J.R.R. Tolkien

„Widerstand“ muß nicht immer spektakulär sein und in der Tragik des Scheiterhaufens oder der Verbannung enden. Manchmal kann der Widerständler sogar mit allen möglichen Ehren überhäuft werden und in allgemeiner Anerkennung ein scheinbar glückliches Leben führen – und letzten Endes doch im tiefen Inneren „außen“ stehen und seine eigentliche Wirkung erst in die Zukunft hinein entfalten. Dies war zweifellos der Fall bei J.R.R. Tolkien.

Dreierlei Leiden

Eine glückliche Familie, ein Leben als Universitätsprofessor in Oxford, ein fester Freundeskreis gleichgesonnener Denker, der (späte) Weltruhm als Schriftsteller – was hätte Tolkien sich mehr wünschen können? 

Und doch – etwas Unbestimmtes nagte an ihm, trieb ihn dazu, immer wieder seine wissenschaftliche Forschung zu vernachlässigen und sich von seiner Frau und seinen Kindern abzusondern, um in aller Einsamkeit bis in die frühen Morgenstunden in seinem Garagenzimmer in unzähligen neuen, niemals ganz abgeschlossenen Anläufen dieselben „fiktiven“ Geschichten von den drei Zeitaltern Mittelerdes niederzuschreiben und zu überarbeiten, ohne doch jemals ihre Publikation miterleben zu dürfen (mit Ausnahme des „Hobbits“ und des „Herrn der Ringe“, die beide eigentlich nur die Spitze des Eisbergs darstellen und im Gegensatz zum „Silmarillion“ für Tolkiens Schaffen nur sehr bedingt repräsentativ sind).

Woher diese Unrast, was trieb Tolkien an und sonderte ihn gleichzeitig von den Seinen ab, schuf dadurch aber auch die Grundlage für ein Lebenswerk, dessen ganze Bedeutung als Widerstandsliteratur wohl erst uns Heutigen ganz offenbar wird, obwohl sie von Anfang an intendiert war? 

Es war das Leiden an seiner Zeit – ein Leiden, das eine dreifache Qualität hatte: das Leiden an der Zeitlichkeit an sich, das Leiden an der Moderne, und das Leiden am eigenen Ungenügen.

Befleckte Schöpfung

Mit dem Leiden an der Zeitlichkeit ist bereits ein wesentliches Stichwort gegeben, das auf Tolkiens tiefen Katholizismus verweist. Tolkien hatte, wie so viele große Denker nicht nur des Abendlands, ein starkes Gespür für die Vergänglichkeit von Glück und Schönheit, war sich aber als Christ bewußt, daß diese Vergänglichkeit nicht etwa akzidentell war und langfristig durch Fortschritt in Wissen oder Technik aufgehoben werden konnte, wie so viele seiner positivistischen Zeitgenossen erhofften. Für Tolkien lag die Vergänglichkeit vielmehr im Wesen von Mensch und Natur begründet und ging letztlich auf den Sündenfall zurück, der darin bestand, daß die individuelle Willensfreiheit, mit der alle vernunftbegabten Wesen ausgestattet sind, nicht etwa zum Lob von Schöpfer und Schöpfung eingesetzt wurde, sondern zur aufsässigen Selbstverherrlichung des Einzelnen: Die Schöpfung, wiewohl von Anbeginn an gut, wurde somit durch das Böse befleckt und degenerierte rasch zu einem Schatten dessen, was hätte sein können.

Sich aus Hybris dem Weltenplan entziehen, um in scheinbarer Eigenverantwortlichkeit die Schöpfung zu korrigieren und dabei doch nur zu verschlimmern, ist somit die ultimative Wurzel des Schlechten – in Mittelerde wie der „echten“ Welt. Und wenn das „non serviam“ Morgoths bzw. des Satans und seiner Diener letzten Endes doch nur immer wieder die Größe und Schönheit des göttlichen Werks hervorhebt, ja erst richtig zur vollen Entfaltung bringt, bleibt doch das bittere Gefühl einer befleckten Schöpfung und eines tragischen Fehlers, der in der Natur eines jeden denkenden Wesens – ob Elb, Mensch, Hobbit oder Zwerg – liegt, so daß selbst derjenige, der sich dem Bösen zu verweigern sucht, in die Verstrickungen des Sündenfalls und den Kampf um die Wiederherstellung der eigentlichen Ordnung hineingerissen wird:

„Bei Feanors letzten Worten aber, daß die Noldor wenigstens Taten leisten würden, die auf immer in den Liedern leben sollten, da hob er den Kopf, als lauschte er auf eine Stimme von fern, und sagte: ‚So sei es! Als teuer bezahlt mögen jene Lieder gelten, und doch als wohlfeil. Denn der Preis könnte kein anderer sein. Wie Eru zu uns gesprochen: Unerahnte Schönheit werde Ea zuteil, und Böses soll gut sein, wenn es gewesen ist.‘ Mandos aber sagte: ‚Und doch böse bleiben.‘“ (Silmarillion)

Die verlorene alte Welt

Gleichzeitig mit der Versuchung der Selbstsucht ist dem Menschen freilich auch die Sehnsucht nach dem, was hätte sein können, eingeboren: das innere Verständnis, daß das Wahre, Schöne und Gute, wiewohl auf Erden nur unvollständig realisiert, eine tatsächliche greifbare Existenz hat und es das Ziel unseres irdischen Daseins ist, dieser Kraft nachzueifern und ihr Wesen hier und jetzt möglichst konkret in die Wirklichkeit umzusetzen. 

Tolkiens gesamtes Werk ist voll von diesem Gedanken des „Widerstands“ gegen das Böse und gegen die Hybris: In einer Zeit, wo nicht nur die anglikanische, sondern auch die katholische Kirche ihr Augenmerk zunehmend von der Transzendenz auf die Immanenz verlagerte und anstatt theologischen Grundfragen lieber „soziale Fragen“ ins Auge nahm, schuf Tolkien ein Manifest des Glaubens an die Schönheit, an das Wahre und an das Gute, das durch die Nostalgie, die es durchzieht, keineswegs gemindert, sondern noch gemehrt wird.

Dies leitet dann aber auch zum zweiten Thema weiter, nämlich Tolkiens Leiden an der Moderne. Wer auch immer mit wachem Verstand Texte wie den Untergang Numenors, die Beschreibung Mordors oder die Säuberung des Auenlands liest – ganz zu schweigen von Tolkiens Briefen –, weiß, wie sehr der „Professor“ die Zerstörung des alten England durch die Industrialisierung bedauerte und Maschinen, Fortschritt, Rationalismus und Moderne eine tiefe Skepsis entgegenbrachte. Tolkiens wahre emotionale Heimat war die alte, die vorindustrielle Welt, in der Mensch und Natur noch in jener Harmonie zusammenlebten, die in der ursprünglichen Schöpfung angelegt war.

Das Unbehagen mit der Moderne

Doch Tolkiens Leiden an der Moderne war nicht nur rein materieller Art, und es wäre falsch, sein Denken (wie manche Zeitgenossen es immer noch versuchen) auf einen simplen Proto-Ökologismus zu reduzieren. Denn Tolkien bedauerte nicht nur die konkreten, physischen Auswirkungen der Moderne, sondern auch ihre spirituellen und politischen Konsequenzen: Die Demokratie selbst englischen Vorbilds war ihm stets suspekt – von allen Formen des linken oder rechten Kollektivismus ganz zu schweigen –, da er von Grund auf sowohl traditionalistisch als auch anarchistisch gesonnen war; und selbst innerhalb der katholischen Kirche stand er modernistischen Neuerungen, allen voran dem Zweiten Vatikanischen Konzil, mit großer Skepsis gegenüber.

Unzeitgemäß

Freilich hatte Tolkien im Gegensatz zu uns Heutigen den Vorteil, in den britischen Medien, dem Bildungssystem und den Eliten seiner Zeit noch über zahlreiche Bundesgenossen zu verfügen, doch minderte das nicht seine persönliche Tragik, in akuter Weise begriffen zu haben, ein rasch aussterbendes Relikt einer früheren Zeit zu sein. Gerade in den Briefen drückt sich Tolkien daher in einer Weise zeitkritisch aus, die ihm wohl schon damals, hätte er Ähnliches in einem Zeitungsartikel öffentlich formuliert, größte berufliche Scherereien eingebracht hätte. So schrieb er am 9.12.1943 an seinen Sohn Christopher:

„Ich frage mich, ob es (wenn wir diesen Krieg überleben) nachher für reaktionäre Fossilien wie mich (und Dich) noch irgendeine Nische geben wird, wenn auch nur ein Plätzchen zum Leiden. Je mehr sich die Dinge ins Große auswachsen, desto kleiner, öder und platter wird der Erdball. Wenn einmal die amerikanische Hygiene, Moralreklame, Frauenrechte und Massenproduktion in ganz Nah-, Fern- und Mittelost eingeführt sind, in der UdSSR, den Pampas, im Gran Chaco, im Donaubecken, in Äquatorialafrika, in Obernichtswieweghier und der Inneren Tandaradei, Gondhwanaland, Lhasa und den Dörfern im finstersten Berkshire, was werden wir dann erst froh sein!“

So ist Mittelerde denn nicht nur ein Manifest des Glaubens an die Transzendenz, sondern auch der historischen Unzeitgemäßheit; eine Grundposition, die durch die Hoffnung auf die „Rückkehr des Königs“ durchaus revolutionär aufgeladen ist. 

Hingabe

Als dritten und letzten Punkt wollen wir Tolkiens Leiden am eigenen Ungenügen betrachten, einer der wohl weniger bekannten Charakterzüge seines Werks, obwohl auch er eng mit dem Begriff des Widerstands verknüpft ist. Mittelerde war für Tolkien nicht nur ein Spleen oder ein Hobby, es war eine echte Mission. Denn der Autor war zutiefst davon überzeugt, hier eine überzeitliche, geradezu schon tangible Wahrheit zu berühren, deren „historische“ Glaubwürdigkeit sich naturgemäß schwer in Worte fassen ließ, die ihm aber erheblich mehr bedeutete als ein bloßes Unterhaltungsprodukt.

Zum einen sah Tolkien seine mythopoetische Aktivität als eine Art Sub-Kreation, die von der göttlichen abgeleitet war und zumindest teilweise deren Inhalt spiegelte; zum anderen empfand Tolkien viele der Bilder, die er im Legendarium umzusetzen versuchte, als Realitäten, die ihm im Traum und zunehmend auch im Wachen eingegeben worden waren, so daß er sich oft genug eher als Chronist denn als Erfinder betrachtete: „Ich habe längst aufgehört, zu erfinden […]. Ich warte, bis mir scheint, ich wüßte, was wirklich geschehen ist.“, heißt es in einem seiner Briefe (Nr. 180); und in einem anderen (Nr. 145) schreibt er, daß jene Geschichten in seinem Geist entstanden seien als „gegebene Dinge: Immer hatte ich das Gefühl, etwas niederzuschreiben, das bereits schon gegeben sei, nicht aber, etwas zu ‚erfinden‘“.

Doch das Eingegebene war letztlich zu groß für seine begrenzte Schaffenskraft, wie sich in den unzähligen, immer neuen Anläufen zeigte, mit denen Tolkien das Material in eine konkrete Form zu bringen suchte. Und trotzdem unterlag Tolkien nie der Versuchung, sich mit dem jeweiligen gegenwärtigen Zustand seines Werks zufriedenzugeben oder definitive Entscheidungen über das Knie zu brechen: Der Drang, seiner Inspiration gerecht zu werden und den Gehalt des Offenbarten immer besser, kohärenter und schöner herauszuarbeiten, war stärker, und so widmete Tolkien den überwiegenden Teil seiner Schaffenskraft dem Kampf gegen seine eigene menschliche Schwäche als eine den Grenzen von Zeitlichkeit und Natur unterworfene Kreatur und opferte sie dem, was sich durch ihn zu manifestieren suchte – auch dies ein Akt der Hingabe und Selbstopferung im Dienst einer höheren Sache, der fundamental für jeden konstruktiven Widerstand steht.

Erbe und Vorbild

Widerstand: Nicht immer muß er politisch sein, und nicht immer muß er tragisch ausgehen – und trotzdem kann er gerade in der Zukunft höchste Wirkung entfalten. Tolkien ist ein ausgezeichnetes Beispiel dafür, wie man auch unter der Oberfläche scheinbaren Erfolgs doch nicht nur an der „condition humaine“, sondern auch und gerade an seiner eigenen Zeit und seiner eigenen Unzeitgemäßheit leiden kann und, nahezu unbekannterweise, sein gesamtes Leben einer höheren Aufgabe zu widmen vermag, die dem Zeitgeist fundamental zuwiderläuft. Ist dies Eskapismus, wie Tolkien (bis heute) vorgeworfen wird? Mitnichten! Denn, um seine eigenen Worte zu zitieren („On Fairy Stories”):

„Ich habe behauptet, daß ‚Flucht‘ [escape] eine der Hauptfunktionen von Märchen ist, und da ich sie nicht ablehne, ist es klar, daß ich den Ton der Verachtung oder des Mitleids nicht akzeptiere, mit dem das Wort ‚Flucht‘ heute so oft verwendet wird […]. Warum sollte ein Mann verachtet werden, wenn er sich im Gefängnis befindet und versucht, nach Hause zu kommen? Oder wenn er, wenn er das nicht kann, über andere Themen als Kerkermeister und Gefängnismauern nachdenkt und spricht? Die Welt draußen ist nicht weniger real geworden, weil der Gefangene sie nicht sehen kann. Wenn die Kritiker den Begriff ‚Flucht‘ auf diese Weise verwenden, haben sie das falsche Wort gewählt. Außerdem verwechseln sie, wenn auch nicht immer aufrichtig, die Flucht des Gefangenen mit der Flucht des Deserteurs.“

Und bedenkt man die enorme Breitenwirkung, die Tolkien seit der Veröffentlichung des „Herrn der Ringe“ im ganzen Westen entwickelt hat, und die in den letzten Jahren trotz (oder gerade wegen) aller Angriffe auf Tolkiens Erbe immer noch an Bedeutung gewinnt, läßt sich der Eindruck kaum von der Hand weisen, daß hier ein einziger Autor durch ein Werk, das (fälschlicher- und naiverweise) der Kategorie der „Unterhaltungsliteratur“ zugerechnet wird, ja gar der übel beleumdeten Gattung der „Fantasy“, mehr für Glauben, Tradition und Konservatismus getan hat als die meisten Politiker des letzten Jahrhunderts.

Gerade heute sollte uns dies zu denken geben, haben wir doch oft den Reflex, auf die Zerstörung all‘ dessen, was uns lieb und teuer ist, mit der Kritik an den Zerstörern zu reagieren und auf Negativität mit Negativität zu antworten, anstatt vielmehr konstruktiv und kreativ aus demselben Brunnen der Tradition etwas Neues zu schöpfen, das die Sterilität bloßer Analyse überwindet und den großen Zeugnissen der Vergangenheit an die Seite gestellt werden kann. 

Nur, wenn wir auch durch unsere Kunst im hier und heute immer wieder beweisen, was wir mit jenem „Abendland“ meinen, das wir gegen die innere wie äußere Zersetzung verteidigen wollen, können wir jene Vorbildwirkung entfalten, die auch in unseren Mitmenschen eine echte innere Hingabe an unser Erbe schaffen kann.

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1 Kommentar. Leave new

  • Joko Schwarzstein
    2. Dezember 2023 11:46

    Wunderbarer Beitrag, danke. Mir ist jetzt ein Stück klarer geworden, warum ich angefangen habe, Fantasy zu schreiben. Ich schaffe eine Welt und Charaktere, zu der, zu denen ich stehen kann.
    Aber bitte, jetzt schiebt mir nicht unter, ich würde mich mit Tolkien vergleichen wollen.

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