Nach der Krise ist vor der Krise

Wir haben uns daran gewöhnt. Der Krisenzustand in unserem Land, ja auf unserem Kontinent ist ein Dauerzustand geworden. Atemlos hetzen wir von einer Krise in die nächste, größere Krise. Was die vorletzte Krise war, haben wir dabei schon wieder vergessen, denn unsere Aufmerksamkeitsspanne als Gesellschaft hat sich durch Medienkonsum und Bildungsferne der der Bonobos angenähert. 

Das ist schlecht. Denn die stakkatoartige Kadenz der Krisen ist kein Zufall. Die Krise kommt nicht über uns als Resultat göttlicher oder schicksalhafter Fügung. Sie ist das Ergebnis von Entscheidungen. Und ihr Abschluss bzw. Übergang zur nächsten Krise ist auch das Ergebnis von Entscheidungen. Und in der Regel sind die Entscheidungen, die eine alte Krise abschließen oder bewältigen sollten die Hauptursachen einer späteren Krise. Die Abfolge und die Steigerung der Krisen ist daher kein Zufall, sondern logisch zwingend, nachgerade naturgesetzlich vorgegeben, jedenfalls wenn man die Kurzsichtigkeit und Inkompetenz unserer politischen Klasse für ein Naturgesetz hält. 

Die Tyrannei der Majorität

Die Inkompetenzfalle ist die Metakrise hinter der Krise. Der Grund dafür ist die Art und Weise wie wir unser politisches Führungspersonal auswählen. Wir sind gewissermaßen permanent auf der Suche nach der Inkompetenzkompetenz, der Fähigkeit, die Unfähigsten, Dümmsten, Ungeeignetsten, Rückgratlosesten und Selbstsüchtigsten in die Verantwortung zu bringen, der sie nicht gewachsen sind. Mit anderen Worten: Wir praktizieren adverse Selektion. Wie haben wir das gemacht? Welchen Konstruktionsfehler hat unser politisches System, dass das unweigerlich passiert? Und „hätte man das ahnen können“? 

Ja, man hätte nicht nur, sondern man hat und das lange vor unserer Zeit. Studiert man die Schriften der Staatstheoretiker des 18. Jahrhunderts, unter ihnen insbesondere die der US-Gründerväter, so stellt man schnell fest, dass sie zwar alle das Ideal der Demokratie anstrebten, weil sie als Staatsform in besonderer Weise geeignet ist, die Freiheit des Individuums zu realisieren, dass ihnen aber die inneren Widersprüche und Konstruktionsprobleme des Prinzips einer „Herrschaft der Mehrheit“ schmerzlich bewusst waren. Sie stützten sich dabei auch selbst auf eigene Vorbilder und Vordenker aus der antiken Welt von Perikles bis Cicero. 

Es war ihnen vor allem klar, dass ein demokratisch verfasstes Gemeinwesen eine Verfassung braucht, die eine Tyrannei der Majorität, eine Ausbeutung der Minderheit durch eine der Willkür anheim fallende Mehrheit verhindern soll. Wäre es anders, so könnte man die Verfassung unserer Republiken auf den Satz zusammenschnüren: „Die Mehrheit sagt, wo es langgeht. Punkt.“ 

Schutz vor der Mehrheit

Im Ergebnis waren die Verfassungsgeber auch keine „lupenreinen Demokraten“, sondern sie waren demokratische Republikaner, und so nannte sich die von Thomas Jefferson ins Leben gerufene Partei auch Demokratisch-Republikanische Partei. Was die Gründerväter im Sinn hatten, war nämlich gar keine Demokratie, sondern eine Republik mit einer Verantwortungselite und demokratischen Kontrollmechanismen. 

Viel Mühe wurde darauf verwendet, die Mehrheit an der Errichtung einer Tyrannei zu hindern. Gewaltenteilung, im US-Jargon „Checks and Balances“, Verbriefung von Bürgerrechten, Minderheitenrechten, Grundrechten und praktische Maßnahmen wie das Recht der Bürger Waffen zu tragen, um eine ins Tyrannische abgleitende Regierung aus dem Amt vertreiben zu können, die Etablierung eines Verfassungsgerichtshofes („Supreme Court“) zur Sicherung des Rechtsweges in all diesen Fragen, Begrenzung der exekutiven Gewalt, Verbot von verfassungswidrigen Gesetzen und viele weitere Elemente dienen diesem Zweck. 

Der Staat hat in dieser Denkschule den Auftrag, die Rechte des Einzelnen zu schützen und damit auch die der Minderheiten. Ayn Rand formulierte es wie folgt: „Die kleinste Minderheit auf der Erde ist das Individuum. Diejenigen, die individuelle Rechte leugnen, können nicht behaupten, Verteidiger von Minderheiten zu sein.“

Eingebaute Mängel

Die Erarbeitung der US-Verfassung war Höhepunkt und Ergebnis jahrzehntelanger vorausgehender theoretischer Debatte eines Zirkels hochintelligenter, patriotischer und diskursfähiger Staatsmänner. So gründlich und tiefschürfend konnten die Väter unseres Grundgesetzes leider nicht vorgehen. Sie waren sich zum einen schmerzlich bewusst, dass sie gar keinen Auftrag des Souveräns, des deutschen Volkes hatten, sie hatten zum anderen sehr viel weniger Zeit, die intellektuelle Herausforderung des Übergangs von einer totalen Diktatur zu einer halbwegs funktionierenden Demokratie zu bewältigen. Zudem mussten sie das Ergebnis ihrer Arbeit den Alliierten zur finalen Genehmigung vorlegen. 

All das findet man dokumentiert in den Debattenarchiven des parlamentarischen Rates von 1948 und in den Reden der beteiligten, hier sei insbesondere auf die historische Rede von Carlo Schmid (SPD) vom 8. September 1948, deren gründliches Studium man nur jedem politisch Interessierten ans Herz legen kann. 

Bewusst nannte man das Ergebnis „Grundgesetz“ und nicht Verfassung, weil man eben nicht berufen sei, eine solche zu verfassen und zu verabschieden in Ermangelung des Mandats des Souveräns. Das wir uns 75 Jahre später daran gewöhnt haben, heilt nicht den Mangel, denn Gewöhnung und Mandat sind nun mal zwei verschiedene Dinge. In dieses von seinen Autoren so genannten Provisorium schlichen sich einige problematische Konstrukte ein, an denen wir die Wurzeln und Ursachen der eingangs problematisierten adversen Selektion festmachen können. 

Leistungsloses Einkommen

So legt Artikel 21(1) fest: „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.“ – Wie sie das tun, überlässt das Grundgesetz allerdings dem Gesetzgeber in Gestalt des Bundestages, also mithin den Parteien selbst. Mit anderen Worten: Was Parteien dürfen, wie sie sich organisieren und wie sie das Demokratieprinzip tatsächlich ausgestalten, entscheiden … die Parteien! 

Das Ergebnis dieser Ausgestaltung sind zwei institutionenökonomisch verankerte adverse Selektionsprozesse: Die Bevorzugung der Inkompetenten durch das Bezahlsystem der Politik und die Bevorzugung der Anpasser durch das Listensystem, das bei den Wahlen zur Anwendung kommt. 

Politik ist die eine Profession im Land, bei der man keine Qualifikation welcher Art auch immer benötigt, um in Amt, Würden und Verantwortung zu kommen. Eine Person, die mit ihrer Teilnahme am nicht-politischen Wirtschaftsleben nur ein Einkommen auf „Hartz-IV-Niveau” erzielen würde, kann in der Politik als Abgeordneter das zehn-, zwanzig- oder dreißigfache Einkommen erzielen, ohne eine Qualifikation vorweisen zu müssen. Dieser Personenkreis hat also einen weit überdurchschnittlichen Anreiz in die Politik zu gehen. Alles, was man dafür braucht, ist der Wille einer ausreichend großen Zahl potenzieller Wähler nach dem Mund zu reden oder, wenn man keine kohärenten Sätze herausbringt, eine Quote. 

Die im Marktprozess Erfolgreichen hingegen haben wenig Anreiz, in die Politik zu gehen, weil für sie der finanzielle Gewinn oft nicht existiert oder sogar negativ ist. Eine vorübergehende Übernahme politischer Verantwortung ist für sie ebenfalls unattraktiv, weil die Goodwill-Abschreibung auf ihre berufliche Karriere dafür zu hoch ist. Kehren sie zurück, müssen wie oft genug wieder bei null anfangen. 

Parteiführers Liste

Sie erfüllen zudem in der Regel nicht die Erfolgsbedingung für den adversen Selektionsmotor Listensystem, denn sie haben dafür zu viel Rückgrat. Das Listensystem sorgt dafür, dass politische Karrieren nicht vom Wählerwillen abhängen, sondern von der Unterstützung der Parteiführung. 

Basis des Listensystems ist unser Wahlrecht, das jedem Wahlberechtigten zwei Stimmen gibt: Eine Erststimme für den Wahlkreiskandidaten, eine Zweitstimme für die Partei, die man als Mehrheitspartei im Parlament sehen möchte. Diese in sich widersprüchliche Kombination hat zwei Implikationen: Sie erfordert zur Herstellung einer mathematisch korrekten Lösung das Konzept des Überhangmandates und bläht unser Parlament zum zweitgrößten der Welt auf (mehr hat nur noch China zu bieten) und sie erfordert die Aufstellung einer Parteiliste mit einer Rangfolge. 

Die an der Spitze stehenden Kandidaten kommen bereits mit geringen Zweitstimmenanteilen ihrer Partei in den Bundestag, die weiter unten müssen zittern und auf ein gutes oder sehr gutes Ergebnis hoffen, die ganz unten sind nur noch „Wahltags-Kanonenfutter“ ohne Chance auf ein Mandat. 

Wer auf den Vorschlagslisten nach oben rutscht, bestimmt die Parteiführung durch ihr Vorschlagsrecht. Die vor den Wahlen stattfindenden Parteitage rütteln daran nicht, denn auch das wäre schon karriereschädlich. Das Wohlwollen der Parteioberen ist also für eine dauerhafte politische Karriere und damit für die Zulassung zu den Fleischtöpfen eine unerlässliche Voraussetzung. 

Wie erwirbt man dieses Wohlwollen? Bestimmt nicht, indem man einen eigenen Kopf hat. Da kann im Grundgesetz zehnmal stehen, dass Abgeordnete nur ihrem Gewissen unterworfen sind, wenn die Parteispitze institutionell das Gewissen ersetzt. 

Die Wagenburg der Inkompetenz

Hatten wir in den Gründungsjahren der Bundesrepublik noch eine einigermaßen funktionsfähige politische Elite (die zudem von den Besatzungsmächten diszipliniert wurde), führte dieses institutionenökonomische Fehlkonstrukt über die Jahre zu einer Erosion der Qualität des politischen Personals. 

Der Mechanismus der Listen führt außerdem zu einer starken Zentralisierung der politischen Entscheidungsprozesse, das Korrektiv kontroverser Debatte und breiter gesellschaftlicher Diskussion wird ausgehebelt. Im Ergebnis führt das zu gesellschaftlichen Klumpenrisiken enormen Ausmaßes, weil zentralisierte Entscheidungen große Entscheidungen sind, und sie werden ohne tiefe Debatte von einer unterdurchschnittlich gebildeten, unterdurchschnittlich intelligenten und überdurchschnittlich selbstgefälligen Gruppe von Menschen nicht hinreichend analysiert und vorbereitet. Das ist der Hauptgrund, warum die Krisen unserer Zeit immer gewaltiger und größer werden. 

Im Laufe der Jahrzehnte ist die Gruppe der intellektuell nicht befähigten, schlecht ausgebildeten Anpasser in der Politik immer größer geworden und jetzt ist sie in der Mehrheit. Sie hat eine Wagenburg der Inkompetenz gebildet, die jeden, der noch zwei und zwei zu vier zusammenrechnen kann, zur Gefahr erklärt und vor der Türe hält. Das ist der Brandbeschleuniger der adversen Selektion. 

Die Wissenschafts-Sekte

Diese neue politische Klasse benötigt aber ein Alibi, welches ihr radikales Versagen bei der Entwicklung nachhaltig tragfähiger Lösungen verschleiert. Dieses Alibi ist seit einigen Jahren „die Wissenschaft“. Es ist aber nicht die Wissenschaft, die den Prinzipien wissenschaftlicher Arbeit folgt und die sich dem Diktum der Bescheidenheit des Sokratischen scio nescio („Ich weiß, dass ich nichts weiß“) unterwirft auf der ständigen Suche nach der Wahrheit und dem Wissen, dass Wissenschaft keine absoluten Wahrheiten verkündet. Es ist vielmehr eine vermeintliche Wissenschaft, die nicht mehr kritisiert werden darf und die dadurch zu einer Sekte erstarrt, zu einem Instrument totalitärer Herrschaft. 

Da aber die von der adversen Selektion Auserwählten auf dem gigantischen Topf des Steuerzahlergeldes sitzen und dieses wie ein Lehensgeber usurpieren und verwalten, finden sich auch akademische Figuren, die sich der intellektuellen Prostitution hingeben, um dem Ganzen ein Modicum universitärer Patina zu verleihen. Auch die Inhaber akademischer Lehrstühle und Würden sind nicht gefeit gegen die Käuflichkeit, insbesondere dann nicht, wenn auch sie selbst nur Vertreter zweitklassiger akademischer Leistungen sind. 

Das Ergebnis ist überall zu begutachten: Wirtschaftswissenschaftler, die dem Aberglauben anhängen, dass wir uns alles leisten können, wenn wir nur genug Geld drucken, Tierärzte, die Schulen schließen und dann drei Jahre später in einem Nebensatz erwähnen, dass das falsch war, Rüstungslobbyisten, die Geopolitik betreiben und zum Heiligen Krieg gegen die Hunnen im Osten aufrufen. 

Ihr falscher und meist eigennütziger Rat trifft auf unkritische Ohren, der Echoraum der wechselseitigen Korruption schweißt drittklassige Prof.-titulierte und ungebildete Politiker zusammen und sie treffen falsche Entscheidungen mit Tragweite. Das Ergebnis erzeugt Krisen, deren Ausmaß und Schäden jede Vorstellungskraft übersteigen. Das Geld- und Finanzsystem vor der Wand, die globale Arbeitsteilung und die Lieferketten in Ruinen, gesundheitliche Schäden durch experimentelle, aber mit dem Anspruch der Wissenschaft an Abermillionen Menschen verspritzte Gentherapie und jetzt: Das Risiko des dritten Weltkrieges, weil man einen nuklear bewaffneten Gegner zum Siegfrieden zwingen möchte. Auch das wird schief gehen, und zwar absehbar. 

Alles wird gut

Gibt es eine Lösung? Ja, die gibt es, aber sie kann nicht einfach erreicht werden. 

Wir haben ein Metaproblem, also brauchen wir eine Lösung auf einer höheren Ebene, nämlich auf einer institutionellen. Wir müssen über die Mechanismen der adversen Selektion sprechen und darüber, welche tiefgreifenden Reformen für ihre Beseitigung erforderlich sind. 

Das wird schmerzhaft, weil die möglichen Lösungen auf der Ebene der Verfassung angesiedelt sein müssen. Das wird nicht einfach, denn die Profiteure des Status Quo werden da kaum freiwillig mitmachen. 

Große Reformen, das zeigt die Geschichte, erfordern tiefe Krisen. Aber in der Sache können wir auf die Leistungsfähigkeit unserer Politiker vertrauen: Sie schaffen die ultimative Krise, die eine solche Reform machbar macht. 

Wir müssen sie nur machen lassen. Dann wird alles gut. 

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2 Kommentare. Leave new

  • Zunächst warte ich auf den Zustand “Nach der Krise”.
    Den sehe ich noch nicht.

    Zu: “Gibt es eine Lösung? Ja, die gibt es …” Da es ein ganzes Krisenbündel gibt, von der zu niedrigen Geburtenrate im leistungsbereiten Milieu über die generelle Bildungsfeindlichkeit und das Niveau der Schulen, zuwenig Lehrlinge, schlechte Universitäten mit Fehlallokation der Studienplatzangebote (- zB zu wenig Ingenieurstudenten) …. bis hin zu der demonstrativen Dummheit inenrhalb des politischen Systems fallen mir so viele Problemfelder ein, für die es nicht “eine Lösung” gibt.
    Die Abkehr von Vernunft und Logik und die Wiederkehr der Denk- und Sprechverbote sind ja keine deutsche Besonderheit, sondern grassieren in allen westlichen Gesellschaften. Die Selbstanklagen (Rassismus etc) und moralische Überhöhung durch Xenophilie, Einladung an alle und Beschenkung aller, Klima- und der Corona-Hysterie, Genspritzen-Schäden und -Risiken … die Liste fasst noch viele Punkte.
    Schliesslich der Neue Kalte Krieg und das gefährliche Spiel mit der Atomgroßmacht.
    (Über die Schulden und die ausgeufete Finanzwirtschaft schriebe ich nix, da wissen Sie tausendmal mehr als ich.)

    Antworten
  • Friedel Hartmann
    27. Januar 2023 22:13

    Moin-moin,
    Kann da nichts mehr hinzuzufügen.
    Habe aber eine wichtige Frage zu einer
    Lösung des kaputten Fiat-Geldes.
    Eine Lösung für jeden selbst könnte man erst finden wenn man weiß oder vermuten könnte was die “KI” vor hat
    um den Währungen einen neuen Start
    “Anfang” zu ermöglichen. Meiner Meinung nach wird alles mögliche unternommen um die Wirtschaft im eine
    Hyperinflation zu zu bewegen.
    Meine Frage.
    Kann sich eine Währung durch eine Hyperinflation auf Null Entschulden?
    Und wenn ja wie könnte sich das Abspielen?

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