Glücklich – mit dem Nagel im Kopf

In den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts war das Knirschen im Gebälk des „real existierenden Sozialismus“ deutlich zu hören. Die SED und ihre Blockparteien bekamen bei Wahlen trotzdem über 95 Prozent der Stimmen. Weniger als 90 Prozent hätten einige Funktionäre den Platz an der Spitze gekostet, ohne dass es an Mangelwirtschaft, Umweltzerstörung oder allgegenwärtiger Propaganda etwas geändert hätte. Die Masse der DDR-Bürger machte leidenschaftslos ihr Kreuzchen bei den „Kandidaten der Nationalen Front“. Eigentlich sei man doch schon im Kommunismus – laut Parteisprech der „lichten Zukunft der Menschheit“ – angekommen, hieß es, denn schließlich habe jeder von allem genug.

Fielen einzelne Figuren auf, weil sie sich abweichend von den Normen der totalitären Gesellschaft verhielten, ging die Rede, der- oder diejenige habe “einen Nagel im Kopf”. Das war mehrdeutig: Wer einen Nagel im Kopf hatte, konnte ein Psychopath sein, ein Idiot oder jemand, der sich auf irgend mögliche Art und Weise den Regeln, Bedrohungen und Verführungen vermeintlicher Normalität durch skurriles, paradoxes oder sonstwie dekonstruktives Verhalten entzog. Jedenfalls schwang, wenn das Prädikat vom Nagel im Kopf, einem langen gar, oder – Superlativ – einem rostigen, vergeben wurde, weniger Häme als eine gewisse Achtung mit. Der Nagel im Kopf war eine mit kollektivistischer Erwartung unvereinbare Lebensform.

Verbrannte Bücher

In dieser Zeit veröffentlichte der russische Ingenieur Wladimir Georgijewitsch Sorokin im westlichen Ausland Texte, die nichts mit der Ausbildung von Erdöltechnikern zu tun hatten; er gehörte zum literarischen Untergrund. Dank Gorbatschows Perestroika wurden seine Bücher auch in Russland verlegt, er wurde populär, erarbeitete sich das Prädikat „umstritten“, und eine putintreue Jugendorganisation errichtete vor dem Bolschoi-Theater eigens ein überdimensionales Klo, um seine Bücher hineinzuwerfen, später verbrannte sie sie.

Seit 2022 lebt Sorokin infolge seines Widerstandes gegen Putins Überfall auf die Ukraine im deutschen Exil, seine Bücher verschwinden inzwischen aus russischen Bibliotheken und Buchhandlungen – so das vor zehn Jahren erschienene „Telluria“. Laut Kulturministerium in Moskau gibt es aber keine Listen mit „verbotenen Büchern“.

Glück im Kollektiv

Dass in einer zukünftigen Gesellschaft der Nagel im Kopf zur kollektiven Wunschvorstellung werden könnte, ist Sorokins genialer Kunstgriff. Dass in nicht allzu fernen Tagen nach allerlei Kriegen der Eurasier gegen Wahabiten und Salafisten, nach zwiespältigen Bündnissen mit Chinesen sich – in Russland zumal – seltsame neue Kleinstaaten bilden könnten, deren einer im fast unwegsamen Altaigebirge zur neuen Schweiz aufstiege, nicht als Hort des Geldes, sondern als Hort des Tellurs, Rohstoff für einzigartige Nägel. 

Ein Keil aus dem seltenen Element, kunstvoll eingeschlagen – möglichst von Fachleuten – verschafft dem Kopfinhaber das wahre Glück auf Erden. Das Tellur korrodiert, der Nagel “rostet” und entfaltet eine enorm vitalisierende Kraft, leider macht das süchtig. Deshalb mangelt es nicht an Schwarzhändlern, Fälschern und scheiternden Selbstversuchen.

Lob der Schmerzlust

In dieser schrägen Welt, bevölkert von allerlei Chimären, Zwergen, Riesen, Abenteurern, tun die Menschen, was sie schon immer taten, tun und zweifellos auch in hundert Jahren noch tun werden. Sie tun es mit phantastischen Gadgets, einer Art Zauberschwämmen etwa, die “Grips” heißen und das Smartphone in holographische Dimensionen erweitern, sie tun es in verwahrlosten Vierteln oder einsam im Wald. Sorokin erzählt das in mannigfachen Stilformen und Redeweisen, etwa der eines Kentauren, und ich gestehe, selten in meinem Leben bei einer Lektüre mehr gelacht, den Schmerz hinterm Sarkasmus intensiver gespürt und mich einem eigentlich Fremden näher gefühlt zu haben. Den Reichtum an Einfällen aus dem Russischen ins Deutsche zu retten, bedurfte es eines Übersetzer-Teams. Ich muss nicht alle Namen nennen – sie haben es toll gemacht.

Meister des Sarkasmus

Gern nähme ich diesen Autor unter meine ganz persönlichen Serapionsbrüder auf. Es ist eine Runde, in der E.T.A. Hoffmann gespenstert, wo Edgar Allan Poe, Ambrose Bierce, Franz Kafka und Michail Bulgakow mit Entsetzen Scherz treiben. Noch im erbarmungslosen Buchmarkt überleben diese Großmeister des Sarkasmus. Sie führen ihre Leser an Abgründen entlang balancierend, unwiderstehlich wecken sie Angstlust, Schrecken, Gelächter, egal ob subtil oder wie beim Kasperltheater. Natürlich ist „Telluria” auch voll bitterer aktueller Satire – dazu hat der Autor reichlich Referenzen in der russischen Literatur. Es schürt die Sucht nach intellektuellen Wechselbädern: Lässt sich der irrationale Mensch am Ende dank einer Heilsgeschichte doch mit der Realität versöhnen?

Erwartet wer eine Antwort? Ein „Utopia” in „Telluria”? Für den ist, glaube ich, dieses Buch nicht geschrieben. Eher für Romantiker mit einem sehr langen, rostigen Nagel im Kopf.

Vladimir Sorokin
„Telluria“

Aus dem Russischen vom Kollektiv Hammer und Nagel
ISBN: 978-3-462-04811-7
Erschienen 2015 bei bei Kiepenheuer und Witsch
416 Seiten, gebunden, 22,99 €

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2 Kommentare. Leave new

  • Toll. Sie haben mich zu einer spontanen Bestellung überzeugt. Natürlich als Papierbuch.

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  • Geschmäcker sind ja veschieden. Es wundert mich nicht, dass das Buch ins “Klo” geworfen wurde, ich habe es nicht mal zur Hälfte gelesen und dann gelangweilt weggeworfen.

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