Gegen den Strich gelesen: Marx

Von der historischen Wirkung her gesehen gibt es niemanden, der so viel für die Entfesselung der Staatsgewalt getan hat wie Karl Marx. Dies gilt nicht nur für die großen historischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts, die mit der Oktoberrevolution in Russland ihren Anfang nahmen. Auch heute berufen sich diejenigen immer noch auf Marx, die propagieren, die Staatsgewalt sei aufgerufen, Ausbeutung und Umweltzerstörung zu beenden. Umgekehrt halten diejenigen, die dem Wüten der Staatsgewalt etwas entgegen setzen wollen, Marx für das hinter allen gegenwärtigen Übeln stehende Übel.

So einfach ist das freilich nicht. Marx gehörte zu dem Kreis der Junghegelianer, unter denen es, ihrem Lehrmeister entgegen, dem Staat gegenüber eine große Skepsis, wenn nicht gar eine klare anarchistische Ablehnung gab. In «Gegen den Strich gelesen …» #4 habe ich dargestellt, inwiefern die Junghegelianer sich bei ihrer Haltung zum Staat durchaus auf Hegel berufen konnten. 

In seinem eigenen politischen Tun bekämpfte Marx die Anarchisten aufs schärfste. War er der eigentliche Fortführer der Hegelschen Überhöhung des Staats? In den Werken von Marx findet man wenig Hinweise darauf, dass der Staat die Menschheit retten werde. Selbst so ein im Marxismus-Leninismus später zentraler Begriff wie die Diktatur des Proletariats begegnet einem in den Schriften von Marx nur äußerst selten. Ein Teil des Problems rührt daher, dass im späteren Marxismus die Werke von Marx und Engels als eine Einheit betrachtet wurden, so als ob es keine Differenz zwischen ihnen gegeben habe.

Wenn es um den Etatismus von Marx geht, werden von seinen liberalen und libertären Gegnern besonders zwei Aspekte hervorgehoben, nämlich erstens die berühmt-berüchtigten zehn Forderungen des Kommunistischen Manifests (1848) und zweitens die angeblich marxistische Arbeitswertlehre. Die zehn Forderungen enthalten so zentrale sozialdemokratische Punkte wie progressive Steuer und zentralstaatliches Bankenwesen. Die Arbeitswertlehre statuiert, nur Arbeit schaffe Werte, sodass der Profit, den die Kapitalgeber einstreichen, ein Unrecht darstelle.

Ich beginne mit dem Kommunistischen Manifest, dessen Autoren Marx und Engels gemeinsam sind. In diesem Manifest stellen sie eine bahnbrechende neue Sichtweise auf die Geschichte vor: Die Geschichte folgt nicht den einen oder anderen Ideen, sondern der Dynamik, mit der die herrschende Klasse ihre Position festigt, um die Unterdrückten ausbeuten zu können. Der Staat sei der Ausdruck des jeweiligen historischen Standes des Klassenkampfes. Dies entspricht der Hegelschen Herangehensweise an den Staat, nur dass an die Stelle der von Hegel zum Zentrum gemachten Ideen nun der materielle Klassenkampf getreten ist. 

Ausdrücklich wird die Wirkung der Bourgeoisie und des Kapitalismus gewürdigt, die Produktivkräfte entfesselt und die Staatsgewalt in die Schranken verwiesen zu haben. Es ist an dieser Stelle der Argumentation nicht klar, ob der Staat etwas anderes sein könne als ein Instrument der Ausbeutung; es leuchtet eher nicht ein, dass das Instrument der Ausbeutung zu einem der Befreiung umzufunktionieren wäre. 

Die zehn Forderungen, die sich an die grandiose geschichtsphilosophische Skizze anschließen und ausschließlich darauf bezogen sind, die Staatsgewalt zum Tätigwerden aufzurufen, lesen sich wie mit den vorangegangenen geschichtsphilosophischen Thesen gänzlich unverbunden. Sie haben kaum eine inhaltliche Verbindung zu dem übrigen Text, nicht einmal gibt es eine formale Bezugnahme in der Art: Aus dieser oder jener Kritik folgt diese oder jene Forderung. 

Ein Jahr vor dem Manifest hatte Engels ein Pamphlet mit 15 Forderungen veröffentlicht, von denen die zehn des Manifests ein Ausschnitt sind. Böse gesagt, hat Marx die etatistischsten Forderungen des Freundes kassiert. Was übrig blieb, ist kaum marxistisch zu nennen; vielmehr entspricht das Forderungspaket den gängigen Vorstellungen eines großen Teils der bürgerlichen Revolution von 1848. 

Der Realpolitiker Engels drang vermutlich darauf, dass das Manifest mit einem an die sozialen Bewegungen der damaligen Zeit anschlussfähigen Programm endet. Zu jeder einzelnen Forderung finden sich spätere Äußerungen von Marx, die ihnen diametral entgegenstehen. 

Nun zur Arbeitswertlehre. Sie hat Marx nicht erfunden, sondern vorgefunden. Entfernt von Aristoteles stammend, wurde sie durch Adam Smith und David Ricardo vertreten. Der Wert einer Sache bemisst sich nach dem Wert der Sachen, die zu ihr verarbeitet wurden (Faktorenkosten), weil, wie Aristoteles meine, Äquivalente getauscht würden, gleichwertige Sachen. 

Da die Sachen, die getauscht werden, gleichwertig sind (oder es wenigstens sein sollten; ansonsten läge Betrug oder Wucher vor), ist aus dem Tausch an sich niemals ein Profit zu erzielen. Da zu den Faktoren freilich auch die ihnen durch den Produktionsprozess hinzugefügte Arbeit zählt, ist die Arbeit der einzige Faktor, aus dem Profit stammen kann. 

Die Faktorenkosten-Theorie wird übrigens auch bis in die Gegenwart hinein noch vertreten, so war etwa Milton Friedman einer ihrer Verfechter. Und in der Tat leitet selbst die Österreichische Schule der Ökonomik (Ludwig von Mises, Murray Rothbard) jedes Produkt in letzter Instanz auf den Faktor Arbeit zurück. Marx wurde zunehmend klar, dass Arbeit als wertschaffender Faktor nicht den Preis bestimme, weil der Preis der Arbeit (d.h. Lohn) je nach Art der Arbeit variiert. Um die Arbeitswertlehre (die einzig damals in der Ökonomik anerkannte Preistheorie) zu retten, konstruierte er eine gesellschaftlich durchschnittliche Arbeitszeit und einen gesellschaftlich durchschnittlichen Lohn, der freilich nun nichts mehr erklärte, jedenfalls nicht den Preis.

Aus der Arbeitswertlehre schien das sogenannte eherne Lohngesetz zu folgen, demzufolge die Arbeiter niemals mehr verdienen werden, als sie an Lebensmitteln benötigen, um ihre Arbeitskraft zu regenerieren. Das eherne Lohngesetz wird Marx zugeschrieben (Stichwort: Verelendungstheorie), aber Marx hat es nicht nur nicht vertreten, er hat sich ausdrücklich von ihm distanziert (es stammt von seinem Konkurrenten in der deutschen Sozialdemokratie, Ferdinand Lassalle). Denn Marx wusste sehr wohl, dass der Kapitalismus dazu geführt hatte, den Arbeitern einen Lebensstandard weit über dem der vorkapitalistischen Zeit zu ermöglichen. Zudem kannte er die Unterschiede im Lohn zwischen verschiedenen Industriezweigen, verschiedenen Regionen und Ländern.

Darüber hinaus stieß Marx auf ein zweites Problem in der Arbeitswertlehre, die Differenz zwischen Gebrauchs- und Tauschwert. Nur Gleiches mit Gleichem zu tauschen, macht offenbar keinen Sinn: Der eine muss etwas geben, was ihm weniger Wert ist als das, was er dafür eintauscht. Damit überhaupt ein Tausch zustande kommt, muss das, was getauscht wird, einen Gebrauchswert haben. Eine Sache, die niemand haben will, kann so viel Arbeit verkörpern, wie sie will, sie erzielt keinen (Verkaufs-)Preis. 

Freilich bestimmt der Gebrauchswert nicht den Tauschwert. Eine Sache kann für den Käufer einen sehr hohen subjektiven Gebrauchswert haben, aber wenn er sie günstiger angeboten bekommt, wird er nicht mehr zahlen, als verlangt wird: Gebrauchswert und Tauschwert fallen auseinander. (Auch das sieht die Österreichische Schule der Ökonomik genauso.) Mit dem Gebrauchswert lässt sich der Preis also ebensowenig erklären. Wie dann? 

Marx kam nicht zu einem Schluss, und darum konnte er sein Hauptwerk, «Das Kapital», nicht zuendeschreiben. Engels setzte nach dem Tod des Freundes das Gerücht in die Welt, Marx habe «Das Kapital» nicht fertig gestellt, weil zunächst Tagesgeschäfte und dann Krankheit ihn gehindert hätten; das Problem der Preisbildung hätte er freilich gelöst. 

Aus Texten, die Marx allesamt in der Zeit verfasst hatte, als der erste Band des «Kapitals» erschien, stellte er den zweiten und dritten Band zusammen. Doch wenn es so einfach gewesen wäre, hätte auch Marx selber eine solche Zusammenstellung seiner Texte vornehmen können. Obwohl Marx das Problem der Preisbildung nicht löste, ist es doch sein Hinterfragen der ökonomischen Standardtheorien seiner Zeit, das als Vorarbeit für die Lösung gelten muss, die dann die Österreichische Schule der Ökonomik vorlegen konnte. Weder die Anhänger von Marx noch die der Österreichischen Schule legen Wert darauf, diese Verbindungslinie offenzulegen.

Abschließend komme ich zu dem politisch brisantesten Aspekt der Marxschen Lehre, dem Kommunismus. Für den Kommunismus (den neben ihm viele andere Denker des 19. Jahrhunderts anstrebten, zum Teil auf der Grundlage ganz anderer Theorien) sah er eine realistische Bedingung: Von allem müsse für alle genug vorhanden sein. Auch hier wiederum liegt kein Gegensatz zur Österreichischen Schule der Ökonomik vor: Eine Sache, von der für alle potenziellen Nachfrager in Quantität und Qualität genügend vorliegt und die jeder ohne Anstrengung erhalten kann, erzielt keinen Preis. 

Nun mag Marx (wie andere Denker damals) diese Bedingung als reale Möglichkeit in unmittelbarer Zukunft erschienen sein, genauso wie es heute wieder Zeitgenossen gibt, die davon sprechen, die Entwicklung von Robotern und künstlicher Intelligenz würden diesen Menschheitstraum in Erfüllung gehen lassen. Unter den Vertretern der Österreichischen Schule war es Joseph Schumpeter, der meinte, diese Schlaraffenland-Situation würde demnächst eintreten. 

Ob das zutrifft oder nicht, ist aber gar nicht die Frage, denn wenn diese Situation eintritt, verschwindet der Preis automatisch und ohne jede politische Aktion. Die Frage ist, welche wirtschaftlichen Verhältnisse am besten und schnellsten ins kommunistische Schlaraffenland führen. Dass es eine sozialistische Übergangsphase mit einer Staatshandelswirtschaft sei, davon findet sich bei Marx (fast) kein Wort. Viel wahrscheinlicher ist, dass er als Theoretiker (nicht als politischer Aktivist) davon überzeugt war, nur der Kapitalismus sei in der Lage, den Überfluss zu erzeugen, der zur Realisierung des Kommunismus notwendig ist.

Ein marxistisches Programm könnte folgende sechs Eckpunkte haben, die überraschenderweise mehr mit den radikal liberalen als mit den heutigen linksradikalen Ideen übereinstimmen:

1. «Emanzipation von der Blutsteuer: Schluss machen mit dem stehenden Heer, der Quelle für Besteuerung und Staatsschulden.» – Der Bürgerkrieg in Frankreich, 1. Entwurf (1871), MEW 17, S. 544.

2. «Abschaffung der unproduktiven, schädlichen Tätigkeit der Staatsparasiten, denen ein riesiger Anteil des Nationalprodukts für die Sättigung des Staatsungeheuers zum Opfer gebracht wird.» – Ebd., S. 546.

3. Abschaffung des Papiergelds. Stattdessen Warengeld, das sich im Tausch von selbst («naturwüchsig») ergibt. – Die Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (1858), MEW 42, S. 72 -103.)

4. Abschaffung der Bankenprivilegien, «mit denen sich die Regierung des Landes bemächtigt». Crédit mobilier, 2. Artikel (1856), MEW 12, S. 28.

5. Abschaffung von «Staatsschulden, Steuerwucht (die zum Ruin kleiner Bauern, Bürger und Handwerker wird) und Protektion». – Das Kapital (1867), MEW 23, S. 782 ff.

6. «Das Volk sieht ein, dass es solidarisch verantwortlich ist für die Verweigerung der Steuern.» – Über die Proklamation des Ministeriums Brandenburg-Manteuffel in betreff der Steuerverweigerung (1848), MEW 6, S. 39.

So gelesen war Marx kein Etatist. Nicht einmal «Marxist». Der Marxismus verbreitet sich, insoweit er den Herrschenden nützt. Marx aber lieferte eine, wie fehlerhaft im Detail auch immer, Kritik der Herrschenden.

Hinweis: Die Ausformulierung dieser Lesart von Marx mit einer Vielzahl von erstaunlichen Marx-Zitaten findet sich in: Stefan Blankertz, Mit Marx gegen Marx: 11×11 Thesen (edition g. 111).

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