Ein gutes Team ist nicht demokratisch

Das System der demokratischen Widersprüche #1

Demokratie und ihre Verteidigung ist eine heilige Kuh. Denn will jemand etwa für Diktatur votieren? Mit dieser Frage wird bereits ausgeschlossen, dass es erstens eine bessere Alternative als Demokratie oder Diktatur gäbe, und dass zweitens Demokratie eine Diktatur sei.

Gibt es keine bessere Alternative? Gern wird der berühmte Satz von Winston Churchill kolportiert, die Demokratie sei die schlechteste Regierungsform, ausgenommen alle anderen. Lacht da jemand? Diesen Satz hat immerhin einer von sich gegeben, der einem Weltreich vorstand, in welchem nur ein Bruchteil der Bevölkerung das Recht hatte, ihn zu wählen oder eben nicht. Als in einem Teil dieses Weltreichs während seiner Regierung aufgrund der Handlungen genau seiner Regierung eine Hungersnot ausbrach, erklärte er sich kurzerhand für nicht zuständig. Und natürlich kommt so jemandem nicht in den Sinn, dass die bessere Alternative zur Demokratie nicht eine andere, sondern gar keine Regierungsform ist: Anarchie.

In dieser Kolumne „Das System der demokratischen Widersprüche”, dessen erste Nummer Sie gerade lesen, werde ich aufzeigen, dass die Demokratie von einem sowohl theoretischen als auch praktischen Widerspruch gekennzeichnet ist, der sich nicht auflösen lässt und ins Verhängnis führt. 

Es geht mir also nicht darum, einmal mehr zu beklagen, dass in der praktischen Umsetzung der real existierenden Demokratien der Volkswille nicht zum Zuge komme oder dass in dem einen oder anderen demokratischen Staat die Grundrechte teilweise, zeitweise oder insgesamt und stetig nicht umgesetzt werden. Ich werde zeigen, dass die praktischen Widersprüche der real existierenden Demokratien notwendig und unausweichlich sind. 

Aber zunächst ein Beispiel, inwiefern Demokratie tödlich enden kann.

Gemeinsam, aber tot

In Workshops zur Teambildung gibt es ein beliebtes Spiel, bei dem die Teilnehmer eine Liste von Gegenständen erhalten mit der folgenden Anweisung: «In einer Gruppe weiterer Astronauten sind Sie auf dem Mond gelandet. Während eines Erkundungs-Trips ereignet sich eine Havarie und Sie müssen entscheiden, welche Gegenstände Sie zurücklassen können, um Gewicht zu sparen, und welche Ihnen weiterhin nützlich sein werden.» 

Nachdem jeder Teilnehmer eine Präferenzliste erstellt hat, in welcher Reihenfolge je nach Notwendigkeit der Lage der Ballast abzuwerfen sei, werden Teams gebildet. Nun entscheidet das Team über die Präferenz. Am Ende betrachten alle gemeinsam sowohl die Einzel- wie auch die Gruppenergebnisse. Als die objektiv richtige Präferenzliste gilt die der NASA (das Spiel ist ihrer Ausbildung von Astronauten nachempfunden).

Der Clou bei der Sache: Läuft die Teambildung gut, so muss das schlechteste Gruppenergebnis besser sein als das beste Einzelergebnis. Warum? Ein gutes Team versetzt jedes Mitglied in die Lage, seine Kompetenz zu entfalten, wogegen unsinnige Meinungen ausgefiltert werden.

Als ich dieses Tool seinerzeit für das Training einer mühsam privatisierten Behörde nutzte, kam es zu dem erstaunlichen Fall, dass der beste Einzelne im Team mit dem schlechtesten Ergebnis saß: Das Team ließ seine Sachkenntnis also unberücksichtigt. Verschämt gab der Teilnehmer zu, er habe nicht nachdrücklich genug für seine (richtigen) Antworten geworben. Ich sagte ihm, hierin bestünde seine Aufgabe eben nicht; vielmehr trage das Team die Verantwortung, seine Überlegenheit zu erkennen und ihm den Raum zu geben, sie darzulegen.

Der informelle Leiter des Teams, nicht zufällig ein engagierter Gewerkschaftler, war ganz anderer Auffassung. Er sah kein Versagen des Teams: «Wir haben abgestimmt, also war das in Ordnung.» 

Er reagierte beleidigt, als ich darauf hinwies, dieses Verfahren habe das Team in den gemeinsamen Tod beim Mondabenteuer geführt.

Freiwillig kompetent

Ein gutes Team ist eben nicht demokratisch. Es erkennt Autorität an, nicht als eine formale Macht, sondern als tatsächliche Fähigkeit, in Konflikt-, Not- und Problemsituationen richtige Entscheidungen zu treffen. Das angemessene Verfahren ist informell und basiert auf Freiwilligkeit, in ihm verbinden sich Individualismus und Vergesellschaftung. 

Der Psychoanalytiker Wilhelm Reich (1897-1957) beschrieb das 1946, nachdem er sich vom Kommunismus abgewandt hatte, im amerikanischen Exil so: «Unsere Zeitungen sind von politischen Debatten voll, die keiner einzigen Schwierigkeit des Arbeitsprozesses der Menschenmassen Rechnung tragen. Das ist begreiflich, denn der Politiker versteht nichts von Arbeit. […] Man stelle sich [hingegen] vor, wie freudig Werkmeister, Ingenieure, Spezialarbeiter jeder Art Zug um Zug des Arbeitsprozesses darstellen, Verbesserungen, Erfindungen etc. vorbringen würden. Sie würden streiten, miteinander konkurrieren. Es gäbe heftige Debatten. Das wäre ja nur gut. Es hat Jahrhunderte gedauert, ehe man auf die Idee kam, die Fabriken nicht wie Gefängnisse, sondern wie Erholungsheime zu bauen.» 

Und an einer anderen Stelle: «Verloren sich Ansiedlergruppen in den amerikanischen Urwäldern, so versuchten sie, den Weg, auf dem sie gekommen waren, wiederzufinden, um von bekanntem Terrain neu ins Unbekannte vorzustoßen. Sie bildeten hierzu keine politischen Parteien; sie führten keine endlosen Debatten über die Gegenden, die sie nicht kannten; sie schlugen einander nicht die Köpfe ein und sie forderten einander nicht unausgesetzt auf, Programme über Ansiedlungen zu entwerfen. Sie handelten aufgrund der gegebenen Situation natürlicherweise arbeitsdemokratisch.» (Beide Zitate aus der Bearbeitung seiner «Massenpsychologie des Faschismus» von 1946.)

Der Herold des klassischen Liberalismus, F.A. Hayek (1899-1992) nannte es – ebenfalls 1946 – eine «Verwertung des Wissens in der Gesellschaft», für welche der Markt, mithin die freiwillige Interaktion zwischen allen Handelnden, den besten Rahmen biete. 

Eine perfide Form der Legitimation von Herrschaft

Und so lautet das Programm, das ich in dieser Artikelserie weiterführen will: Demokratie ist keine Lösung, stattdessen das Problem, da sie die Herrschaft der Staatsgewalt nicht begrenzt und nicht abmildert, eher noch verstärkt. 

Der Slogan des Aufbruchs Ende der 1960er und Anfang der 1970 er Jahre, «Mehr Demokratie wagen!», war leider falsch. Es gilt, weniger Demokratie zu wagen, das heißt: mehr Raum für das Individuum und die frei gestaltete Vergesellschaftung seiner Bedürfnisse und Emotionen, seiner Erfindungen, seiner Fähigkeiten, seiner Motivationen, seiner Ratio, seiner Vision, seines Wissens zu lassen.

Kritik, die einst links stand, gilt heute als rechts, während die Linke sich mit nichts andrem befasst, als das Bestehende kraft Gewalt gegen die «braune Flut» zu verteidigen, so wie einstmals die Rechte darauf abzielte, die «rote Flut» einzudämmen. Ich werde ein ums andere Mal zeigen, dass es sich jeweils um die nämliche Flut handelt. Und, natürlich, nicht um eine Flut, sondern um die Exekution von (ökonomischen!) Interessen. Aus ihrem Bann herauszutreten, ist die Mission des Widerstands.

Meine neue Sandwirt-Serie ist die Zusammenfassung von über einem halben Jahrhundert Nachdenken über die Problematik der Demokratie – richtig gelesen, bereits als jugendlicher Anarchist war mir klar, dass Demokratie kein Ideal sein kann, sondern nur eine perfide Form der Legitimation der Herrschaft darstellt. 

Und das, obwohl etliche Klassiker des Anarchismus den Begriff Demokratie positiv für sich in Anspruch nahmen. Sie verstanden darunter die Selbstverwaltung freiwilliger Gemeinschaften. Nicht folkloristische Veranstaltungen zur Akklamation unumschränkter Herrscher, die sich anmaßen, über andere Menschen zu richten in einer Reichweite, die antiken Tyrannen vor Neid die Tränen in die Augen getrieben hätten. 

Zum Entsetzen meines sozialdemokratischen Vaters schrieb ich zum 25jährigen Jubiläums des Grundgesetzes 1974 in meiner anarchistischen Schülerzeitung «Neue Viehzucht», dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgehe, mache Gewalt weder moralischer noch erträglicher.

Weitere Ideen zur Demokratie-Kritik: Stefan Blankertz, Verschwinde Staat: Weniger Demokratie wagen, Berlin 2019.

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