Gegen den Strich gelesen: Pierre Bourdieu

Von seiner Wirkung her war Pierre Bourdieu (1930-2002) derjenige Philosoph im ausgehenden 20. Jahrhundert, der dem liberalen Freiheitsdenken den schwersten Schaden zufügte. Noch heute befindet sich seine krude Verschwörungstheorie im Umlauf, ja wird fast universell und ohne kritische Rückfrage geglaubt, wenn auch meist nicht mehr sein Name als Urheber dazugesetzt wird. Diese Verschwörungstheorie, die er ab Mitte der 1990er Jahre verbreitete, lautet folgendermaßen: Es gibt eine grundböse Gruppierung von Menschen mit dem Namen «Neoliberale» rund um den Globus, die sich auf die Fahne geschrieben hat, den grundguten Staat, der für das Wohl aller sorgt, zu zerstören. Diese Neoliberalen bilden eine «staatenlose Internationale». Ihr Motive ist vor allem die Bereicherung der Reichen, zu denen sie selber meist gar nicht gehören, sodass sie sozusagen in fremdem Auftrag handeln. Zu diesem Zweck sollen zum einen den Reichen die Fesseln der Staatsgewalt, die sie mehr schlecht als recht im Zaum halten, gelockert werden; zum anderen wollen die Neoliberalen die Mitmenschen, auf deren Arbeit sich der Reichtum der Reichen gründet, zu kostengünstigen Robotern degradiert sehen, die mit so wenig Sozial-, Gesundheits- und Bildungsleistungen wie möglich auskommen. An öffentlichen Ausgaben spart man, wo es nur geht; die verbliebenen Skelette von fürsorglichen staatlichen Institutionen werden dem rigorosen neoliberalen Management unterworfen, dem kostengünstige Effizienz als einzige Richtschnur dient, während die dort Arbeitenden und die Empfänger der Leistungen ihm völlig einerlei sind. 

Ich habe versucht, diese herrschende Verschwörungstheorie (Verschwörungstheorie der Herrschenden) satirisch zu überhöhen; aber es ist mir nicht gelungen. Denn genau so hat Bourdieu sie entworfen, und genau so begegnet sie uns heute an allen Ecken und Enden. In den Jahren der Coronakrise hörte man immer wieder das Narrativ von den durch die Neoliberalen «totgesparten» Gesundheitssystemen in Deutschland und überall sonst auf der Erde, was zumindest einer der wichtigen Faktoren dabei gewesen sei, dass man mit den Herausforderungen der Krankheit neuen Typs nicht zurande kam.

Mitte der 1990er Jahre. Was hatte Bourdieu vorher gemacht, bevor er zum Star der internationalen Etatistenliga wurde? Hier stoßen wir auf ein großes Mysterium. Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre hielt der französische Soziologe Bourdieu eine Reihe von Vorlesungen über den Staat, die erst zehn Jahre nach seinem Tod ediert wurden (und auf deutsch 2014 erschienen). In diesen Vorlesungen, man reibt sich die Augen, hören wir einen ganz anderen Bourdieu. Er warnt seine Studenten vor der Falle des Staatsdenkens, eine Falle, in die Soziologen allzu gern tappen. Das liest sich so, als wolle er sich selber vor dem eigenen sich anbahnenden Wahnsinn warnen. Aber er schlug seine eigene Warnung aus dem Wind. 

Ausdrücklich sagt Bourdieu in den Vorlesungen, es bedürfe einer (soziologischen) Waffe gegen das Staatsdenken, um der Fetischisierung des Staats, zu der die Soziologen neigen, entgegenzuwirken.

Es ist vor allem ein Gedanke in den Vorlesungen, der es auf dem Hintergrund seiner kurz danach einsetzenden Hetze gegen den Neoliberalismus (den es in der Form, wie er ihn anprangerte, nie gab) verdient, hervorgehoben zu werden: Bourdieu beschreibt, dass in dem entwickelten modernen Staat über den Transmissionsriemen von Kommissionen (Ausschüssen, Expertenräten usw.) Partikularinteressen in Allgemeininteressen verwandelt werden. Dies bezeichnet Bourdieu als ein «alchemistisches Kunststück». 

Es gibt eine Reihe von gesellschaftlich bedeutenden Interessengruppen, die alle das Ziel verfolgen, dass ihr gleichsam privates Partikular-(Einzel-)Interesse zur Leitlinie des Handelns der Staatsgewalt werde. In Kommissionen, sei es im Parlament, sei es außerhalb des Parlaments, prallen die verschiedenen Partikularinteressen aufeinander. Am Ende steht ein Kompromiss, der als Allgemeininteresse bezeichnet wird und dann das weitere Handeln der Staatsgewalt bestimmt. In Wirklichkeit bleibt das Partikularinteresse natürlich ein Partikularinteresse. Was sich geändert hat, ist nicht der Charakter des Interesses, sondern sein Etikett. 

Die Staatsgewalt vertritt, so sagt Bourdieu in den Vorlesungen klipp und klar, keine Allgemeininteressen, sondern das Etikett «Allgemeininteresse» dient nur als Code dafür, dass die verschiedenen Partikularinteressen zu einer Übereinkunft gelangt sind. Nun richtet sich die ganze kommunikative Anstrengung sowohl des Staatsapparats als auch der an dem Kompromiss beteiligten Interessengruppen auf das Ziel, den Kompromiss als das Allgemeininteressen darzustellen. Ziel ist die Erzeugung einer Atmosphäre, in der jeder Einspruch gegen den Kompromiss sich als gegen das Allgemeininteresse gerichtetes egoistisches Partikularinteresse geißeln, als Irrsinn, als Widersinn, oder heute: als rechtes Querdenkertum bezeichnen lässt. Die Zeit der Coronakrise wäre ein geeignetes Feld, um Bourdieus in den Vorlesungen zum Staat entwickelte soziologische Instrumentarium zur Analyse einzusetzen; man denke etwa an die Ständige Impfkommission (STIKO), an den Ethikrat usw. 

Das Mysterium besteht darin, was zum Teufel Bourdieu veranlasste, innerhalb weniger Jahre seine Perspektive völlig zu verkehren. Hatte er das Etikett «Allgemeininteresse» in den Vorlesungen als Ideologie zur Bemäntelung von Partikularinteressen entlarvt, so behauptete er nun und fortan bis zu seinem Lebensende, der Staat würde tatsächlich das Allgemeininteresse im Auge haben und wahren; es gelte, alles zu tun, um ihn vor Delegitimation und Abbau zu schützen. 

Diese Verkehrung seiner Perspektive aus den Vorlesungen ist um so erstaunlicher, als zu der Zeit, in der er die Verschwörungstheorie der staatenlosen neoliberalen Internationale aufstellte, der Neoliberalismus seine realpolitische Wirksamkeit bereits nahezu gänzlich eingebüßt hatte. Wenn es je eine realpolitische Wirksamkeit des Neoliberalismus gab, liegt sie in dem Jahrzehnt vom Ende der 1970er bis zum Ende der 1980er Jahre mit den Regierungen von Margaret Thatcher in England und Ronald Reagan in den USA. In Frankreich gab es überhaupt keine neoliberale Phase, es regierte der Sozialist François Mitterrand; Helmut Kohl in Deutschland ist kaum als Neoliberaler zu bezeichnen, und er wurde 1998 von dem Sozialdemokraten Gerhard Schröder beerbt. In den USA kam nach Reagan 1989 der linksliberale Bill Clinton an die Macht, in England wurde 1997 der Labour-Mann Tony Blair Nachfolger des Torys John Mayor, der bereits deutlich weniger neoliberal gewesen war als Margaret Thatcher. 

Hinweis: Die Belegstellen für meine Lesart Bourdieus finden sich in Stefan Blankertz, Emma Goldman, Gustav Landauer, Verschwinde, Staat! Weniger Demokratie wagen (edition g. 115).

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