Europa leidet an seiner überbordenden Komplexität und befindet sich seit der Währungskrise in einer Phase innerer Schwäche und äußerer Bedrängnis, sein Wohlstand droht im globalen Wettbewerb an allen Fronten abzustürzen. Versäumnisse in Entwicklung und Nutzung der IT und der Künstlichen Intelligenz (KI) tragen an diesem Niedergang viel Schuld, denn Europa kann seinen Rückstand gegenüber den IT-Giganten des Silicon Valley kaum mehr aufholen. Die Situation verschärft sich also weiter und verstärkt den grassierenden Vertrauensverlust der Europäer in ihre Regierungen. Eine Trend-Umkehr muss daher angestrebt werden – diesmal wohl wirklich „koste es, was es wolle“.
Allerdings sollte unbestritten sein, dass KI im Mikrokosmos – etwa bei Herzschrittmachern oder sich selbst steuernden und Stiegen steigenden Rollstühlen – segensreich ist; KI im Pflegeeinsatz wird mich einst auch besser verstehen und betreuen als eine ungelernte Immigrantin. Im Makrokosmos wird die KI jedoch gefährlich werden: Völlige Unüberschaubarkeit, völlige Überlegenheit, Arroganz, Missbrauch durch Insider u.v.m könnten eine international gut vernetzte und überlegene Oligarchie produzieren, während tief darunter die weniger Glücklichen verzweifelt und vergeblich nach dem Gesetzgeber rufen. Mit etwas Glück werden diese zumindest bei panem et circenses ihren Anspruch auf Menschenwürde zu vergessen haben.
Die Dorf-Intelligenz
Eine europäische Gegenstrategie wird also dort anzusetzen haben, wo die KI-Technologie direkt gegen die menschliche Würde bzw. Souveränität verstößt. Primäres Ziel dieser IT-Politik sollte daher die umfassende Stärkung des individuellen Selbstbewusstseins souveräner Bürger sein; und konkreter Ansatzpunkt wäre dann wohl der Bereich, wo IT am schwächsten ist.
Beide Punkte werden durch Ausrichtung unseres Gesellschafts- und Wirtschaftsbildes am Prinzip der Dörflichkeit abgedeckt; also durch die Weiterentwicklung der in den 1950er Jahren entwickelten Lehre Leopold Kohrs und E.F. Schumachers von den kleinen Einheiten, wie sie im Motto „small is beautiful“ bekannt wurden.
In einer ersten Phase einer solchen Dorfgesellschaft, die zweifellos mehrere Jahre dauern wird, soll es um die nachhaltige Sicherung der Notversorgung ihrer Bevölkerung mit Nahrungsmitteln und Energie gehen; die Hoch-Zeit langer Lieferketten dürfte ja vorbei sein …
Mit dieser Dörfllichkeit ist nicht die Rückkehr in das romantisierte Bild kleiner Hausansammlungen gemeint, die sich wie Hennen um den Hahn bzw. die Kirche und Turm scharen; vielmehr ist damit der überschaubare soziale Raum gemeint, in dem der Großteil aller menschlichen Beziehungen in einem engen Netzwerk persönlicher Bekanntschaften abläuft.
Damit soll ein viel zu wenig beachteter Vorteil der biologischen Erkenntnisfähigkeit des Menschen genutzt werden, der gerade in Zeiten überbordender Komplexität maximal genutzt werden sollte: Die vieltausendfach höhere Fähigkeit der Informations-Auflösung (in Bytes/sec) unserer ganzheitlich-bildhaften Denkebene gegenüber der abstrakt-sprachlichen Denkebene. Sie funktioniert im vollen Umfang zwar nur innerhalb der Reichweite unserer Sinne, aber durch die Verbindung von Projektionen mit bewusstem wie unbewusstem Erfahrungswissen auch darüber hinaus.
Freilich verlieren diese Projektionen jenseits des „Gesichtskreises“ mit zunehmender örtlicher und zeitlicher Distanz rasch ihre Zuverlässigkeit, doch wird diese Fehlerquelle durch die Dörflichkeit des sozialen Raumes in einer Art Schwarm-Intelligenz weitgehend kompensiert: Wo alle meine Nachbarn über deren jeweiligen „Gesichtskreise“ ganzheitlich informiert sind, kann meine Beobachtung ihrer Reaktionen meinen eigenen „Projektionsverlust“ weitgehend ausgleichen. Von der Kapazität der Informations-Verarbeitung unseres Gehirns her hat jeder Mensch einen Groß-Computer im Kopf – noch dazu einen ganzheitlich-analog arbeitenden Computer auf kleinstem Raum, von dem die IT bis heute nur träumen kann.
Das Kleine im Großen
Dieser soziale Raum sollte nicht größer sein als deutsche Landkreise, Schweizer Kantone oder österreichische Bezirke. Natürlich, wo dies wegen struktureller Schwächen unmöglich ist, muss nachbarschaftliche Kooperation helfen. Und keine Sorge: was über elementare Grundversorgung hinausgeht, würde weiterhin im Rahmen des europäischen Binnenmarktes bzw. des globalisiert gebliebenen Handels bleiben können. Vom Volumen wäre also in „Normalzeiten“ nur ein Bruchteil des Handels lokal gebunden.
So liegt der wichtigste Grund für eine Politik der Dörflichkeit weniger im Materiellen als im Geistigen: Gesicherte Grundversorgung eines kleinen geografischen Raumes kann ihren Bewohnern in Zeiten unsicher gewordener Lieferketten erstmals wieder volle Überschaubarkeit für die dort zu treffenden Entscheidungen bieten. Die Sicherheit, nun für Notfälle gewappnet zu sein, stärkt ihr allgemeines Selbstvertrauen und damit auch die Basis für Gemeinsinn und Solidarität. Und auf dieses neue Bewusstsein bauend, würde dann auch außerhalb des lokalen Rahmens deutlich mehr Verständnis für die Komplexität der Politik im Großen entstehen – was auch dort neben mehr Mitsprache auf mehr Respekt für Transparenz und auf das oft zitierte und wenig beachtete Prinzip der Subsidiarität hinausliefe – also das „oben soll nur machen, was unten nicht kann“. Gerade dieser Grundsatz der Lokalisierung ist es im Übrigen auch der, der Klima-Politik den überfälligen Nachdruck verleihen würde.
Der Weg zur Dorfgesellschaft soll in Europa auf zwei Ebenen erreicht werden: Aufgabe der EU-Ebene ist zum einen die Sicherstellung der demokratischen und sozialen Informationsfreiheit durch Kommission, Parlament und Gerichtshof – und zum anderen die Aufwertung des bereits bestehenden Regionalausschusses als zentrales Koordinierungs-Forum. Auf lokaler Ebene sollen „Leistungsgemeinschaften“ für Ernährung und Energie entstehen. Diese wurden schon in den 1950er Jahren von der katholischen Soziallehre (vor allem Oswald von Nell-Breuning) konzipiert und verstehen sich als demokratisch organisierter Zusammenschluss aller Stake-holder einer Branche.
Von zwei Seiten sollte diese Strategie besondere Unterstützung erfahren: Sie kann als Beitrag zur Sicherung der Menschenwürde verstanden werden, wie sie von Atheisten und Christen verstanden wird. Und sie passt in alle Programme demokratischer Parteien; gerade dieser Umstand ist in Zeiten politischer Ratlosigkeit geradezu sensationell und lädt zu einem konstruktiven Wettbewerb ein.
1 Kommentar. Leave new
Ein interessanter, wohlüberlegter Text, den ich mit Vergnügen gelesen und in Beziehung zu den Gedanken in „Der menschliche Kosmos“ gesetzt habe. Beim „Groß-Computer im Kopf“ erhebe ich Einspruch: „ganzheitlich-analog“ und Computer sind ein Oxymoron. Aber freilich träumen viele davon ebenso wie vom „digitalen Zwilling“. Bei genauem Hinsehen handelt es sich dabei um einen ebensolchen Alptraum wie bei der neurochirurgischen – also analogen – Erschaffung des „Neuen Menschen“. Sich darüber zu verständigen ist gewiss sinnvoll.