Nachdem es der baden-württembergischen Bildungspolitik gelungen ist, das Ländle von einem sicheren dritten Platz auf dem Siegertreppchen der bundesdeutschen Bildungslandschaft in das untere Drittel desolater Systeme – wie in Bremen oder NRW – herunterzureformieren, sieht sich der beliebte Ministerpräsident Kretschmann, selbst gelernter Pädagoge, zu weitreichenden Erklärungen veranlasst. Nachdem am Bildungselend ausnahmsweise nicht Putin schuld sein kann, werden bisher unumstrittene Bildungsziele einfach entsorgt:
- Geographie: im Zeitalter von Navi und GPS überflüssig.
- Fremdsprachen: es gibt doch Übersetzungsprogramme, jedes Handy kann das besser.
- Rechtschreibung: die Autokorrektur wird’s richten.
- Überhaupt: die KI macht eigentlich Lernen überflüssig, solange man eine Tastatur bedienen kann.
Man darf sich nicht täuschen lassen: Derartige Theorien blühen nicht nur am Neckar und am Bodensee. Auch andere Bundesländer, sogar die hellste Kerze auf der Torte, Sachsen, setzen angesichts des gravierenden Lehrermangels und offensichtlich fehlender „Knete“ für die Schulen zunehmend auf Digitalisierung, die verbrämt wird mit dem Ziel des selbständigen Lernens. Die allfällige Verblödung kriegt ja jeder Jugendliche wohl selber hin, da braucht’s keine Anleitung mehr dazu.
Das Ergebnis: Drei von zehn Jugendlichen können selbst im Alter von 15 Jahren nicht normal lesen und schreiben. Sie verstehen allerhöchstens primitive Sätze, etwa die Tagesschau in einfacher Sprache. Sie sind nicht über das Niveau eines Grundschülers hinausgekommen. „In absoluten Zahlen sind das 250.000.“ Eine Viertelmillion Menschen also, die jedes Jahr komplett aus dem Bildungssystem herausfallen.
Jedem dürfte klar sein, dass das im Ergebnis heiter werden dürfte: Autochthone funktionale Analphabeten treffen dann auf Fachkräfte, die des Deutschen nicht mächtig sind. Auf Politiker-Ebene ist das Thema schon deutlich virulent: Primitive Mathematik wird nicht immer beherrscht, Sprache schon gar nicht.
Ein historisches Versagen
Seit wann aber gibt es diesen unaufhaltsamen Abstiegsprozess? Ich vermute, seit Ende der 1960er Jahre mit der sogenannten Bildungsreform und dem explosionsartigen Anwachsen der Schülerschaft in den sogenannten „höheren“ Bildungsanstalten, was nur durch ein Absenken der Anforderungen machbar war. Das ist so offensichtlich, dass es kaum noch diskutiert werden muss.
Gelegentlich ist auch von einem Rekurs auf das Humboldtsche Bildungsideal die Rede. Was damit konkret gemeint ist, bleibt verschwommen. Humboldt initiierte seine Reformen Anfang des 19. Jahrhunderts, ganz klar in der Absicht, Preußen intellektuell auch international konkurrenzfähig zu machen. Beeinflusst war er von der Romantik und dem damaligen Hype klassischer Bildung. Und er war erfolgreich, wobei die Frage nach dem Grund des Erfolgs des allgegenwärtigen humanistischen Gymnasiums im Kern unklar ist.
Man mache sich klar: Fast 150 Jahre lang erfolgte die Ausbildung der deutschen Eliten fast ausschließlich in einem System, das den Unterricht in den klassischen Sprachen Latein, Griechisch und womöglich auch Hebräisch präferierte und z. B. Naturwissenschaften und moderne Sprachen vernachlässigte oder höchstens in den Realgymnasien partiell zuließ. Trotz dieser Einseitigkeit wurde die bildungsmäßige Grundlage nicht nur für die Höchstleistungen deutscher Philosophie und Literatur gelegt. Auch Militärs, Naturwissenschaftler und Unternehmer durchliefen diesen absolut unpraktischen Bildungsgang. Ein damaliger Gymnasiast kannte wohl die Geographie des westlichen Kleinasien vor Troja oder die Verhältnisse am Trasimener See vor der Niederlage der Römer gegen Hannibal besser als irgendeinen Fleck auf der Landkarte sonst. Beispiele für die nach reinen Nutzenerwägungen völlig „wertlosen“ Lehrinhalte gäbe es zuhauf.
Vielleicht geht es bei der Bildung eigentlich um etwas anderes, nämlich den Zugang zu dem, was Schiller noch Ideenvermögen nennt, was man vielleicht heute Möglichkeiten der Theoriebildung oder wissenschaftlichen Imagination nennen könnte. Hier zeigt sich, dass ein Bildungsverständnis, das im Kern rein materialistisch und reproduktiv ist, zu nichts führt. Der Zwang zu extremer sprachlicher Differenzierung, der im Humboldtschen System noch realisiert war, hat offensichtlich Denk- und Vorstellungsmöglichkeiten eröffnet, die heutzutage nicht einmal mehr gesehen werden, geschweige denn bewusst gefördert werden.
Im Kern hängt alles an der Sprache, und auch Mathematik ist eine Art Sprache der Logik. Darauf zu verzichten dürfte sich langfristig böse rächen.
Italien steuert um
Um es kurz zu machen: Kretschmann hat nicht recht. Seine Forderungen kaschieren nur die massiven Misserfolge der sogenannten fortschrittlichen Bildungspolitik.
Eine andere Richtung scheinen die „Fratelli“ in Italien einzuschlagen:
In der Unterstufe soll mehr Gewicht auf Grammatik und (Hand-)Schrift und ganz generell auf den sprachlichen Ausdruck gelegt werden. Dazu gehört das Auswendiglernen von Kinderreimen und Zungenbrechern. Auch sollen altersgerecht bereits erste Hinweise auf die klassischen Epen, die griechische Mythologie, nordische Sagen und die Bibel gegeben werden.
- Das Fach «Geostoria», das Geografie und Geschichte miteinander vereint, wird abgeschafft. Die Fächer werden wieder separat geführt. Im Geschichtsunterricht sollen vor allem Kenntnisse der italienischen und abendländischen Geschichte vermittelt werden, angefangen bei den alten Griechen und Römern und dem Aufkommen des Christentums.
- Musik und Kunst sollen gefördert werden, sei es durch Instrumentalunterricht, sei es durch Chorgesang. Auch soll das künstlerische Erbe Italiens vermehrt studiert werden.
- Ab der Sekundarstufe wird Latein wieder eingeführt – als Freifach, eine Stunde die Woche. Das Gleiche gilt für den Religionsunterricht.
Noch etwas zaghaft das ganze, aber doch eine deutliche Wende. Man wird sehen, wie sich das auswirkt.
1 Kommentar. Leave new
Ich lese mit großem Interesse Ihre Beiträge. Leider wird der Spaß am Lesen aber stark beeinträchtigt, durch die Schrift, die Sie verwenden…
Es gibt soviele gut lesbare Schriftarten…warum muß es gerade diese sein ??