Wenn eine Gesellschaft beginnt, das Denken zu klassifizieren, ist der Ausnahmezustand nicht mehr weit. Nicht der politische, sondern der epistemologische. Die Idee, dass es falsche Gedanken gebe, die nicht einmal gedacht – geschweige denn gesagt – werden dürften, ist kein dystopischer Zukunftsentwurf mehr, sondern das Betriebssystem der Gegenwart. Und dieses Betriebssystem läuft unter dem Codewort: Desinformation.
Mein Buch Desinformiere dich! setzt genau hier an – nicht als polemische Abrechnung mit einzelnen Fehlentwicklungen, sondern als philosophisch-politische Analyse eines Kulturkampfes um den Begriff der Wahrheit selbst. Sein Titel ist ein Befehl mit Subversionspotenzial: Desinformiere dich! – nicht weil Wahrheit unwichtig wäre, sondern weil der gesellschaftliche Umgang mit der sogenannten Desinformation längst selbst zur Desinformation geworden ist.
Der Begriff der Desinformation – ein trojanisches Pferd
Was genau ist Desinformation? Die offizielle Definition lautet meist: gezielte Verbreitung falscher oder irreführender Informationen mit dem Ziel, die öffentliche Meinung zu manipulieren. Doch was bedeutet „gezielt“? Wer entscheidet, was „falsch“ ist? Und was ist mit Informationen, die als falsch gelten, aber später als wahr erkannt werden – oder umgekehrt?
Der Begriff „Desinformation“ ist kein neutrales Werkzeug zur Wahrheitsfindung. Er ist ein politisches Instrument. Er behauptet Objektivität, wo in Wirklichkeit Deutungshoheit verhandelt wird. Er funktioniert wie eine Black Box: Von außen sieht man nur das Etikett „gefährlich“, „falsch“, „radikalisiert“. Doch welche Kriterien zu dieser Einordnung führen, bleibt verborgen.
Das macht Desinformation zu einem idealen Machtinstrument in digitalen Öffentlichkeiten: Sie ist moralisch aufgeladen, epistemisch unscharf und technisch leicht operationalisierbar. Sie bietet Regierungen, Plattformen, Institutionen und Medien die perfekte Begründung für Eingriffe in Kommunikation – stets im Namen der Sicherheit, der Demokratie, des „Schutzes“.
Der moralische Kurzschluss: Schutz durch Zensur
Die zentrale These von Desinformiere dich! lautet: Der Diskurs über Desinformation ist selbst desinformativ, weil er vorgibt, Probleme zu lösen, die er in Wahrheit erzeugt.
Wer eine Gesellschaft vor Desinformation „schützen“ will, muss zwangsläufig Kriterien definieren, was gesagt werden darf – und was nicht. Er wird zum Wahrheitswächter. Doch Wahrheit lässt sich nicht per Dekret durchsetzen. Sie entsteht – wenn überhaupt – im offenen Streit, in der ungesicherten Auseinandersetzung, im Zweifel. Wer Desinformation exkludiert, bevor sie sich überhaupt entfalten kann, entzieht der Wahrheit den Sauerstoff.
Diese Art der „präventiven Aufklärung“ ist nicht neu. In der Geschichte war sie stets die Maske autoritärer Systeme, die sich als Sachwalter des Volkes inszenierten. Doch heute trägt sie ein progressives Gesicht. Ihre Vokabeln sind: digitale Resilienz, Faktenchecks, Plattformverantwortung, Content-Governance.. Die Behauptung lautet: Die Öffentlichkeit ist zu schwach, zu naiv, zu manipulierbar – deshalb braucht sie Schutz. Und dieser Schutz kommt durch Einschränkung.
Vom Diskurs zum Dispositiv
Hier beginnt der gefährlichste Wandel: Die Lüge wird nicht mehr als Aussage bekämpft, sondern als Infrastruktur. Plattformen, Kanäle, Formate, Sprachmuster – all das wird unter Verdacht gestellt. Desinformation wird zur Bedrohung der öffentlichen Ordnung erklärt. Und damit legitimiert man Gegenmaßnahmen, die nicht nur Inhalte, sondern ganze Sprechweisen delegitimieren.
Desinformiere dich! analysiert diesen Wandel als Verschiebung vom Diskurs zum Dispositiv. Das bedeutet: Nicht mehr das, was gesagt wird, steht im Zentrum – sondern wer spricht, wie, wo, mit welchem Netzwerk, mit welchem Motiv. So entsteht eine paranoide Struktur: Alles könnte Desinformation sein. Jede abweichende Meinung, jeder alternative Link, jede kritische Nachfrage kann Teil einer „Kampagne“ sein. Das Internet wird zum verminten Gelände, das durch digitale Hygiene gesäubert werden muss.
Die Entdifferenzierung von Kritik und Desinformation
Ein weiteres zentrales Argument des Buches betrifft die systematische Verwischung der Grenze zwischen Kritik und Desinformation. Wer heute die Corona-Politik hinterfragt, gilt schnell als „verunsichernd“. Wer die Klimapolitik kritisiert, riskiert, als „Verharmloser“ zu gelten. Wer den Ukraine-Diskurs problematisiert, wird zum „Putin-Versteher“. So entsteht eine politische Hygienezone, in der nur noch systemstabilisierende Aussagen erlaubt sind.
Kritik verliert ihre Funktion als demokratisches Korrektiv und wird zum pathologischen Symptom erklärt. Diese Entwicklung ist nicht nur gefährlich – sie ist selbst destruktiv. Denn eine Demokratie, die sich gegen Kritik immunisiert, untergräbt ihre eigene Legitimität. Die These von Desinformiere dich! lautet daher: Wer im Namen der Wahrheit Kritik bekämpft, zerstört nicht nur den Diskurs, sondern die Wahrheit selbst.
Die neue Zensur: empathisch, wohlmeinend, algorithmisch
Die Zensur des 21. Jahrhunderts tritt nicht mit Uniformen auf. Sie beruft sich auf Verantwortung. Sie ist pluralistisch im Tonfall, technokratisch im Kern. Ihr größter Vorteil: Sie glaubt, das Richtige zu tun. Plattformen löschen nicht aus bösem Willen – sie „optimieren“. Behörden zensieren nicht – sie „moderieren“. Medien diffamieren keine Kritiker – sie „entlarven“. So entsteht eine Atmosphäre des sanften Totalitarismus: Man darf alles sagen, was man darf.
Die zentrale Forderung: Wir brauchen keine neuen Wahrheitsinstanzen. Wir brauchen mündige, denkende, streitende Bürger – auch wenn sie irren – Gerade dann.
Für eine agonistische Öffentlichkeit
Was das Buch in seiner Tiefe fordert, ist eine agonistische Öffentlichkeit: einen Raum, in dem Konflikt erlaubt ist, Dissens produktiv, Fehler Teil des Prozesses. Desinformation, so radikal diese Aussage klingt, ist ein notwendiger Bestandteil demokratischer Öffentlichkeit – nicht als Ideal, sondern als Kollateralschaden der Freiheit. Wer sie eliminieren will, eliminiert auch das, was sie möglich macht: Vielfalt, Widerspruch, Ungewissheit.
Der Kampf gegen Desinformation ist nicht harmlos. Er ist ein Kampf um die semantische Lufthoheit. Um das Deutungsmonopol. Und um die Frage, ob Wahrheit von oben kommen darf – oder immer wieder neu errungen werden muss. Die eigentliche Provokation von Desinformiere dich! liegt nicht in seiner Medienkritik, sondern in seinem ontologischen Zweifel. Es zweifelt daran, dass ein System, das sich als Wahrheitsfilter inszeniert, überhaupt in der Lage ist, die Bedingungen von Wahrheit zu garantieren. Es ist eine Streitschrift gegen die Monopolisierung des Epistemischen.
Nicht aus Zynismus, sondern aus Aufklärung. Nicht aus Trotz, sondern aus Verantwortung. Denn wer sich nur noch informieren lässt, hört auf zu denken. Und wer sich nicht mehr irren darf, wird niemals begreifen.
Der voranstehende Text ist ein Auszug aus dem soeben erschienenen Buch „Desinformiere dich! Eine Streitschrift”.