Helden, Heilige, Tugendposen

Diesen Text gibt es auch als Episode im Wurlitzer, dem Podcast des Sandwirts: Hier.

Damit ein kollektiver Selbstmord zustande kommt – jeder Griff nach Weltherrschaft riskiert ihn – braucht es eine wirksame Ideologie und überlebensgroße Führungsfiguren. Manchen wurden frühzeitig Monumente errichtet, vor anderen – etwa dem Georgier Iosseb Bessarionis dse Dschughaschwili, genannt Stalin – eindringlich gewarnt. Kein geringerer als Lenin tat es, der Säulenheilige der Bolschewiki: 

„Stalin ist zu grob, und dieser Mangel, der in unserer Mitte und im Verkehr zwischen uns Kommunisten durchaus erträglich ist, kann in der Funktion des Generalsekretärs nicht geduldet werden.“

„Genosse Stalin hat, nachdem er Generalsekretär geworden ist, eine unermessliche Macht in seinen Händen konzentriert, und ich bin nicht überzeugt, dass er es immer verstehen wird, von dieser Macht vorsichtig genug Gebrauch zu machen. Deshalb schlage ich den Genossen vor, sich zu überlegen, wie man Stalin ablösen könnte.“

Das war im Januar 1923, Lenin war todkrank, er starb ein Jahr später. Das Politbüro der Kommunistischen Partei war seinem Rat nicht gefolgt; das wiederum entschied über den weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts. 

Bauern und Kommunisten

Lenin wurde nach seinem Tod vor hundert Jahren einbalsamiert und auf dem Roten Platz mit höchsten Ehren beigesetzt, zunächst in einem hölzernen Mausoleum. 1930 wurde das morsche Holz durch ein steinernes Bauwerk aus rotem Granit und Labrador ersetzt, es hat zugleich Züge eines Heiligenschreins, eines Tempels und eines Grabmals; der darin ausgestellte Leichnam erlebte und erlebt Millionen Wallfahrer. Ihn zu konservieren hat vermutlich mehr wissenschaftliches Know-how und fachlichen Aufwand gekostet als alle katholischen Reliquien dieser Welt zusammen. 

Und wer veranlasste, dass die sterblichen Überreste des „Großen Führers des Weltproletariats“ mit allen Mitteln auch in Kriegszeiten erhalten bleiben mussten? Ganz recht: der Georgier.

Eine seiner historischen Großtaten war die „Entkulakisierung“, eine halbe Million vermögender Grundbesitzer und widerspenstiger Bauern wurden enteignet und massakriert. Die Grundlage dazu, das „Dekret über Grund und Boden“, hatte Lenin selbst schon 1917 ausgearbeitet. 

Durch die Zwangskollektivierung und folgende Hungersnöte in der ganzen Sowjetunion, dazu gehörte auch der „Holodomor“ in der Ukraine, verhungerten weitere Millionen.

Den Bauern in China erging es nach Gründung von Maos „Volksrepublik“ 1949 nicht besser. Sie hatten ihm zwar unter unvorstellbaren Opfern zum Sieg über Japaner und Guomindang verholfen, Grundbesitzer enteignet, viele umgebracht und bekamen Pachtland zugewiesen. Aber Mao interessierten die Bauern nur als willenloses Heer für seine Planwirtschaft. Der „große Sprung nach vorn“, bei dem – zum Beispiel – Dörfer zwangsweise untaugliche Hochöfen für die beschleunigte Industrialisierung bauen mussten, mündete in die grausigste Hungersnot der Geschichte mit bis zu 55 Millionen Toten. Weitere Millionen wurden zu Tode gefoltert oder hingerichtet – im Namen des Kommunismus, der „lichten Zukunft der Menschheit“. 

Heilige Bücher und ihre Priester 

Manches Heldenbild überlebte Jahrtausende ebenso wie die „Heiligen Bücher“ der Juden, Christen, Muslime. Der Begriff „Buchreligion“ sagt es. Die Schriften eines Marx, Engels, Lenin, Stalin, Mao Zedong, alle reichlich bedenkmalt, begründeten eine Ersatzreligion von nicht weniger suizidaler Potenz als die der Nationalsozialisten. 

Nach vorübergehendem Sturz infolge massenhafter Gräuel während ihrer Regimes kommen sie wieder zu Ehren: Säulenheilige sind in Reichen wie Putins Russland oder Xi Jinpings China unentbehrlich, so ist der Massenmörder Stalin als Kriegsheld sehr willkommen, Maos Ruhm als Begründer einer modernen Weltmacht übersteigt fast den zu seinen Lebzeiten; Xi spendierte Marx‘ Geburtsstadt Trier mit gönnerhafter Geste ein Denkmal des kommunistischen Übervaters .

Verkalktes Denken – versteinernde Gesellschaft

All das sind Belege dafür, wie eigentlich flüchtiges, vergängliches Leben und Denken – gekoppelt an besondere materielle und informelle Macht – unvergänglich wird. Flüchtige Zeit wird mit einem auf Ewigkeit zielenden Gewicht beladen, die Erinnerung mit monumentaler Trägheit beschwert, auf dass die Ideen und Handlungen der Großen mitwirken, wenn die Nachwelt sich darüber verständigt, was zu erlangen, was zu vermeiden ist.

Jedoch: Sprache gerinnt beim Versuch, Ideologie unangreifbar zu machen: Sie erstarrt in Phrasenritualen, wird in Stereotype gestanzt, zu Worthülsen gedrechselt, ihres Sinnes und ihrer Sinnlichkeit beraubt, sie wird verbale Uniform versteinernden Bewusstseins. „Kaderwelsch“ nannte Bertolt Brecht das. Auf die Politbürokraten der DDR gemünzt, passt dieses Wort heute auf all jene doktrinären Bewegungen, die – mehr oder weniger staatlich geduldet oder gar gefördert – Kriege um die Deutungshoheit führen.

Good Bye, Lenin!, Titel eines 2003 sehr erfolgreichen, humorigen deutschen Films, erwies sich insofern als Abschiedsgruß verfrüht: Totalitäre Ideologien samt Träumen von der Weltmacht haben die 1992 abgeräumte Skulptur Lenins in Berlin überdauert. Ihnen allen ist gemeinsam der kollektivistische, korporatistische, etatistische Impetus. Das Individuum mit dem Recht, eigene, abweichende Meinungen zu äußern, den Verfall unter Fundamenten und hinter Fassaden der je herrschenden Ordnung bloßzulegen, schließlich eigene, selbständige Wege zu gehen, bleibt ihr größter Feind.

Meister, Mythen und Mäzene

Führungsfiguren nehmen gern künstlerische Meisterschaft in Dienst. Bisweilen verleiht sie ihnen gottähnliche Züge. Ein „Kulturschaffender“, der im Dienst der Mächtigen Bauten, Porträts, Standbilder, Lobpreisungen jeder medialen Form in die Welt setzt, darf zugleich hoffen, selbst in der Aura zu glänzen, die er materialisiert. Das kann schiefgehen wie bei Leni Riefenstahl, Arno Breker, Johannes R. Becher mit seiner „Danksagung“ für Stalin und anderem Lobpreis sozialistischer Paradiese, die sich als mörderisch erwiesen, aber selten sind die Folgen für Schöpfer und Produkt so irreparabel wie Verletzungen, gar der Tod jener, die in den kollektiven Selbstmord mitmarschieren. 

Übriggebliebene neigen zum Vergessen, gar Beschönigen des Elends: Manche drückt das Gewissen, viele schämen sich, andere pflegen nostalgische Wünsche nach neuer Verheißung aus alten Herrschaftsträumen. Die Monumente könnten gleichwohl an deren Misslingen mahnen, daher gibt es Streit um ihren Erhalt und Wert. Manche werden zerstört. Im China Mao Zedongs sollten es am besten alle nicht-kommunistischen sein: Die Kulturrevolution von 1967-76 hätte es fast geschafft. Sie hatte und hat in Deutschland Anhänger sowohl unter Bürokratie- wie Kulturschaffenden. Erstere sind inzwischen zu Mäzenen avanciert und sichern den Fortbestand einer besonderen Richtung: des Gesinnungskitschs.

Wem nützen Mahnmäler?

Manche Mythen verorten seltsame Schatten in einem besonderen Reich: Dort sind Schuld, Unrecht aller Art, Versagen, Furcht und Schrecken, Lug und Trug, Neid, Missgunst, Untreue – kurz: all jene dunklen Kräfte – beheimatet, von denen Heldendenkmäler gereinigt erscheinen. Als wolle man die Kräfte des Todes, des ewigen Wandels, das Ungreifbare und Flüchtige dort bannen. 

Sollten Mahnmäler sich ihrer annehmen?

Peter Eisenmann, der Architekt des Holocaust-Mahnmals in Berlin, sah zumindest kein Problem, das gewaltige Feld aus Betonstelen, die Erinnerung an Millionen Opfer eiskalter Bürokraten der Macht – anders als Heiligtümer und heldische Skulpturen – ins profane Alltagsgeschehen zu entlassen:

„Wenn man dem Auftraggeber das Projekt übergibt, dann macht er damit, was er will – es gehört ihm, er verfügt über die Arbeit. Wenn man morgen die Steine umwerfen möchte, mal ehrlich, dann ist es in Ordnung. Menschen werden im dem Feld picknicken. Kinder werden in dem Feld Fangen spielen. Es wird Mannequins geben, die hier posieren, und es werden hier Filme gedreht werden. Ich kann mir gut vorstellen, wie eine Schießerei zwischen Spionen in dem Feld endet. Es ist kein heiliger Ort.“, 

äußerte er 2005 im Interview mit dem „Spiegel“.

Die zuständigen Verwalter sehen das anders. Gegen Schmierereien ließen sie die Stelen mit einer abweisenden Schicht überziehen. Auch dem Zahn der Zeit – da er sich nicht ziehen lässt – trotzen sie etwa mit Metallbandagen gegen Risse, die sich seit 2008 infolge von Hitze, Kälte, Wind und Regen im Beton ausbreiteten. 

Ist es der Rang des Kunstwerkes, der fortwährende Instandhaltung erheischt? Oder weil es in Beton gefasste „Staatsräson“ bedeuten soll, also eigentlich ein Denkmal sein für deutsche Politiker als Helden antifaschistischer Moral?

Eisenmanns Monument ist dem mörderischen Antisemitismus völlig egal. Er will das gesamte jüdische Volk zusammen mit dem Staat Israel von der Erde tilgen, alle dort Lebenden – selbst Moslems – gleich mit. Der Beton muss wie Kirchen und Synagogen inzwischen bewacht und vor islamistischem Terror geschützt werden. Bald wird er 20 Jahre alt; in Berliner Straßen tobt ein Mob, der Massaker an Juden feiert. 

Derweil lassen deutsche Politiker in der UNO regelmäßig Resolutionen gegen Israel passieren, selbst nach den Gräueln vom 7. Oktober 2023, den schlimmsten seit dem Holocaust. Die antifaschistischen Helden im besten Deutschland aller Zeiten strafen mörderischen Terror mit todesmutigen Textbausteinen ab, während sie ihre Finanzhilfen für dessen Urheber und Helfer verschleiern.

Gewalt – Macht – Lust

Keines der Reiche in der menschlichen Geschichte konnte überdauern. Manche blieben an Denkmälern ihrer Tätigkeiten, Führer, Kriege erkennbar, auch sie vom unvermeidlichen Verfall gezeichnet, viele nur mühsam zu identifizieren. Die Grundimpulse der Herrschaft aber blieben mitten im materiellen und ideellen Wandel erhalten, sogar Herrschaftsformen und -methoden finden sich fast überall – zeitlos – wieder, nur neue Technik kam hinzu.

Der Mensch will erobern: Seefahrten, das Bauen von Fluggeräten und die zahllosen Konflikte, Kämpfe, Kriege bezeugen das Ziel, Macht zu erlangen und zu erhalten. Denken und Sprache müssen sich dabei den beiden Grundimpulsen – Erlangen und Vermeiden – fügen: Sie werden zum Instrument der Dominanz im Reich flüchtiger Ideen, sie lassen Risiken geringer oder größer erscheinen, bevor über Handeln oder Zögern, Einlenken oder Durchsetzen entschieden wird. Man sollte meinen, dass der Entschluss zu einem Unternehmen auf einem umso robusteren Theoriegebäude gründen müsste, je größer das damit verbundene Risiko ist.

Das Dilemma besteht aber darin, dass über die Zukunft – also den Erfolg oder Misserfolg – niemals volles Wissen zu erlangen ist. Egal ob jemand allein oder in einem Kollektiv agiert: die Kraft elementarer Impulse triumphiert immer wieder über komplexe Erwägungen des Für und Wider. Und ein besonders schwer zu kontrollierendes, rauschhaftes Triebgeschehen ist „Gewalt – Macht – Lust“. 

Es zermalmt, wo es sich straflos entfalten darf, alle zivilisatorischen Regeln und Tabus bis zur Bestialität. Es richtet sich aufs Vernichten nicht nur der physischen Existenz, sondern auch der Würde von Menschen, ihrer Werke, ihres Eigentums, ja: der Erinnerung an sie, es verbrennt Dokumente, schändet Grabmäler, verwüstet Friedhöfe.

Es agiert um den Preis des Selbstmordes. Vielleicht ahnte der sterbenskranke Lenin das, als er vor der Ermächtigung seines Nachfolgers warnte.

Bekenntniszwang und Gesinnungskitsch

Denkmäler für den Unbekannten Soldaten gibt es in vielen Ländern, mit dem 1. Weltkrieg wurden Einzelgräber für Gefallene angesichts der schieren Menge unrealistisch. Aber Kriege und ihre Anführer brauchen Helden. Wäre sonst die Aussicht, im Massengrab so rest- wie namenlos zu verschwinden, nicht Grund genug, sich dem Militärdienst zu entziehen? Überlebende Helden sind also unentbehrlich für jeden Krieg, allen anderen bleibt der Trost des ehrenden Gedenkens – außer Deserteuren. 

Das gilt auch auf den digitalen Schlachtfeldern heutiger informeller Machtkämpfe. Und auch hier gilt: Held – oder Heldin – kann nur werden, wer von einer kämpfenden Partei, zumindest einer zahlreichen Anhängerschaft unterstützt wird: Er muss möglichst schnell möglichst viele Leser, Hörer, Zuschauer, Follower für sich einnehmen. Das ist, wie die Quotenwirtschaft der Medienbetriebe, meist eine aufwändige Ochsentour. Aber immer wieder einmal taucht ein bis dahin fast Unbekannter auf und wird zum Helden: Liu Xiaobo, Julian Assange oder Edward Snowden sind jüngere Beispiele. Freilich geraten sie – oft gegen ihren Willen – zwischen politische Fronten. 

Heldenepen und Tugendposen ersetzen im Kampf um informelle Macht in den Medien Wahrhaftigkeit und Rationalität. Ebenso untrügliches wie unvermeidliches Symptom totalitärer Herrschaft ist, dass dem Einzelnen immer wieder Bekenntnisse abgenötigt werden. „Bist du etwa nicht für den Frieden?“ war Totschlagargument gegen Kritiker des Sozialismus in der DDR, die sich selbst als „Deutscher Friedensstaat“ etikettierte. Heutiger Gesinnungskitsch reduziert das auf „Bist du etwa räääächts?“ Die „Antifa-Keule“ schwingen sowohl Politbürokraten, Tugendposer in NGO, folgsame Medien, als auch konformistische Kollegen, Nachbarn, gar Freunde und Verwandte. 

Wenn ein Regime die Bevölkerung mittels massiver Propaganda und Verführung zur Teilhabe an der Macht in konformen Organisationen von Kindesbeinen an korrumpiert, dann wird heldenhafter Widerstand rar. Es gibt eigentlich nur eine Hoffnung: Das Volk selbst lässt sich nicht mehr mit Versprechungen abspeisen, wie sie sozialistische Demagogen seit Marx und Lenin in die Welt setzten. Dann können Landwirte, selbständige Unternehmer, Freiberufler, zu – namenlosen – Helden der Realität werden. Sie wehren sich, bevor sie enteignet und zu digital überwachten Objekten in Plänen zur Transformation der gesamten Menschheit werden. Das beginnt jetzt. Und es macht Mahnmale für den unbekannten Treckerfahrer überflüssig.

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