Feind oder Feindbild

Wenn Sie mit Ihrer Partnerin durch die Fußgängerzone schlendern, bei einigen Schaufenstern verweilen, sich angeregt unterhalten, im Augenwinkel etwas Ungewöhnliches registrieren, Ihren Kopf umdrehen und einen Fremden wahrnehmen, der mit einem blutenden Messer auf Sie zustürmt, dann machen Sie eine existentielle Feinderfahrung. In Sekundenbruchteilen geschieht eine Menge in Ihrem Körper, das Herz schlägt wie wild, Angst und Adrenalin steigen hoch und Sie realisieren: Wenn Sie jetzt das Falsche machen, sind Sie verletzt oder tot. 

Eine solche Erfahrung war lange Zeit bis auf wenige Kriminalfälle fast vollständig aus dem friedlichen Alltag in Deutschland verschwunden. Seit der Grenzöffnung durch „Mutti” und dem Beginn der „Herrschaft des Unrechts” ist der Krieg auf unsere Straßen und Plätze zurückgekehrt. 

Es kann jeden treffen, es traf schon viel zu viele, aber die meisten wollen keine Erfahrung, schon gar keine des Krieges und schauen lieber weg. Einige versetzen sich in die Lage derjenigen, die durch solche Erfahrungen nahe Angehörige verloren haben und fordern angemessene Maßnahmen. Andere nutzen die vielen medialen Angebote, die Sinneseindrücke zu filtern, den unangenehmen Kontakt mit der Wirklichkeit zu meiden und sich in bequeme Ersatzwelten zu flüchten. Wer eine TV-Sendung gemütlich auf der Couch anschaut, ist vor lebensgefährlichen Überraschungen sicher. Die künstliche erzeugte Erregung könnte man fast für Leben halten.

Die risikolose Zivilgesellschaft hat das Erfahren an den Staat delegiert. Sie gibt dem Staat dafür mehr als die Hälfte ihrer Einnahmen. Dass der Staat sein Versprechen der inneren Sicherheit nicht mehr erfüllt, beunruhigt und irritiert die Menschen. Die zurückgekehrte Erfahrung des Krieges ist so ungewohnt, dass die meisten vor der Konsequenz aus dieser Erfahrung zurückschrecken. Sie möchten wenigstens das Gefühl der Sicherheit zurück.

Wenn Sie sich abends mit Ihren Freunden auf dem Marktplatz treffen und ein Zeichen gegen Rechts setzen, gibt es weit und breit keinen Feind. Sie fühlen sich mitten in der Menge der Gleichgesinnten sicher und aufgehoben. Was die Menge zusammenbringt, ist ein gemeinsames Feindbild. Der Faschist, der sie versammelt, existiert aber nur in ihrem Kopf. Das Feindbild ist buchstäblich eine Einbildung – es ist Ein Bild. Und weil es ein Feindbild ist, blockiert es die Erfahrung. Würde sich einer mit Frau Dr. Weidel eine Stunde lang angeregt in einem Café unterhalten, hätte er an Erfahrung gewonnen, aber den Faschisten verloren. Das geteilte Feindbild erlaubt der Menge, gemeinsam eine Einbildung zu genießen, die sie vor der individuellen Erfahrung schützt. 

Gott ist eine Einbildung. Damit etwas von Gott in die tatsächliche Erfahrung kommt, bedarf es Mittlerfiguren wie Moses, Jesus oder Mohammed. Was sie erzählen, muss man glauben, man kann es nicht selbst erfahren. Das Teilen einer Einbildung, die nur in der Vorstellung existiert, aber nicht in der Wirklichkeit erfahren werden kann, ist die Grundlage der drei monotheistischen Religionen, Judentum, Christentum und Islam. Denken, so hat es einmal Hannah Arendt formuliert, ist eigentlich immer ein Nachdenken von etwas, was zuvor in der Wahrnehmung, also Teil einer Wirklichkeitserfahrung war. Das unterscheidet das Denken vom Glauben.

Dieser Text erschien erstmalig auf dem Blog hanna-arendt.de des Autors.

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