalten – was zur traurigen Realität geworden ist. Die Bildung von Interessengruppen ihrerseits kann und darf liberal gedacht aber nicht unterbunden werden. Der liberale Staat zerstört sich selber.
Totgespart?
Staat ist übermächtige Versuchung für Interessenvertreter. Es ist die einzige Instanz in der Gesellschaft, die unter Umgehung des Tauschs über Ressourcen verfügt. Nur mit Hilfe der etatistischen Zwangsmittel – nur mit Hilfe von Steuererhebung und gesetzlichen Interventionen – ist es möglich, Vorteile zu erwirtschaften: Einkommen und Einfluss ohne Gegenleistung und ohne eine Zustimmung der Betroffenen. Während auf dem Markt die Zustimmung für jede konkrete Tauschaktion erforderlich ist, wird im demokratischen Staat eine abstrakte »Zustimmung« mit großer zeitlicher und inhaltlicher Reichweite erteilt.
Die Tätigkeit der Staatsgewalt, ihre Maßnahmen, sind stets Ergebnis des Aushandelns zwischen verschiedenen Interessengruppen, die das Privileg besitzen, am Prozess der Definition dessen, was Allgemeinwohl sei, teilhaben zu dürfen. Die Politik des Aushandelns gerät notwendig an zwei heikle Punkte:
Zum einen übt die Enteignung der Produktiven – das heißt die Steuererhebung – eine (negative) Wirkung auf die Produktivität aus. Das Ausmaß an Enteignung lässt sich nicht unbegrenzt steigern, um allen Begehrlichkeiten jeder Interessengruppe nachkommen zu können.
Zum anderen ist das ökonomische Kalkül, welchen Begehrlichkeiten nachzukommen sei, dort mit Verlusten an Legitimation verbunden, wo Begehrlichkeiten abgewiesen werden oder die Verringerung der Zuwendungen droht.
Dies besagt die spezifische politische Ökonomie staatlicher Herrschaft. Damit klärt sich der Aufschrei in der Zeit von Corona, das Gesundheitswesen in dem einen oder anderen schwer betroffenen Land sei totgespart worden, auf: Da in keinem der Länder eine Reduzierung der Quote des Staats am Bruttosozialprodukt stattfand, bedeutet er: Finanzmittel flossen nicht in dem Maße ins Gesundheitswesen, wie es dessen Vertreter gern gesehen hätten, vielmehr erhielten andere Interessengruppen sie. Weil nun die Gesundheitskosten in den letzten Jahrzehnten überall drastisch gestiegen sind, bedeutet totgespart nicht einmal, dass der Anteil des ökonomischen Wohlstandes, welcher für das Gesundheitswesen aufgewendet wurde, tatsächlich sank, sondern sich nur nicht in dem gewünschten Maße steigern ließ.
Die bösen Neoliberalen
Die Interessengruppen wie Vertreter der Krankenkassen oder der Ärzte, der Arbeitgeber oder der Gewerkschaften usw. erobern nicht den Staat und üben ungebührlichen Einfluss auf ihn aus, sondern sie sind ihrerseits Kreaturen des Staats. Die Klage über den ungebührlichen Einfluss bestimmter Interessengruppen ist stets ein Teil des Machtkampfes zwischen Interessengruppen: Es klagt eine Interessengruppe, eine andere Interessengruppe verfüge über zu viel Einfluss.
Wenn es gelingt, jene, deren Begehrlichkeiten abgewiesen wurden oder die eine Verringerung der Zuwendungen hinnehmen mussten, davon zu überzeugen, nicht die Staatsgewalt sei Schuld an dieser Situation, vielmehr die staatenlose Internationale der Neoliberalen, lässt der Verlust an Legitimation sich auffangen und umkehren in einen Motor für eine weitere Verstaatlichung, also für Abbau der Räume von Selbstbestimmung und von Selbstorganisation. Das Narrativ der Bösartigkeit der neoliberalen Internationale und ihres weiterhin politikbestimmenden Einflusses ist demzufolge eine Funktion der Ideologie zur Herrschaftslegitimation.
Dass die beiden auf die Vergrößerung individueller und gruppenbezogener Autonomie, Selbstbestimmung und Selbstorganisation gerichteten Bewegungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in feindlichen politischen und kulturellen Lagern verharrten, war ein großes Unglück für die Sache der menschlichen Emanzipation: Es war das Glück für die Staatsgewalt, die nach dem Motto des «teile und herrsche» verfuhr und fernerhin ohne Einschränkung schalten und walten konnte. An Ideen und Aufrufen, dass die Antiautoritären sowohl im progressiven als auch im konservativen Lager zusammenfinden, mangelte es nicht.
Aber genauso, wie die Erben der Protestbewegung sich mit «Staatsknete» (so hieß das damals bei den Alternativen, die sich nicht korrumpieren lassen wollten) abspeisen ließen, gaben die Neoliberalen sich zufrieden mit staatlich überwachten und deformierten Privatisierungen und mit Aufforderungen an das Management von Behörden, Kliniken, Schulen usw., «wie Unternehmen zu handeln». Aber diese Scheinprivatisierungen schufen Monster, die fortan weder durch den Markt (dessen Bedingungen sie aufgrund ihrer öffentlichen Finanzierung oder ihrer Monopolprivilegien nicht ausgesetzt sind) noch durch die Politik (der sie aufgrund ihrer scheinprivaten Verfasstheit nicht unterliegen) kontrolliert werden können. Seitdem geben die Erben der Protestbewegung «den Neoliberalen», die Erben der Neoliberalen «den Kulturmarxisten» die Schuld an den Übeln der Gegenwart, während die Staatsgewalt von Kritik befreit agieren kann, wie es ihr beliebt.
Staatsknete
Die Herrschaftslegitimation sah sich nun bis zum Ende des 20. Jahrhunderts wieder gesichert. Doch bedarf sie immer auch der Inhalte (Anlässe), mit denen die Maßnahmen der Staatsgewalt sich begründen lassen. Während die Religion diese Inhalte nicht mehr liefert, eignet sich nichts so gut wie die Wissenschaft. Sie lag aber mit ihrer Autorität, bestimmen zu können, was dem Menschen – und auch der Umwelt – nutzt und frommt, freilich ebenfalls am Boden. In den Anfangsjahren setzte die Ökologiebewegung auf Dezentralisation und Netzwerkorganisation und nicht auf Maßnahmen der zentralen Staatsgewalt, der man wie der Wissenschaft misstraute. Heute heißt blindes Vertrauen in staatliche verkündete Wahrheiten «Protest».
Doch wie gezeigt bestand ein wesentliches Instrument der Staatsgewalt, die Protestbewegung zu integrieren, darin, sie finanziell zu alimentieren. In gleicher Weise verfuhr sie mit der Ökologiebewegung, in welche die Protestbewegung überging. Das verlockende Angebot lautete, die Hebel und die Mittel der Staatsgewalt nutzen zu dürfen, um ihre Ziele ohne die mühselige Überzeugung jedes Einzelnen durchzusetzen. Nun fiel die Wissenschaftskritik lästig. Statt eine plurale Wissenschaft anzunehmen, mussten die jeweils gewünschten Maßnahmen als die einzig wissenschaftlich fundierten deklariert werden. Wer dagegen unternimmt, die staatlich verkündeten Wahrheiten zu überprüfen, gilt nicht als mustergültiger demokratischer Bürger, der seine Mündigkeit lebt, sondern als «selbsternannter» Experte, als jemand, der Anmaßung betreibt.
Der entscheidende Schritt, um die Wissenschaft als Mittel zur Legitimation der Herrschaft wiederzugewinnen, fand während der Jahrzehnte vor der Zeit von Corona in dem sich etablierenden Narrativ vom Klimawandel statt. Zunächst entstand es außerhalb der Staatsgewalt in der Ökologiebewegung und richtete sich gegen die Wirkungen staatlicher Großprojekte und gegen die vom Staat seinen eigenen Betrieben (etwa der Infrastruktur zur Versorgung mit Straßen, Strom, Wasser usw.) sowie favorisierten industriellen Unternehmen eingeräumten kostenlosen oder kostengünstigen Verschmutzungsrechte.
Doch dann geschah das gleiche wie einige Jahre zuvor mit der Protestbewegung: Die Staatsgewalt bemächtigte sich des Themas. Sie stellte Forschungs- und Wissenschaftsinfrastrukturen in den Dienst von Modellrechnungen, schwor die ihr nahestehenden industriellen Interessen darauf ein, den Klimawandel zu bekämpfen und «das Klima zu schützen» (eine verunglückte Formulierung).
Wohltätige Gewalt
«Wandel», zuvor ein positiv gemeinter Kampfbegriff, dem sich nur verstockte, ewig gestrige Konservative entgegenzustemmen trachteten, wurde zur Schreckensmeldung: Ehemals Progressive verkehrten sich in Vorreiter des Konservativismus. Politisch deutete die Staatsgewalt das Thema Klimawandel in eine Begründung für den Ausbau zentralstaatlicher Kontrolle und Steuerung des wirtschaftlichen und privaten Lebens um.
Es fand eine eigentümliche Koppelung statt, die sich ebenso in der Zeit von Corona wiederfand: Auf der einen Seite werden bestimmte Hypothesen von favorisierten Wissenschaftlern für einzig gültig erklärt, sodass übrige Hypothesen als unwissenschaftlich zu gelten haben. Auf der anderen Seite wird aus Hypothesen die Notwendigkeit zentralstaatlichen Handelns wie eine logische Schlussfolgerung abgeleitet. Doch diese Ableitung ist rein fiktiv. Die Frage, ob Klimawandel stattfindet und gegebenenfalls menschengemacht ist, hat nichts zu tun damit, ob die Staatsgewalt den Betrieb von Dieselfahrzeugen verbietet, deren Anschaffung sie über Jahrzehnte subventionierte (weil der Dieselmotor als besonders umwelt- und klimafreundlich galt).
Wenn der Klimawandel als menschengemachter stattfindet, so findet er statt als Wirkung des Staatshandelns. Die Staatsgewalt aufzurufen, ihn zu bekämpfen, ist nicht logisch, nicht einmal plausibel. Doch die Koppelung der Hypothese an ein politisch notwendiges Handeln gehört zu den Grundfesten des Narrativs. Nein, es sind nun gar keine Hypothesen mehr, sondern sie werden per politischem Prozess verwandelt in religionsäquivalente Wahrheiten.
Ohne eine solche Koppelung wäre auch der Lockdown in der Zeit von Corona nicht denkbar und nicht durchsetzbar gewesen. Corona-Maßnahmen waren vermutlich erst die Spitze des Eisbergs; irgendwann aber sei Feyerabend.
Weitere Gedanken zur Demokratiekritik in: Stefan Blankertz, Die Katastrophe der Befreiung: Demokratie und Faschismus, Berlin 2013. Und: Stefan Blankertz, Wider den Triumpf repressiver Egalität: Zur Anatomie gekränkter Herrschaft, Berlin 2023.