Nationalsozialismus: Sozialismus der Eigentümer

Das System der demokratischen Widersprüche #2

Dass der Mehrheit das Schlimmste zuzutrauen ist, gesteht sogar die herrschende Demokratietheorie zu. Sie statuiert nämlich, dass die Reichweite dessen, was die Mehrheit entscheiden dürfe, durch in der Verfassung zu garantierende Menschen- oder Grundrechte begrenzt werden müsse. Das ist ein denkwürdiger Umstand: Auf der einen Seite bangt man, die Mehrheit wolle Menschen- oder Grundrechte je nach Opportunität einschränken oder gar kassieren, auf der andere Seite aber traut man in allen übrigen Bereichen dieser Mehrheit zu, zukunftsträchtige und sinnvolle Entscheidungen zu treffen (auch bezüglich so existenzieller Fragen wie Krieg und Frieden, Wirtschaft, Umweltschutz usw.). Durch welche göttliche oder natürliche Fügung diese Trennung der Entscheidungsfindung durch die Mehrheit in einen guten und einen schlechten Part erklärlich ist, hat meines Wissens noch niemand veröffentlicht. 

Die Geschichte und Gegenwart der Demokratie zeigt allerdings, dass Verfassungen dann, wenn die idealtypische Mehrheit (de facto meist eine nur kleine Minderheit) entschlossen ist, ein Menschen- oder ein Grundrecht zu beschneiden oder gar aufzuheben, nicht das Papier wert sind, auf dem sie gedruckt wurden. 

Institutionalisiertes Misstrauen gegen den Staat

Viele demokratische Staaten haben deswegen eigene Gerichte installiert, die derartige Beschneidungen der Rechte durch die von der Mehrheit gewählte Regierung überprüfen sollen. Allein die Tatsache, dass Beschneidungen der Rechte überprüft werden sollen, zeigt freilich, dass der Geltung der Rechte enge Grenzen gesetzt sind: Sie gelten eben doch nicht bedingungslos, wie uns die Demokratietheorie vorgaukelt. Weil die regierende Mehrheit eine Rechtebeschneidung stets mit deren absoluter Notwendigkeit begründet, verweigern Verfassungsgerichte bloß selten ihre Zustimmung zu einer Rechtebeschneidung. Falls sie die Zustimmung doch verweigern, geraten sie unter schweren Druck der regierenden Mehrheit und ihrer Medien; die Verfassungsrichter werden dann als undemokratisch beschimpft, als unpatriotisch, als ein Hindernis bei der Ausübung der Macht im Sinne des für das ganze Volk Besten.

Viele demokratische Staaten haben mehrere Kammern oder wählen die Parlamente nicht im Ganzen, sondern jeweils nur einen Teil der Abgeordneten. Auch diese Maßnahme soll ein Bremse sein, um es einer gegenwärtigen Mehrheit nicht zu leicht zu machen, sich ungehindert durchzusetzen. Und auch diese Maßnahme kann nicht anders interpretiert werden, als dass von der Mehrheit erwartet wird, schlechte, zumindest aber überhastete Entscheidungen zu treffen und der Minderheit zu schaden.

Auf diesem demokratiekritischen Hintergrund analysiere ich im Folgenden die Machtübergabe an die Nationalsozialisten in Deutschland 1933.

Die Großindustriellen und der Faschismus

Der «Kapitalismus» der Weimarer Zeit unterlag bereits ausgedehnter staatlicher Kontrolle. Ludwig von Mises (1881-1973) zeigte, dass Monopolisierung nicht über den Markt, sondern über Staatstätigkeit geschieht. Zu den Verlierern gehört das Kleingewerbe. Unter dieser Prämisse scheint es allerdings unverständlich, warum sowohl die Begünstigten als auch die Geschädigten in demselben politischen Lager sich einfinden. Doch das ist aufzuklären.

Schauen wir zunächst die Großindustriellen an, die von marxistischen Hysterikern in teils fast verschwörungstheoretischer Manier zu den Hauptschuldigen gemacht werden, während ihnen andere faschismusanfällige soziale Gruppen eher als verführte Mitläufer erscheinen. 

In den 1920er Jahren finanzierten die Großindustriellen gemäßigte liberale, konservative, sogar sozialistische Parteien und deren Vorstellung davon, wie die ökonomische Krise zu überwinden sei. Krisenüberwindung vom Standpunkt der Großindustriellen bedeutete, ihre ökonomische Rente mit politischen Mitteln zu steigern und zugleich die verarmten Massen ruhig zu halten. Die gemäßigten demokratischen Parteien versagten dabei, dieses Ziel zu erreichen. 

Erst nach dem Erfolg der NSDAP in der Wahl 1930 (18,3 Prozent) wandten Großindustrielle sich dem Faschismus zu. Damit verfolgten sie eine doppele Strategie: Einerseits wollten sie derart die besitzfeindliche Einstellung des linken Flügels der NSDAP domestizieren, der die Verstaatlichung der Schlüsselindustrien propagierte, andererseits hofften sie, dass eine gezähmte, ihres linken Flügels amputierte NSDAP an der Macht nicht zimperlich sein würde, Staatsgewalt zur Krisenüberwindung im Sinne der Großindustrie einzusetzen. An diesem Verlauf großindustrieller Hinwendung zum Faschismus zeigt sich, dass, wie auch Marxisten zugeben müssen, Großindustrielle nicht Hitlers Erfolg kreierten, sondern sich ihm anhängten.

Das Misstrauen des Kleingewerbes in den Markt

Kleingewerbetreibende waren für den Anfangserfolg der NSDAP dagegen bedeutsam. Die Schichten der Kleingewerbetreibenden litten neben den Arbeitslosen am stärksten unter dem vom Staat regulierten und behinderten Markt, unter Inflation, hohen Steuern, gesetzlichen Bestimmungen, staatlich privilegierten Gewerkschaften und unter der Konkurrenz staatlich geschützter, geförderter oder betriebener Konzerne. Normalerweise sind Kleingewerbetreibende unpolitisch, gehen in ihrer Arbeit auf und wählen konservativ-liberale Parteien, die ihnen versprechen, sie in Ruhe zu lassen. 

In der Krise der 1920er und 1930er Jahre gaben die Kleingewerbetreibenden die Verbindung zwischen Eigentum und freiem Markt auf, wie zuvor schon die Großindustriellen. Sie wandten sich dem zu, was Gabriel Kolko (1932-2014), Revisionist und Marxist, für die USA des beginnenden 20. Jahrhunderts paradigmatisch den «politischen Kapitalismus» nannte, treffender «Sozialismus der Eigentümer» heißen sollte. 

Während Kommunisten vollständige Enteignung forderten (oder zumindest zu fordern schienen), bestanden Faschisten oberflächlich besehen auf einer Verteidigung des Eigentums. Sie forderten anstelle von Enteignung den starken Staat, der den Markt im vermeintlich allgemeinen Interesse reguliert. Gegenwärtige Eigentümer sollten vor «ruinösen Marktschwankungen», vorgeblich die intendierten Manipulationen durch unbehindert handelnde und in jüdischem Besitz befindliche Monopole, geschützt werden.

Kleingewerbetreibende jener Zeit identifizierten den freien Markt bzw. den Kapitalismus mit dem Status quo. Da die Parteien, die den Status quo erhalten wollten, sich «liberal» nannten, ist verständlich, dass die unpolitischen Geschäftsleute die Differenz von Kapitalismus und Interventionismus nicht sahen. Sie machten den Markt für die Krise haftbar. Weil sie bei der linken Krisenüberwindung um ihr Eigentum fürchteten, bot sich als Alternative faschistischer Sozialismus an, der den Markt abzuschaffen versprach, ohne das Eigentum anzutasten.

Eine unheilige Allianz

Zum Faschismus tendierende Groß- und Kleineigentümer konnten trotz der entgegengesetzten objektiven Interessenlage beide die Machtübernahme der NSDAP betreiben, weil sie sich auf die Formel «Schutz der Eigentümer vor Marktschwankungen durch Regulationen im allgemeinen Interesse» einigten. Dieser «Sozialismus der Eigentümer» ist Teil des Faschismus als «konservativ-revolutionärer Massenkoalition». Denn neben den Klein-gewerbetreibenden gab es unter fast allen anderen sozialen Gruppen erhebliche Anteile von Nazis. 

Zwar hat die NSDAP in keiner freien Wahl die absolute Mehrheit erreicht, aber mit einem Stimmenanteil von über einem Drittel (1932) war sie durchaus eine Art frühere Volkspartei.

Die Verbindung von konservativ und revolutionär zur Kennzeichnung des Nationalsozialismus heißt folgendes: Während der Kommunismus mit seiner Vision grundlegender Veränderung der Gesellschaft konservative Gefühle der Massen brüskierte, zielte der Faschismus bloß auf Veränderung der politischen Strukturen. Die Faschisten behaupteten demgegenüber, diese Gesellschaft zu erhalten, wie sie war; insbesondere ging es vorgeblich um Erhaltung von Familie, Eigentum, Vollbeschäftigung, Autorität sowie Sicherheit vor Kriminalität. Als Feinde dieser hehren Ziele machten Faschisten namhaft: Die Marktschwankungen aufgrund unkontrollierter Aktivitäten der Großindustrie, den Egoismus von Sündenböcken (Juden und andere Minderheiten, Nonkonformisten, die anscheinend den Lebensstil der »normalen« Leute bedrohten), und die Liberalen mit ihrem »Nachtwächterstaat«, der zu Dekadenz, Nihilismus, Kriminalität und Faulheit führe. 

So vermochte der Faschismus an die konservativen und die revolutionären Gefühle der Leute gleichzeitig zu appellieren: Konservative Gefühle wurden durch die Behauptung befriedigt, dass die Struktur der Gesellschaft unangetastet bliebe; revolutionäre Gefühle wurden mit dem Versprechen geweckt, nach Einrichtung des starken Führerstaats sei dann jedermann besser dran, weil dieser dafür die Sorge trage, dass überall in der Gesellschaft «Gemeinnutz vor Eigennutz» gehe.

In der Mises’schen Theorie ist moderner Staat definiert als Bündel von Instrumenten, mit denen in freiwillige Handlungen Einzelner interveniert werden könne, um das vermeintliche «Allgemeinwohl» zu sichern. Moderne Politik wäre dann der Kampf verschiedener Interessengruppen um die Art und Weise des Einsatzes der staatlichen Instrumente, selbstredend im eigenen Interesse. 

Faschismus beendete Politik, indem den Interessengruppen versprochen wurde, ihre Wünsche würden erfüllt werden. Der staatsbegrenzende Konflikt darüber, wer mit welcher Absicht und welchen Zielen wieviel Staatsmacht benutzen dürfe, wurde hinfällig. Alle konnten ohne Beschränkung der Stärkung des Staats sich überantworten, weil es keine Vorbehalte aufgrund von eigenen Interessen gab. 

Die Realität des faschistischen Staats entsprach diesem Idealbild freilich nicht. Die Rechnung wurde bald aufgemacht; unter dem Strich zahlte Einer für das Wohlergehen des Anderen. Und der «Eine» war Arbeiter oder Kleingewerbetreibender und der «Andere» Funktionär oder Großindustrieller. Daraus resultierte ein fortwährender Konflikt im Machtapparat.

Die Wurzeln des Bösen

Die Brutalität faschistischer Herrschaft hat widersprüchliche Wurzeln: Einerseits entsprang sie aus dem Versprechen, der Staat werde allen legitimen sozialen Interesse dienen. Jeder, der gegen den Staat arbeitete, stellte eine Bedrohung des Wohlergehens von jedermann dar. Kein Mittel, solch antisoziales Verhalten zu unterdrücken, schien verboten. 

Andererseits musste, weil das Versprechen reine Ideologie war, der fortgesetzte Interessenkonflikt in gewalttätigen Kämpfen sich ausdrücken. Die Theorie erlaubte ja keine friedlichen Prozeduren, um Konflikte zu lösen. Interessengruppen, die einen Konflikt ausfochten, mussten ihre Gegner als von Grund auf antisozial verteufeln. Im Kontext des NS-Staats bedeutete Erfolg einer Interessengruppe die Vernichtung der Gegner; umgekehrt bedeutete es die eigene Vernichtung, wenn man keinen Erfolg hatte.

Das heißt, die Brutalität faschistischer Herrschaft erwuchs aus einer Theorie, die die Existenz von Interessengruppen leugnete, sowie aus einer Praxis, die der Kampf der Interessengruppen strukturierte – ein Kampf, den keine demokratischen Regeln begrenzten. 

Auf lange Sicht wird die gewalttätige Form der Regierung für die Herrschenden selber unpraktisch. Totalitäre Regierungen gehen, wie man in der UdSSR oder der VR China ebenso wie im Spanien Francos sehen konnte und in Iran sehen kann, langfristig dazu über, demokratieäquivalente Verfahrensweisen zu entwickeln, die friedlichere Formen der Auseinandersetzung zwischen den wichtigsten Interessengruppen erlauben.

Die dritte Wurzel der Brutalität faschistischer Herrschaft ist das starke «Bedürfnis» nach Sündenböcken. Wegen Versprechungen, die unmöglich zu erfüllen waren, brauchte der Staat Sündenböcke, die angeprangert werden konnten. Um das gute Funktionieren des vorgeblich allmächtigen faschistischen Staats gefährden zu können, mussten die Sündenböcke aber als mit übermenschlichen Kräften ausgestattet erscheinen. Deswegen war im Kampf gegen diese teuflischen Feinde keine Brutalität untersagt.

Unterwerfung der Letzten

Zwei Interessengruppen – organisierte Arbeiterschaft und Katholiken – blieben immun gegen die Nazi-Propaganda, bis 1933. Warum? Beide Gruppen sahen ihr Kräftepotenzial in der Weimarer Republik als bereits optimal entfaltet an. Die organisierten Arbeiter erblickten realistisch in den etatistisch privilegierten Gewerkschaften die besten Instrumente, für ihre Interessen einzutreten. Die Arbeiter in Kleinbetrieben und in den ländlichen Gebieten sowie die jungen Arbeitslosen, d.h. Gruppen, die nicht gewerkschaftlich organisiert waren und die unter den indirekten Folgen der gewerkschaftlich erzwungenen Maßnahmen litten, wandten sich dagegen der NSDAP zu.

Mit runden 15 Prozent der Stimmen waren die in der Deutschen Zentrumspartei organisierten Katholiken stark: Ihre Partei verfügte über einen sozialistischen und einen konservativen Flügel und konnte darum die linke und die rechte Seite des demokratischen Spektrums zur arbeitsfähigen Koalition zusammenführen. Wegen der starken Stellung des Zentrums in der Weimarer Koalition durften die Katholiken vom Nationalsozialismus nichts erwarten.

Nach dem «Ermächtigungs-Gesetz» fügten sich (nicht alle Parteien, aber) alle Interessengruppen einschließlich der Arbeiter und Katholiken in einer anti-kapitalistischen Koalition dem neuen Staat: Sich nicht zu unterwerfen, hätte bedeutet, jede Möglichkeit aufzugeben, die Politik zu beeinflussen. Deshalb war es anscheinend ratsamer, zu kooperieren, jedenfalls kurzfristig gesehen. Der Mechanismus der Eingliederung in einem totalitären Staat gleicht demjenigen in einem demokratischen Staat. Dieser Mechanismus wird am besten mit dem Begriff »Gesellschaft des arbeitslosen Einkommens« beschrieben.

Die Vergötterung des Staats

Die sozioökonomische Dynamik der Interaktion zwischen den organisierten Interessengruppen, aus der der Nationalsozialismus als gesellschaftliche Bewegung erwuchs, stellte sich keineswegs «automatisch» ein. Weder viele Eigentümer, noch Konservative, noch irgendeine andere Interessengruppe, die sich für den Faschismus stark machte, konnte realistisch auf Erfolg hoffen.

Die Erklärung für die Tatsache, dass derart viele Menschen, selbst im übrigen so rational handelnde Menschen wie Geschäftsleute, sich der faschistischen Koalition anschlossen, kann nur in einem Glauben an gottähnliche Fähigkeiten und Funktionen des Staats gefunden werden. Die Soziolatrie (Vergötterung) des Staats, der all die Widersprüche beseitige, die der begrenzten individuellen Vernunft eignen, ist das ideologische Fundament und die unerlässliche Vorbedingung für die Möglichkeit des Faschismus. 

Umgekehrt können wir feststellen, dass etwa in den USA der 1930 er Jahre unter dem Banner des «New Deal» ebenfalls eine repressive Massenkoalition entstand, die «Sozialismus der Eigentümer» und «konservative Evolution» beinhaltete, aber kein politischer Faschismus war. Die politischen, wenn auch nicht sozialen Freiheiten blieben erhalten, weil eine starke Tradition des liberalen angelsächsischen Rechtsdenkens die Auffassung hochhielt, der Staat sei Schnittpunkt nicht harmonistischer, sondern widerstreitender Interessen.

Dieser Beitrag basiert auf: Stefan Blankertz, Die Katastrophe der Befreiung: Demokratie und Faschismus, Berlin 2013.

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