Heute wollen wir uns einem Widerständler der ganz besonderen Art zuwenden, der wie so viele zwar kaum in das Klischee vom „heroischen Kämpfer“ paßt, der bis zur letzten Minute für eine scheinbare verlorene Sache kämpft, dafür aber eine umso tiefere und, wie ich denke, wichtigere Botschaft zu vermitteln hat. Denn Schuon ist einer der Begründer – oder besser gesagt, Vertreter – der sogenannten „Philosophia Perennis“, auch bekannt als Schule des Traditionalismus, die uns gerade heute so viel zu sagen hätte und doch fast völlig vergessen ist.
Frithjof Schuon wurde 1907 in der deutschsprachigen Schweiz geboren. Sein Vater, ein Konzertviolonist, war katholischen Ursprungs, erzog Frithjof aber im protestantischen Glauben, während er ihn zudem schon früh an die großen Werke anderer Weltreligionen heranführte und neben der Bibel auch mit den Upanishaden, der Bhagavadgita, dem Quran, Platon und Goethe vertraut werden ließ. Nach dem Tod des Vaters zog die Familie 1920 in den Elsaß, wo Frithjof 1921 katholisch getauft wurde und schon 1924 die Schule verließ, um als Textildesigner zu arbeiten und die Familie zu ernähren. In dieser Zeit entdeckte er auch die Werke Guénons, die seine Lektüre vor allem der hinduistischen Werke zutiefst beeinflußte.
Die Existenz der Transzendenz
Guénons Werke waren von der Einsicht geprägt, daß alle Weltreligionen und ein nicht unbeträchtlicher Teil der Mystik und der idealistischen Philosophie aller Kulturen nichts anderes sind als immer neue, relative Anläufe, in denen sich jene absolute Wahrheit manifestiert, die auch als „Transzendenz“ oder „Gott“ bezeichnet werden kann.
Ob es sich nun um Lao-Tse, Platon, Buddha, Christus, Plotin, Shankara, Meister Eckhart, Ibn Arabi, Theresa von Avila oder Johannes vom Kreuz handelt, alle vertreten die Existenz einer absoluten, jenseits von Raum und Zeit existierenden Transzendenz, die aus sich die Welt des Vielen mit ihren vielen Defiziten und Fehlern entläßt, liegt es doch in der Natur des Ewigen, allen Möglichkeiten zur wenigstens vorübergehenden Existenz zu verhelfen.
Alle Weltendinge enthalten dementsprechend auch einen Funken des Ewigen, sind aber in der Hierarchie der Möglichkeit zu betrachten, aus freien Stücken zu lieben, zu verstehen und zu entscheiden, weshalb dem Menschen als Schnittmenge von Natur- und Geisteswesen eine ganz besondere Stellung im irdischen Kosmos zukommt und er durch freiwilliges Aufgehen in der Gottheit die Möglichkeit zur bewußten Teilhabe am Ewigen erhält.
Das Böse ist in dieser Sichtweise die Möglichkeit zur vorübergehenden Auflehnung gegen das Eine; eine Manifestation der Potentialität des Nichts, die natürlich immer früher oder später in sich selbst zusammenfallen muß. Die großen Weltreligionen sind aus dieser Perspektive allesamt „relative“ Versuche einzelner Zivilisationen, dem Einen geistig Gestalt zu verleihen, so daß ihre offenbarten Wahrheiten zwar absolut sind, insoweit sie eine zwar spezifische, im Rahmen des eigenen Kosmos aber durchaus angemessene Sichtweise auf die Transzendenz abbilden, die Wahrheit einer anderen Religion aus ihrer jeweiligen Perspektive jedoch nicht minder absolut ist.
Wider die Moderne
1930 zog Schuon nach Paris, wo er neben seiner Arbeit an einer örtlichen Koranschule arabisch lernte, eine Korrespondenz mit Guénon aufnahm und sich weiter in die asiatische Geistes- und Kulturleben vertiefte. 1932 verfaßte er sein erstes Buch, das 1935 unter dem Titel „Leitgedanken zur Urbesinnung” erscheinen sollte.
Seine mit Guénon geteilte immer größere Ablehnung gegenüber dem abendländischen Materialismus führte ihn schließlich zur Reise in den langersehnten Orient. So begab sich Schuon zunächst nach Marseilles, wo er zwei Schüler des Sufi-Lehrers Ahmad al-Alawī kennenlernte, die ihn an ihren Meister im algerischen Mostaganem vermittelten, wo Schuon vier Monate mit ihm verbrachte und in die Lehre der Sufis initiiert wurde; eine Hinwendung zum Islam, die er aber nie als Konversion oder Abwendung vom Christentum betrachtete.
Denn zum einen folgt aus dem Traditionalismus nicht etwa der Appell zum Synkretismus, sondern vielmehr zum (Er-)leben einzelner Religionen aus dem Empfinden ihrer inneren Kohärenz selbst heraus: Wenn Schuon auch einzelne Einsichten der muslimischen, buddhistischen oder hinduistischen Mystik überaus schätzte und glücklich war, hier eine Tradition als noch lebend kennenzulernen, die im Abendland schon längst ausgestorben war, blieb er doch der Ansicht treu, daß jede Zivilisation auf dem ihr vorherbestimmten religiösen Pfad zur Ewigkeit gelangen müsse, angereichert um, aber nicht vermischt mit Einsichten anderer Traditionen.
All dies geschah in einer Zeit, in der die Gottesferne gerade der abendländischen Zivilisation, deren baldiges Ende Oswald Spengler wenige Jahre zuvor in seinem großen Werk beschrieben hatte, durch Technizismus, Materialismus, Rassismus und Sozialismus einen nie-dagewesenen Zenit erreicht hatte und es fragwürdig schien, ob sie je wieder zur Transzendenz zurückfinden würde ohne einen spektakulären Zusammenbruch: Kein Wunder, daß nicht nur Guénon oder Schuon, sondern auch periphere Ableger des Traditionalismus wie Evola in verschiedensten Formen einen „Widerstand gegen die moderne Welt“ predigten, die sie als Tiefpunkt des Kali-Yuga, also des endzeitlichen „eisernen“ Zeitalters der hinduistischen Zyklenlehre, betrachteten, wenn Schuon sich aber im Gegensatz zu anderen Perennialisten von politischen Aussagen grundsätzlich fernhielt – bis auf einen grundlegenden Zweifel daran, ob demokratische Mehrheiten einen wie auch immer gearteten Anspruch darauf erheben könnten, in Fragen absoluter Wahrheit oder moralisch-naturgesetzlicher Lebensführung irgendeine echte Autorität beanspruchen zu dürfen …
Lehrer der Kulturen
Schon 1933 mußte Schuon auf Druck der Kolonialbehörden nach Frankreich zurückkehren, wo er 1934 vom Tod seines Meisters erfuhr und 1935 erneut nach Algerien reiste, wo dessen Nachfolger ihm die Erlaubnis verlieh, Anwärter in die alawitische Bruderschaft zu initiieren. Daraufhin gründete Schuon, der seinen Lebensunterhalt weiterhin als Stoffzeichner verdiente, in Basel, Lausanne und Amiens verschiedene örtliche Sufi-Gemeinden, entfernte sich aber schrittweise von der Orthodoxie seiner arabischen Meister und reicherte seine Sufi-Gemeinschaften mit marianischen Elementen an, die ihm lebenslang besonders wichtig sein sollten.
1938 und 1939 reiste er nach Ägypten, um dort Guénon zu begegnen und sich lange mit ihm auszutauschen, und begab sich daraufhin mit zwei Schülern nach Indien, wo ihn der Ausbruch des Weltkriegs zur überstürzten Rückkehr nach Europa zwang. Dort wurde er in die französische Armee eingezogen, geriet in Kriegsgefangenschaft und entzog sich der zwangsweisen Eindeutschung des Elsasses durch die Flucht nach Lausanne, wo er bis 1980 wohnen sollte; hier begann dann auch sein Interesse an den religiösen Traditionen der nordamerikanischen Indianer.
Auf die Zeit als Lernender folgte für Schuon nun endgültig die Zeit der Lehre: 1948 erschien Schuons erstes wichtiges Werk, „De l’Unité transcendante des religions“, das er wie alle späteren in französischer Sprache verfaßte, und auf das zahlreiche weitere ähnlich angelegte Studien folgten sowie regelmäßige Reisen unter anderem nach Marokko, Griechenland und die Türkei, die er in Begleitung seiner Frau Catherine unternahm, die er 1949 geheiratet hatte.
1959 und 1963 reisten die Schuons in die Vereinigten Staaten, um verschiedene Indianerstämme zu besuchen, und wurden in den Stamm der Sioux aufgenommen. 1980 emigrierten die Schuons endgültig in die Vereinigten Staaten, wo sie sich in Bloomington niederließen und eine große Schar von Anhängern um sich sammelten, die sie auch regelmäßig im Rahmen indianischer Studientage an die dortigen Traditionen heranführten, wenn Schuons eigene Initiationsmethode auch vor allem auf der Tradition des islamischen „dhikr“ beruhte, also eines mantraartigen Stoßgebets, das analog zum christlichen Jesusgebet oder dem buddhistischen Nembutsu im wiederholten Aufsagen eines der Gottesnamen beruht. In hohem Alter verfaßte Schuon die beeindruckende Zahl von 3000, weitgehend in deutscher Sprache geschriebenen Lehrgedichten, und verschied 1998 im Alter von 90 Jahren.
Die Rückkehr zur Tradition
Schuon ist ebenso wie der Traditionalismus zumindest im heutigen Westen weitgehend in Vergessenheit geraten, wobei man hinzufügen muß, daß er aufgrund der Komplexität seines Transzendenzdenkens und der unentwegten Anspielungen auf außereuropäische Religionen und Philosophien bei seinem Leser einen hohen Grad an Bildung und geistig-geistlicher Bewegung voraussetzt. Schuon ging es zudem nie darum, die etablierten Religionen durch eine neue zu ersetzen oder gar eine eigene „Sekte“ zu gründen, wurde er doch nie müde, die absolute Wahrheit etwa der christlichen (v.a. katholischen und orthodoxen) Konfessionen zu betonen und die Formenwelt der Exoterik als valide und bewundernswürdige Manifestation des Göttlichen zu ehren.
Freilich war er der Überzeugung, daß das geistig-intellektuelle Nachvollziehen der Übereinstimmungen zwischen den verschiedenen Weltreligionen durch die „Esoterik“ des Traditionalismus in jedem Fall der bloß sentimentalischen Befolgung einzelner exoterischer Formen vorzuziehen sei, wobei er allerdings strikt zwischen einem bloß oberflächlich-rationellen Verständnis trennte und der inneren Einsicht in die Erhabenheit des Einen, die aus dem echten Perennialismus folgen und immer auch unmittelbare Konsequenz auf Lebensführung und geistige Reifung zum Einen hin haben müsse.
Gerade heute, wo das Christentum sich als Volksreligion weitgehend erschöpft zu haben scheint und sein Fokus auf die Absolutheit der Transzendenz und das Mysterium der Gottsohnesschaft Christi von seinen eigenen Vertretern zugunsten einer oberflächlichen Sozialethik aufgegeben worden ist, und verschiedenste Formen von gut gemeintem, aber falsch verstandenem Ökumenismus und Synkretismus überall ein echtes Verständnis des Wahren, Guten und Schönen eher verstellen als freilegen, scheint Schuons Apologie einer Möglichkeit absoluter Gotteserkenntnis bei gleichzeitiger vollumfänglicher Würdigung der Wahrheit christlicher Offenbarung und Offenheit für die Einsichten und Schönheiten außereuropäischer Religionen mehr denn je geeignet, der Arbeit für eine bewußte Rückkehr zur Tradition einen angemessenen religionsphilosophischen Unterbau zu liefern.
Denn je mehr der Traditionalismus „aus der Zeit gefallen“ scheint, desto mehr offenbart sich seine überzeitliche Botschaft.