Konformismus oder das Schweigen der Lämmer

Wer streitet, ist in Deutschland umstritten. Werden in Parteien Meinungsunterschiede offen ausgetragen, sind sie sofort zerstritten. Dies ist unstrittig von Nachteil.

Die Ablehnung von Streit hat Tradition. »Ein garstig Lied! Pfui! ein politisch Lied!« sagt Brandner in Auerbachs Keller in Goethes Faust. 

Ausbleibenden Streit empfinden die Deutschen nicht als Mangel. Da Demokratie nichts anderes ist als ritualisierter und institutionalisierter Streit, spüren sie also auch nicht die Mängel ihrer Demokratie. Geschlossenheit gilt in Deutschland als Tugend. Wer die Mängel der eigenen Demokratie nicht empfinden kann, kann auch das Verhängnis nicht einschätzen, in das er sich begeben hat. Auch dies ein Teufelskreis. 

Streit steht zu Unrecht in schlechtem Ansehen. Zum Streiten braucht man mindestens zwei; er ist also eine gemeinsame Anstrengung. Selbst Uneinigkeit verbindet. So steckt im Streit der Schlüssel zur Einigkeit. Wer nicht streitet, dem ist das Umstrittene auch nichts wert. 

Für die Dialektik von Dissens und Konsens sind die Deutschen allerdings nicht zu haben. Sie neigen in jeder Hinsicht zu Pazifismus. Er steht auf einem festen Fundament, das nicht Friedensliebe oder Harmoniesucht heißt, sondern Schiss. Sich aus allem heraushalten und bloß nicht behelligt werden: die deutsche Variante des Pazifismus. 

Streit setzt die Fähigkeit voraus, selbst zu denken. Wer nicht denken kann, kann nicht kritisieren, sondern nur beschimpfen oder hassen oder blind verehren. Dies ist die Dialektik des Streits: Wer kritisieren will, muss zu Selbstkritik fähig sein – eine Errungenschaft der Demokratie, seit im alten Athen Selbstkritik zur Verbesserung der Politik eingeführt und systematisiert wurde. Schlag nach bei Sokrates! 

Dem ist das bekanntlich nicht gut bekommen. Weil, auch das lernen wir bereits von den alten Griechen, Demokratie in der Weltgeschichte eher die Ausnahme ist als die Regel. Wenn das Streiten nicht mehr funktioniert, funktioniert auch Demokratie nicht mehr. Ohne Streit ist keine lebendige politische Gemeinschaft möglich. Vermutlich gilt das auch in der intimen Kleingemeinschaft der Familie. Streit erhält die Gemeinschaft: es ist die ins Nützliche gedrehte Umkehrung des Teufelskreises und erklärt, weshalb Konsenssucht schädlich ist für Demokratie und Freiheit. 

Die Deutschen sehen sich selbst gern als Konsensgesellschaft. Lieber geschlossen untergehen als für eine bessere Zukunft streiten.

Wer nicht streitet, geht konform. Konformismus ist in der Demokratie die Grundhaltung des Unpolitischen. In der Diktatur ist es umgekehrt. Der Konformist ist die Stütze des Systems. 

Der Klügere gibt nach, glaubt der Konformist und schließt sich prinzipiell dem Stärkeren an. Obwohl er weiß, dass der der Dümmere ist. Seine Maxime: lieber dumm als schwach. 

Die Ursachen des Konformismus sind mehrfach brillant beschrieben worden. Elisabeth Noelle-Neumann nennt den Mechanismus, der Konformismus erzeugt, »Schweigespirale«. Das Individuum heult gern mit den Wölfen. Damit hofft es, auf der sicheren Seite zu sein. Wenn es nicht heulen mag, dann wenigstens schweigen. Zuletzt hat Norbert Bolz in seinem Buch Der alte weiße Mann. Sündenbock der Nation die Versklavung beschrieben, mit der in der Mediendemokratie gut organisierte Minderheiten der Mehrheit ihre Meinung aufzwingen. Am Ende ist die öffentliche Meinung nicht das, was »die Leute meinen, sondern das, was die Leute meinen, was die Leute meinen«. Konformismus ist Anpassung und Unterwerfung. Deshalb wird der Mainstream immer breiter. 

Was nicht heißt, dass der Konformist gern für konformistisch gehalten werden möchte. Er gibt sich gern als Individualist. Die gesamte Lifestyleindustrie lebt davon. Sie vertreibt die Masken, mit der sich der Konformist als »authentischer« Individualist kostümiert. 

Der Konformist ist nur richtig bei sich, wenn er mit dem Finger auf den Nonkonformisten zeigt, also auf sich. 

In äußerster Not bringt der Konformist ein vielsagendes Schweigen zum Ausdruck. Aber am liebsten schweigt er vielstimmig. 

Das Bürgertum ist für Konformismus empfänglich, 

denn es hält auf tadelloses Benehmen. Die Form gilt ihm mehr als die Wahrheit. Wer über die Wahrheit nicht reden kann, muss die Wahrheit verschweigen. 

Der Konformist trägt gern die Kluft des Patrioten. Als Mittel zum Zweck ist der selbst in einer Partei willkommen, die von Patriotismus nie etwas gehalten hat. Im Juli 2022 warnte etwa Baden-Württembergs grüner Ministerpräsident Winfried Kretschmann vor einem Auseinanderreißen der Gesellschaft im Fall einer Gasmangel-Lage im Winter. Deshalb komme es darauf an, »dass wir uns in den wesentlichen Punkten nicht auseinanderdividieren lassen … Dabei ist auch unser Patriotismus gefragt.« Von Habeck ist der gern zitierte Satz überliefert: »Vaterlandsliebe fand ich stets zum Kotzen.« Doch als er ihn formulierte, war er noch nicht Wirtschaftsminister. Es sind immer nur die Mächtigen, die zu Geschlossenheit auffordern. Gern geben sie deshalb Patriotismus als Sittenlehre aus. 

Die grünen Sittenlehrer schenken dem Staat so lange Verachtung, bis sie ihn in ihren eigenen Händen halten. Dann wacht der Staat unter ihrer Aufsicht über die zulässigen Sitten. Wer sie ablehnt, ist unsittlich, kann also kein Patriot sein. Patriotismus ist noch immer als Mittel der Disziplinierung missbraucht worden. 

Ein Gespenst geht um in Deutschland: das Gespenst der Spaltung. Die Spalter sind immer die anderen. Die Woken sind achtsam gegenüber jedermann und jederfrau und allen dazwischen. Nur alte weiße Männer, Konservative, Liberale, Skeptiker, Selbstdenker und überhaupt Andersdenkende achten sie nicht. Sie wissen zwischen Hell- und Dunkeldeutschland klar zu unterscheiden. Mit Gutmenschen muss man nicht streiten. Mit den anderen zu streiten ist sinnlos. 

Und was ist mit der sozialen Spaltung? Man kann nicht alles haben, finden die Klimakteriker. Sie haben schließlich andere Sorgen. Die große Transformation lässt sich nicht aus den Ärmeln schütteln. Wo gehobelt wird, fallen Späne. Man muss Prioritäten setzen. Klima geht vor Wohlstand. Die Moral vor dem Fressen. Das zu bestreiten ist verboten. 

Was den grünen Konformisten verloren geht, ist Ambivalenz. Der schöne Platz zwischen den Stühlen. Sie verlangen, sich zu entscheiden. Wer nicht gegen Atomstrom ist, ist dafür. Wer mangelnde Integration kritisiert, ist gegen Flüchtlinge. Wer nicht die rechte woke Gesinnung zeigt, ist rechts. 

Der Konformist ist ein naher Verwandter des Prinzipienreiters. Linientreue schützt sie vor ihren eigenen uneingestandenen Zweifeln. Es geht dann nicht mehr um richtig oder falsch. Richard Wagner: »Deutsch sein heißt, eine Sache um ihrer selbst willen tun.« Liberale Gesellschaften streiten um pragmatische Alternativen, die Deutschen, falls sie streiten, um Grundsätze. Die Pragmatiker setzten sich auseinander, die Prinzipienreiter dividieren auseinander. Sie spalten. 

Im Umgang mit Spaltern macht bereits flüchtiger Kontakt schuldig. Covid ist Dreck dagegen. In diesem Fall helfen weder Maske noch Impfung. Besonders gilt das für den Umgang mit der AfD in den Parlamenten. Kein »Demokrat« darf den Unberührbaren in irgendeiner Frage zustimmen, schon gar nicht mit deren Stimmen gewählt werden, selbst wenn die Wahl demokratisch ist.

Als im Februar 2020 in Thüringen der FDP-Abgeordnete Thomas Kemmerich auch mit Stimmen der AfD (und der CDU) im dritten Wahlgang zum Ministerpräsidenten gewählt worden war, entrüstete sich die gerade im fernen Südafrika weilende Kanzlerin. Der Vorgang sei »unverzeihlich«, das Ergebnis müsse rückgängig gemacht werden. Das Bundesverfassungsgericht verurteilte die erfolgreiche Einmischung. Merkel habe in amtlicher Funktion die AfD negativ qualifiziert, damit in einseitiger Weise auf den Wettbewerb der politischen Parteien eingewirkt und das Recht der AfD »auf gleichberechtigte Teilhabe am Prozess der politischen Willensbildung aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG« verletzt. Folgen hatte das Urteil nicht. Die veröffentlichte Meinung stimmte Merkels Intervention zu. Derzeit wird die offene Gesellschaft von geschlossenen Weltbildern kaserniert. Was schließen wir daraus? Das Klima ist wichtiger als die Freiheit, die woke Gesinnung wichtiger als die Demokratie. 

Polarisieren ist etwas anderes als Spalten. Es gehört zum Streiten dazu. Wer polarisiert, macht Unterschiede klar. Wer spaltet, hält Unterschiede nicht aus. Wer Unterschiede nicht erträgt, grenzt aus. Statt über Meinungen zu debattieren, wird dauernd darüber debattiert, welche Meinungen statthaft sind und welche nicht. 

Kräftig ausgegrenzt wird auch in demokratischer Meinungsvielfalt verpflichteten Parteien. Eher befreien sich – was selten gelingt – die CDU von Hans-Georg Maaßen, die SPD von Thilo Sarrazin, die Grünen von Boris Palmer und die Linke von Sahra Wagenknecht, statt sie als Bereicherung zu begreifen. 

Als der Tübinger Oberbürgermeister Palmer, damals noch Mitglied der Grünen, sich in einem »Memorandum für eine andere Migrationspolitik in Deutschland« für »Menschlichkeit und Empathie (…) ohne Blauäugigkeit und das Verschweigen von Problemen« aussprach, wurde er »menschenverachtender Positionen« (Grüne Jugend) geziehen und aus den eigenen Reihen als »Rechtsaußen der Grünen« attackiert. Dieser Reflex funktioniert sofort. Die Verfasser des Memorandums nennen sich »Vert Realos«: Tatsächlich gibt es bei den Grünen keinen ausgewachsenen Realoflügel mehr, der sich als Teil der bürgerlichen Mitte verstünde, fast die gesamte Partei ist im linken Mainstream untergetaucht. 

Meinungsvielfalt ist nicht erwünscht. Diversity schon. Die Diversen sollen sich unterscheiden, ihre Haltungen aber keinesfalls. Ausgerechnet die Propagandist:innen von Diversity tun sich beim Ausgrenzen besonders hervor. 

Das wirkungsvollste Mittel der Ausgrenzung ist die Sprache. Sie ist so vermint, dass kein offener Diskurs möglich ist, ohne moralische Empörung auszulösen. Als rassistisch, antisemitisch, kolonialistisch, misogyn etc. wird automatisch ausgegrenzt, wer die gewohnte Sprache vorzieht. Das Normale ist nicht mehr üblich, das Unübliche ist die neue Norm. Vorsicht und Rücksicht gehen vor Klarheit und Verständlichkeit. Erstes Gebot: Du sollst nicht provozieren und verletzen. Die ständige Vorsicht ruiniert die Qualität der Debatten und damit auch den Charakter der Politik. 

Das ist gut in der CDU zu sehen, die nach Merkels Ära noch immer mit quietschenden Reifen über den Parcours des Zeitgeists schlingert. Es lähmt sie auch die panische Angst davor, in Sprachfettnäpfchen zu treten. Selbst kleinste »Verfehlungen«, wie etwa Friedrich Merz’ Bemerkung über »die kleinen Paschas«, machen angreifbar. Das Thema, um das es geht, also die Erziehung in der islamischen Parallelgesellschaft, gerät darüber an den Rand. Der CDU ist in dieser Hinsicht selbst nicht über den Weg zu trauen. Für den Pakt mit den Grünen würde sie ihren Schatten verkaufen. Das fiele ihr schon deshalb leicht, weil sie schon länger keinen Schatten mehr wirft. Weil es die AfD gibt, sieht sich die CDU zu Bündnissen mit den Grünen gezwungen. Ein Dilemma, das sie sich selbst zuzuschreiben hat. Letztlich ist die AfD Fleisch von ihrem Fleisch. Eine Abspaltung, verursacht vom eigenen Linksrutsch. Die CDU schließt sich der Stigmatisierung der AfD an, um nicht in ihre Nähe gerückt zu werden – was dennoch geschieht. Statt den konservativen Teil der Wählerschaft zu binden und damit der AfD zu schaden, gibt sie ihn auf. CDU-Politiker agieren oft wie Angeklagte, die auf mildernde Umstände plädieren. 

Konsens ist kein Wert an sich. Meist handelt es sich um faule Kompromisse. Manche Konflikte lassen sich nur mit faulen Kompromissen beenden. Aber Kompromisse, die nur dazu gut sind, notwendige Konflikte zu vermeiden, sind wertlos. 

Schön, wenn schwierige Entscheidungen von einer großen Mehrheit getragen werden. Aber die Mehrheit hat nicht immer Recht, und die qualifizierte Mehrheit ist selten identisch mit der Mehrheit der Qualifizierten. Schwarmintelligenz gibt es allenfalls im Tierreich. Im Konsens wird oft Falsches beschlossen, der allgemein begrüßte überstürzte Ausstieg aus der Kernenergie nach dem Tsunami in Japan ist dafür ein Beispiel. 

Die mangelnde Bereitschaft zum Konflikt hängt mit dem Mangel an Liberalität zusammen. Liberal sein heißt nicht, alles zu tolerieren, sondern Unterschiede auszuhalten. Liberale, die nicht alles tolerieren, werden für rücksichtslose Egoisten gehalten. Ohnehin rangiert Freiheit immer hinter Sicherheit. Jemand kam sogar auf den Einfall, Freiheit zur »Floskel des Jahres 2022« zu küren; das zeigt, in welchem Ansehen der Liberalismus steht. 

Strittige Maßnahmen werden für alternativlos erklärt, um sie dem Streit zu entziehen. Wer etwas nicht will, erklärt es für moralisch untragbar. Das vereinfacht zwar die Angelegenheit nicht, aber verkürzt sie.

Das war nicht immer so. Am Anfang der Bonner Republik waren fundamentale Entscheidungen zu treffen: Soziale Marktwirtschaft oder staatliche Lenkung, Wiederbewaffnung oder Wiedervereinigung mit Moskaus Segen. Kapitalismus und Westbindung waren höchst umstritten, auch in der Kanzlerpartei. Adenauer und Erhard setzten sie in zähem Ringen gegen massiven parlamentarischen und außerparlamentarischen Widerstand durch. Es dauerte Jahre, bis die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung vom eingeschlagenen Weg überzeugt war. Am Ende vollzog sogar die sozialistische SPD mit dem Godesberger Programm einen ideologischen Kurswechsel – und machte sich damit koalitionsfähig. Wäre Adenauer nur Stimmungen gefolgt, hätte die Bonner Republik nicht lange existiert. 

Wer nichts mehr gegen das Vernünftige vorzubringen weiß, sagt, es sei leider nicht konsensfähig. Ein Totschlagargument. 

Ein Beispiel dafür, wie das läuft: Nahezu unisono widersprach die Fachwelt dem Präsidenten des Naturschutzbund Deutschland, Jörg-Andreas Krüger, der wahrheitswidrig behauptet hatte, an Bohrstellen für Schiefergas häuften sich Krebsfälle. Dabei wäre heimisches Schiefergas billiger und umweltfreundlicher als Flüssiggas aus den USA oder Katar. Mit 200 Bohrplätzen könnten 50 Jahre lang 40 Prozent des russischen Erdgases ersetzt werden. Negative Folgen für die Umwelt wären nicht zu befürchten. Das stellten auch der Berufsverband der Geowissenschaftler und die Deutsche Geologische Gesellschaft fest. Dennoch wird die heimische Energiequelle nicht genutzt. Die Grünen blockieren. 

Wie auf Bestellung knickten nun manche Wissenschaftler ein. Sie behaupteten zwar nicht, Schiefergas sei gefährlich, verwiesen jedoch auf die fehlenden »gesellschaftlichen Rahmenbedingungen«. Wenn fachliche Argumente ausgehen, werden fachfremde gefunden, um das politisch gewünschte Ergebnis zu sichern. 

Es wäre Aufgabe der Wissenschaft, die Debatte zu entideologisieren. Die gesellschaftliche Akzeptanz wäre dann das Ergebnis. Statt dessen ducken sich die Fachleute weg. Dem Konsens werden bessere Argumente von vornherein geopfert. In der Geschlossenheit suchen die Deutschen Schutz, im Zusammenhalt Wärme. Wenn schon die Welt so schwierig und bedrohlich geworden ist, soll nicht auch noch Zwietracht die Stimmung belasten. 

Versuch und Irrtum sind das Grundprinzip jeglichen Fortschritts, nicht nur in der Wissenschaft. In der Politik ist dieses Prinzip kaum verbreitet, denn es verträgt sich nicht mit dem, was die Deutschen unter Führung verstehen. Ein Führer, der irrt, gilt als ein Führer, der sich verirrt hat. Folglich behält er das besser für sich und folgt weiter dem falschen Kurs. Ist die Lage erst richtig verfahren, verkündet er die nächste Zeitenwende. Dieser Moment gilt als Erleuchtung, nicht als Eingeständnis. 

Auch die Wissenschaft spürt die Schwerkraft des Konformismus. Sowohl in der Klimapolitik wie bei den Covid-Maßnahmen beriefen sich die Regierenden auf wissenschaftlichen Konsens, den es nie gab. 

Vielmehr wurde mit harten Bandagen hinter den Kulissen gekämpft. Der einflussreichste Berater der Bundesregierung, Christian Drosten, forderte gegen unliebsame Kollegen »eine Sanktion aus dem beruflichen Umfeld«, um zu verhindern, dass sie »falsche Behauptungen, die Menschenleben kosten, in die Medien tragen.« Seine eigene nachweislich falsche Empfehlung, die Schulen zu schließen, wurde dagegen mit breiter Unterstützung von Journalisten, die ihm an den Lippen hingen, Realität. Den Konsens verweigernden Wissenschaftlern wurden Forschungsgelder verweigert, Lehraufträge gestrichen. Talkshowprofessor Lauterbach verdankt es seiner Medienpräsenz, Gesundheitsminister geworden zu sein. Journalisten lechzten nach seinen übertriebenen Voraussagen. Weder die angekündigten »Killerviren« noch die »Sommerwelle« trafen ein. Die Impfung schützte keineswegs, wie von ihm behauptet vor Ansteckung, und frei von Risiken war sie auch nicht. Aber das alles sahen ihm die Medien nach, die bis heute nicht bereit sind, sich für ihre fatale Panikmache zu rechtfertigen oder wenigstens zu entschuldigen. 

Journalisten sind an und für sich Skeptiker von Beruf. 

Unabhängig davon, für welche Sache ihr Herz schlägt oder wem sie politisch nahestehen, sollten sie grundsätzlich alles kritisch betrachten. In der Bonner Republik war das noch so üblich. In den Covid-Jahren stellte sich die Mehrheit der Journalisten den Erziehungsmaßnahmen und dem Freiheitsentzug zur Verfügung. Auch das gehört zur bitteren Bilanz der Berliner Republik. Mit einem großen Teil der Presse als Kontrollinstanz (»vierte Gewalt«) ist vorläufig nicht zu rechnen. 

Kritik an den herrschenden Verhältnissen galt in der Bonner Republik a priori als links. Wer heute Zweifel äußert, muss damit rechnen, für rechts gehalten zu werden. Die aktuelle Unterscheidung lautet nicht rechts und links, sondern rechts und richtig. Rechts ist grundsätzlich falsch. 

Warum sich der Untertanengeist in Deutschland hartnäckig hält? Ehrfurcht vor Ämtern und Titeln ist ein Grund, aber nicht der entscheidende. Es ist die Idee vom guten Staat. Ein guter Staat ist ein Staat, der den Bürgern Sorgen abnimmt. Der Bürger wird zum »Sozialuntertan«. Davor hat bereits Ludwig Erhard gewarnt. Das Volk sei empfänglich für die »geistige Bevormundung einer ebenso machthungrigen wie seelenlosen Bürokratie und Bonzokratie.« Diese Schwäche der Demokratie ist so alt wie die Demokratie selbst. Alexis de Tocqueville hat schon 1835 in seinem Buch Die Demokratie in Amerika auf die Gefahr hingewiesen, dass die Bürger ihrer Eigenverantwortung entwöhnt und beraubt würden. Notwendig wäre eine Bürgerschaft, die keinen falschen Parolen auf den Leim geht. 

Statt mit weitsichtiger Politik Krisen vorzubeugen, versucht der Staat, die Bürger mit »Wohltaten« ruhig zu stellen. So ist das auch mit Wumms und Doppelwumms. 

Die Bürger sollen vergessen, welchen Anteil die »Wohltäter« an der Krise haben. Deutschland befasst sich stets mehr mit der »Abfederung« der Missstände als mit deren Ursachen. 

Von der Wiege bis zur Bahre seiner Bürger beansprucht der Staat Zuständigkeit. Daran haben sich die Bürger gewöhnt. Die wenigsten erkennen den Preis. Hauptsache, es geht dabei gerecht zu. Gerecht ist wichtiger als richtig. Die Bundesrepublik wird seit jeher von ihrer Sozialpolitik zusammengehalten. 

Staatsgläubigkeit und Konformismus sind vom selben Holz. Empfänglich dafür sind in Deutschland nicht nur die kleinen Leute, sondern alle Empfänger staatlicher Mittel. Auch die Wirtschaft ruft schnell und laut nach Subventionen, besonders nach staatlicher Kompensation für finanzielle Einbußen aufgrund von Covid-Maßnahmen und explodierender Energiepreise. Mehr Markt fordern sie selten. Die planwirtschaftlichen Ambitionen der Ampel-Regierung stoßen kaum auf Widerstand. 

Kein Wunder, dass die Automobilindustrie auf dem Weg des geringsten Widerstands ins eigene Verderben rennt. Kein Spitzenmanager sagt offen, was er vom Elektrifizierungswahn hält. Die Industriellen kuschen und folgen den Vorgaben der Politik. Kaum einer eckt an. 

Wie auch? Die innere Freiheit dazu bedürfte eines sicheren Urteils, das nur der gewinnt, der eigenständig denkt. Es ist eine Frage der Persönlichkeit – also der Erziehung – und der Bildung. Verloren ist, wer nicht über innere Maßstäbe verfügt, sondern sich vom Zeitgeist scheuchen lässt. Wieder ein Teufelskreis. 

Jasager, Mitmacher, Duckmäuser sind ein Erzübel der Demokratie. Sie sind überall zu finden, wo Karrieren winken. Unabhängigkeit ist dann keine Eigenschaft, die zählt. Das ist in der Wirtschaft nicht anders als in den Medien, in der Wissenschaft und in der Politik. Nonkonformismus ist die neue Staatsräson. 

»Das ist ein Querdenker!« Früher war das ein Kompliment, heute ein Schimpfwort. Früher standen Nonkonformisten in Opposition zur bürgerlichen Lebensart. Heute erscheinen Bürgerliche, die sich der Wokeness verweigern, als die letzten Nonkonformisten. Allmählich wird das Bürgerliche zur Gegenkultur. 

Der bürgerliche Nonkonformismus findet heute Ausdruck im Beharren, meint der Medienphilosoph Norbert Bolz. Er spricht von der »Tapferkeit des Bürgers, der sich den bequemen Ausweg der Gesellschaftskritik versagt«. Das ist glänzend formuliert, beschreibt jedoch einen gefährlichen Defätismus. 

Beharren ist notwendig, aber nicht genug. Der bürgerliche Nonkonformist muss Gesellschaftskritiker sein. Wer nicht untergehen will und sein Leben selbstbestimmt führen möchte, ist gezwungen, Widerstand gegen die Zumutungen des Staates zu leisten, nicht nur im Stillen. Ob es ihm behagt oder nicht. 

Dies ist ein Auszug aus dem gerade neu erschienenen Buch „Mehr Anarchie, die Herrschaften! – Eine Anstiftung” von Wolfgang Herles. Dieser Abdruck wurde freundlich genehmigt vom Verlag Langen-Müller.

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