Künstler: Pere Ubu
Album: Terminal Tower (Rough Trade, 1985)
Der Terminal Tower in Cleveland, Ohio, war einst das zweithöchste Gebäude der Welt. Diesen Status hielt der Wolkenkratzer, erbaut 1927, bis 1964. Darüber hinaus galt Cleveland einst als die wirtschaftlich prosperierendste Region der USA, 1949 erhielt sie gar den Titel „All-American City“.
Cleveland war das Bild der USA, wie sich die Amerikaner in der goldenen Periode nach dem Zweiten Weltkrieg am liebsten sahen: Produktiv, fortschrittlich und gesittet. Umso schmerzlicher, dass Cleveland ab den 1960ern auch ein Bild der Krise der amerikanischen Gesellschaft zeichnete: Der Einbruch der Stahl- und Automobilindustrie führte zur Schwächung der Wirtschaft und das zu hoher Arbeitslosigkeit.
Als der von Industrieabfällen stark verschmutzte Cuyahoga River 1969 in Flammen aufging, war dies mehr als nur ein Symbolbild für die lange vernachlässigte Umwelt der Industriemetropole. Die späten 60er und die 70er waren geprägt von Rassenunruhen und Bombenanschlägen durch lokale Gangs.
Es war während dieser Zeit, in der Mitte der 1970er, als ein junger Mann namens David Thomas in seiner hohen, der Hysterie nahen Stimme „Don’t need a job! Don’t need a job – need a final solution!“ in ein Mikrofon schrie. Seine Band: Pere Ubu.
„Terminal Tower: An Archival Collection“, erschienen 1985, die Scheibe, die sich heute auf dem Plattenspieler des Sandwirts dreht, ist kein „vollwertiges“ Pere-Ubu-Album. Es ist eine Sammlung der frühen Singles mitsamt ihrer B-Seiten, zeitlich einzuordnen um die Jahre 1976 bis 1980.
Warum, mögen Sie sich nun fragen, bringe ich hier keine Besprechung eines der (nicht wenigen) regulären Alben? Das hat einerseits damit zu tun, dass zumindest die zwei Klassiker, „The Modern Dance“ und „Dub Housing“, beide von 1978, sich in jedem ehrbaren Plattenschrank finden müssten. Andererseits finden sich auf dieser Kompilation bestimmte Cuts, die es auf den beiden genannten Alben nicht gibt und damit auch eine Person, die im späteren Werk der Band leider nicht mehr wirken konnte: Gitarrist Peter Laughner, der 1976 die Band verließ und 1977 mit 24 Jahren an akuter Pankreatitis verstarb. Dies muss gehört werden, um zu verstehen, wie wichtig sich diese, dem Radiohörer weitestgehend unbekannte Band aus Cleveland, für die Entwicklung der Rockmusik erwies.
Die Geschichte Pere Ubus begann im Grunde schon vor ihrer Gründung, mit Rocket From The Tombs, welche sich um 1974 formierten – David Thomas (*1953) war bereits Sänger. Viele der Ubu-Songs der Frühzeit entstanden hier, einige sind hörbar auf Live-Bootlegs. Die Band zerbrach um 1975 und führte zur Gründung von zwei sehr unterschiedlichen Bands: Den rabaukigen, stark von The Stooges beeinflussten Dead Boys um Stiv Bators, welche sich in der CBGB’s-Szene in New York einen Namen machten – und Pere Ubu, welche sich nach Alfred Jarrys surrealem Theaterstück „Ubu Roi“ benannten. (Eine ausführliche Geschichte findet sich in Clinton Heylins „From The Velvets To The Voidoids: The Birth Of American Punk Rock“.)
Die erste Single erschien 1976 auf dem eigenen Hearpen-Label und war anders als alles, was es zu dieser Zeit zu hören gab. Es handelte sich um „30 Seconds Over Tokyo“, der schon zu Zeiten von Rocket From The Tombs zur Aufführung kam, mit „Heart Of Darkness“ als B-Seite. Für beide gibt es keine Referenzpunkte. Am ehesten noch mag man eine ungeahnte Verschmelzung von Velvet Underground und Captain Beefheart im inneren Ohr haben, doch wirken diese beiden Songs (der erste eine über sechs Minuten lange Erzählung über den ersten Luftangriff der US-Luftwaffe auf Tokyo 1942, der zweite zitiert „The Island Of Dr. Moreau“, Joseph Conrad und Raymond Chandler) wie aus der Zukunft.
Man muss sich klar machen: Das kam aus Cleveland. Die Erzählung über die Entstehung des Punk spielt sich vor allem in New York und London ab, doch kamen viele Impulse aus der schmutzigen Industriestadt im mittleren Westen. Zu dieser Zeit formierte sich in New York erst die Szene um das CBGB’s mit so unterschiedlichen Bands wie Television oder den Ramones, in London wagte man vorsichtig den Schritt vom Pub Rock zum lärmenden Punk – und „30 Seconds Over Tokyo“ ist bis heute mit nichts zu vergleichen. Man muss lange suchen, um in der Rockmusik eine ähnlich unheimliche, beklemmende Atmosphäre zu finden.
„Heart Of Darkness“ nimmt mit seiner kühlen, pulsierenden Struktur den Post-Punk von Wire, PIL, Joy Division, The Fall oder Gang Of Four um Jahre vorweg. Wobei „Punk“ als Bezeichnung für seine Musik von David Thomas immer vehement abgelehnt wurde. Was Pere Ubu machen, ist „Industrial Folk“ oder „Avant-Garage“.
Vielleicht noch verblüffender ist „Final Solution“. Man vermeint, in diesen knapp fünf Minuten aus dem Jahre 1976 alles rauszuhören, was danach in der Rockmusik passieren würde, von den Ramones bis Tool und darüber hinaus. Die sonic landscape, die einen knackenden Bass und im Finale unerwartet flirrende Gitarren vereint, ist überwältigend – und doch ist es gleichzeitig ein ungemein mitreißender Rocksong, wie er auch in der Garage lärmen könnte. Das kommt zustande, wenn man mit Peter Laughner und später Mayo Thompson nicht gerade alltägliche, sondern unorthodoxe Gitarristen beschäftigt.
Ein gleichermaßen wichtiger Aspekt ist der analoge Synthesizer von Alan Ravenstine, der de facto das „Chaos-Element“ darstellte. Dieses recht eigensinnige Instrument verstand es wie von selbst, die klarste Struktur aufzubrechen und die Klangkulisse einer Industrie-Stadt in Rock zu übersetzen.
Was aber unterscheidet letztlich Pere Ubu bis heute von allen anderen Bands? – Die Stimme von David Thomas.
Er ist das Gegenteil der typischen Rockstimme, er singt hoch, manchmal gar fistelig, röhrt zuweilen und ist dabei hörbar mit allen Neurosen dieser Welt beladen. „No turning back on a suicide ride“ klingt exakt wie ein Pilot, der nicht weiß, ob er von dieser Mission zurückkehrt. Wie er in „Final Solution“ zuerst auf der eigenen Wut nölend herumkaut, um dann im Refrain zu explodieren – das mag nicht donnern, aber es ist Naturalismus in Rock.
„Final Solution“ brachte der Band ungünstigerweise ihren ersten Skandal ein: Da sich der Songtitel als „Endlösung“ übersetzen ließ, stand schnell der Vorwurf des Neo-Nazismus im Raum. Selbstverständlich ist dies Unsinn, aber die Band spielte das Stück lange Jahre nicht.
Auch die anderen acht Tracks sind, jeder für sich, eine Eigenheit. „Untitled“ etwa ist eine Alternativfassung von „The Modern Dance“, dem Titelstück des Debütalbums. Beide zu vergleichen ist ein interessantes Unterfangen, da die Single-Version noch um einiges abgedrehter ist als die bekanntere Fassung. Hat man den ersten Schock aber verdaut, hört man, dass „Untitled“ (oder „The Modern Dance“ allgemein) eigentlich Jazz-Rock im Stile von Steely Dan ist – nur halt nuklear mutiert.
Das grummelnde „My Dark Ages“ mit seinem „I don’t get around“ und den Bildern vom ziellosen Herumfahren liest sich wie eine Invertierung klassischer Beach-Boys-Songs wie „I Get Around“, mit einem dem Herbst in Ohio gewichenem kalifornischen Sommer.
Oder ist „Heaven“ die größte Überraschung? Denn dies ist, zumindest nach den Maßstäben von Pere Ubu, ein optimistischer Popsong. „Not Happy“ wiederum klingt so, als hätte man David Thomas eine Überdosis Antidepressiva verabreicht, wodurch der sehr exaltierte Überschwang doch irgendwie verstörend wirkt. Als „Lonesome Cowboy Dave“ reitet er dann davon, und der Hörer fragt sich, welchen Irrsinns er dort gerade Ohrenzeuge wurde.
„The Book Is On The Table“ zeigt die andere, experimentelle Seite von Pere Ubu. Noch vor den Einstürzenden Neubauten und Throbbing Gristle, noch bevor man den Begriff „Industrial“ kannte, nahm Pere Ubu Stücke auf, die auf verfremdeten oder „gefundenen“ Sounds im Stil der Musique concrète beruhten und mit jedwedem „Pop“ nichts mehr gemein hatten. „The Book Is On The Table“ besteht aus der Tonspur einer Französisch sprechenden Frau vor dem Hintergrund kantiger, schroffer Synthesizer-Sounds.
Viele Jahre später wurde David Thomas in einem Interview gefragt, wie er dazu stehe, dass seine Musik als besonders abstrakt und seltsam gelte. Seine Antwort verblüffte: Nicht Pere Ubu seien abstrakt und merkwürdig, Musik wie die von Katy Perry sei es. Seine Band (deren einziges festes Mitglied er ist) sehe sich in der Tradition bahnbrechender, freidenkender Rockmusik, und außerdem sei Pere Ubu eine American Band!
Die Einschätzung dieser Aussage obliegt dem Hörer. Zumal Pere Ubu sich in ihrer weiteren Geschichte auf durchaus abstraktere Wege begaben, aber bis heute eine eingeschworene Fan-Gemeinde hinter sich wissen. Pere Ubu sind speziell.
Doch was immer da im Cuyahoga River floss und was davon in die Hirne von David Thomas, Peter Laughner, Alan Ravenstine und einigen anderen gelangte … es war magisch.
Und hier gibt es was zum Reinhören: 30 Seconds Over Tokyo / Final Solution
2 Kommentare. Leave new
Meine Erinnerung: Cleveland Rocks mit Ian Hunter.
https://www.youtube.com/watch?v=1qDkZnpOiS8
danke für den tip! ich kannte/ habe bislang nur die picnic time aus den 80ern, tolle platte. wow, die waren der zeit echt voraus…wäre interessant, ob pere ubu in manchester gehört wurden! da kann man die genannten band raushören. die für mich beste band- naja, neben einigen anderen besten bands- sind the fall oder the mighty fall, wie sie der unglaubliche john peel nannte. was wäre die musikalische welt ohne john peel??? wie auch immer: muss ich meiner gattin vorspielen, danke!