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Das System der demokratischen Widersprüche #9
Gerade ist mein neues Buch „Dialektik der Demokratie” über Pierre-Joseph Proudhon erschienen. Die in diesem Band sorgfältig und das erste Mal deutsch edierten Proudhon-Texte aus den Jahren 1848 und 1863 sind nicht nur historisch interessant, sondern auch aktuell, denn sie helfen, die allgegenwärtige Krise der zentralistischen, mehrheitswütigen und illiberalen Demokratie zu verstehen – und eine bessere, freiheitlichere Alternative anzustreben.
Im Jahre 1848: Ganz Europa ist im demokratischen Revolutionsfieber. Geht es nicht allen darum, die Fürsten- durch die Mehrheitsherrschaft zu ersetzen, die Staatsgewalt zu zentralisieren und ihre Eingriffe in Gesellschaft und Wirtschaft drastisch auszuweiten? Nein, nicht allen. Ein führender republikanischer und sozialistischer Theoretiker der Revolution in Frankreich, wo die Revolution im Februar 1848 triumphierte, warnt vor dem Missverständnis, die Republik auf rigoros durchgesetzten Mehrheitswillen, Zentralisation und Parteiengezänk aufzubauen: Pierre-Joseph Proudhon (1809–1864).
Schon bald bewahrheiteten sich die düstersten Prognosen Proudhons: Das Volk wählte den Neffen von Kaiser Napoleon I. zum Präsidenten einer autoritär-zentralistischen Republik: Louis-Napoleon Bonaparte. Weil der sich von Proudhons Schriften beleidigt sah, wurde Proudhon zu Gefängnis verurteilt und musste sein Experiment mit einer Genossenschaftsbank, das erfolgreich gestartet war, abbrechen.
Als Neuwahlen drohten, putschte Louis-Napoleon Bonaparte sich zum Diktator auf zehn Jahre. Das Volk sanktionierte den Schritt per Plebiszit. Ein Jahr drauf erklärte er sich zu Kaiser Napoleon III. Auch diesen Schritt segnete das Volk ab. Proudhon wurde für eine weitere Schrift wiederum verurteilt und ging ins Exil nach Belgien. 1863 schwächelte die Herrschaft des Kaisers; der lockerte die Zensur und rief zu einer neuen Wahl auf. Proudhon kehrte nach Frankreich zurück und verfasste ein Pamphlet, in welchem er auf der Grundlage der hegelschen Dialektik zum Wahlboykott aufrief, und erreichte ein Millionenpublikum. Proudhons republikanisches Ideal richtete sich an Dezentralisation, Selbstverwaltung vor Ort und Föderation statt Zentralismus aus.
In den Revolutionstagen Anfang des Jahres 1848 schrieb Proudhon einen Text mit dem unspektakulären Titel «Die Lösung der sozialen Frage». Meines Wissens wurde dieser Text noch nie vollständig ins Deutsche übertragen. Er besteht in seinem ersten Teil aus dem Nachdenken über die Rechtmäßigkeit der Revolution und im zweiten Teil aus dem Nachdenken über die negative Dialektik der Demokratie: Einerseits steht die Demokratie für die Freiheit des Volks, anderseits entwickelt sie sich zum Instrument von dessen Unterdrückung. Jenen zweiten Teil habe ich in meiner Edition an die erste Stelle gesetzt, weil der erste Teil mehr zeitbezogene Anspielungen enthält, die von heute aus gesehen erst interessant werden, wenn man Proudhons Dialektik der Demokratie verstanden hat.
1863, kurz vor seinem frühen Tod im Januar 1865 aufgrund der Spätfolgen einer Cholera-Infektion von 1850, schrieb Proudhon das Pamphlet «Vereidigte Demokraten und ihre Widersacher», in welchem er noch einmal auf die grundsätzlichen Bedingungen für eine wahre Demokratie im Gegensatz zu einer Rechtfertigung der seelenlosen Staatsmaschinerie einging. Auch dieser Text ist meines Wissens noch niemals zuvor auf Deutsch erschienen.
Was war 1863 anders als 1848? Zunächst einmal: Es gab keine revolutionäre Situation. Zwar herrschte in Frankreichs Bevölkerung ein gewisser Unmut und ein gewisser Überdruss über die autoritär-demokratische Führung unter Kaiser Napoléon III. — einem Kaiser, den das Volk mit großer Mehrheit vor 15 Jahren zum Präsidenten gewählt hatte, dessen Putsch zum Diktator auf zehn Jahre es per Plebiszit ebenso sanktionierte wie seine Ernennung zum Kaiser. Zur Aufbesserung seines Images bot der siegesgewisse Kaiser seiner republikanischen Opposition eine einigermaßen faire Wahl an. Alles, was er verlangte, war, dass jeder Kandidat einen Treueeid auf den Kaiser leisten muss, um zur Wahl zugelassen zu werden.
Liberale (soweit sie sich nicht sowieso schon in den Dienst der Regierung gestellt hatten), Demokraten und Staatssozialisten, die gemeinsam die republikanische Opposition ausmachten, witterten ihre Chance: Sie erstellten en bloc Kandidatenlisten, leisteten den Eid und riefen die Bevölkerung dazu auf, sich als Wähler registrieren zu lassen.
Proudhon, gerade hatte der Schwerkranke das Tauwetter in der Herrschaft des Kaisers genutzt, um aus seinem belgischen Exil in die geliebte Heimat zurückzukehren, sagte „Nein!” und riet dem Volk in einem Pamphlet von 100 Seiten, das ich in meinem Buch zum ersten Mal in deutscher Sprache präsentiere, sich der Stimme zu enthalten.
Der Regierungspartei erklärte Proudhon, dass sie sich durch die weiterhin in Kraft bleibenden Beschränkungen der freien Wahlen in einem Selbstwiderspruch befinde: Sie berufe sich auf die Zustimmung des Volks (nicht auf göttliche Einsetzung des Kaisers), behindere jedoch die Artikulation dieser Zustimmung, die natürlich und logisch die Möglichkeit einschließen müsse, dass das Volk der Regierung des Kaisers seine Zustimmung verweigere.
Der (republikanischen) Opposition hielt Proudhon entgegen, dass sie, indem sie den Eid auf den Kaiser leiste und die Beschränkungen der freien Wahlen – wie Pressezensur und ein eingegrenztes Versammlungsrecht – akzeptiere, das System des Kaiserreichs legitimiere und dergestalt ihre Opposition absurd mache. Dabei argumentierte Proudhon streng innerhalb der Idee der Demokratie, da sein Punkt der Selbstwiderspruch war.
Seine Kritik an der Demokratie, die er 1848 formuliert hatte, scheint nur an manchen Stellen durch. Dass er diese Kritik nicht zurücknahm, machen die beiden Ausschnitte klar, die ich aus seiner Monographie zum föderativen Prinzip entnehme, ebenfalls 1863 erschienen, und die ich anschließend wiedergebe.
Wie ist diese Wahl ausgegangen? Frankreichs Population betrug 1863 rund 37 Millionen Menschen, darunter etwa 30 Prozent Minderjährige. Bloß Männer waren wahlberechtigt, daraus ergibt sich ein Potenzial von rund 12,5 Millionen Wählern. Von diesen haben sich ungefähr zehn Millionen, also 80 Prozent, zur Wahl registrieren lassen, eine recht hohe Rate. Freilich gaben nur kaum mehr als sieben Millionen eine Stimme ab, egal ob gültig oder nicht. Das ist eine erstaunliche Differenz: Drei Millionen schrieben sich in die Liste ein, nahmen das Wahlrecht aber nicht in Anspruch.
Die Gründe hierfür kennen wir nicht; ich will keineswegs ableiten, dass es in Frankreich damals drei Millionen Anhänger Proudhons gab. Die republikanische Opposition erhielt knapp über eine Million Stimmen, wenig mehr als die Monarchisten. Wenn Proudhon zur Wahl aufgerufen hätte, wäre die republikanische Opposition im Parlament eventuell doppelt so stark vertreten gewesen, und dort hätte sie, was Proudhon in seinem Pamphlet präzise darlegte, kein Bisschen zusätzlich gegen die überwältigende Mehrheit der Bonapartisten ausrichten können.
Und wie Proudhon ihnen verhieß, kam die Botschaft der Nichtwähler beim Kaiser an, wie indirekt auch immer. Im Parlament ergab sich eine Zusammenarbeit der liberalen Kräfte innerhalb der Bonapartisten mit Republikanern; die Liberalisierung wurde fortgesetzt. Aber wie Proudhon treffsicher prophezeite, reichte es keineswegs, um Frankreich zu stabilisieren.
Militärische Abenteuer, Kolonialismus und politische Begünstigung von wirtschaftlicher Monopolisierung führten zu einer Erosion, bis sich 1870 beim Krieg gegen Preußen zeigte, dass die einst so stolze Nation völlig marode geworden war. In der Niederlage Frankreichs triumphierte der Proudhonismus: Die Pariser Kommune entstand, die, obwohl sie von der Staatsgewalt bloß kurze Zeit darauf brutal niedergeschlagen wurde, die revolutionäre Bewegung in ganz Europa für hundert Jahre beflügelte.
Ihre Grundsätze waren der Föderalismus und Mutualismus Proudhons, der Aufbau der Gesellschaft aus autonomen Gruppen, die sich föderieren, und der Wirtschaft nach dem Prinzip der Gegenseitigkeit. Der Ruhm der Pariser Kommune war so groß, dass selbst Marx nicht umhin kam, sie zu hofieren und fälschlich als eine Verwirklichung seiner Ideen auszugeben.
Zurück zu Proudhons Wahlpamphlet von 1863: Regierung und Opposition einen Selbstwiderspruch nachzuweisen und damit zu hoffen, sie umstimmen zu können, ist das nicht reichlich naiv? Lassen sich Menschen und vor allem politische Parteien von ihrem Kurs abbringen, wenn man zeigen kann, dass sie einem Selbstwiderspruch erlegen sind? Beruhen Leitlinien der Politik nicht vielmehr auf ökonomischen oder sonstigen Interessen statt logischer Widerspruchslosigkeit und Reinheit der Ideen?
Genau das ist es, was Proudhon entlarven wollte. Sein Pamphlet gegen die Wahlbeteiligung ist ein gutes Stück Ideologiekritik. Mit ihm zeigt er auf, dass es gerade nicht die Idee der Demokratie (des allgemeinen Wahlrechts) ist, die die Politik von Regierung und Opposition leitet. Wenn es jedoch eure Interessen sind, die ihr mit der Macht durchsetzen wollt, sagte Proudhon, dann bitte seid so ehrlich, diese vor dem Volk zu nennen. Aber wird es euch dann noch zustimmen? Proudhon hegte die vielleicht wirklich naive Hoffnung, dass dem nicht so wäre.
1. Aus dem demokratischen Prinzip, aus dem allgemeinen Wahlrecht, folgen nach Proudhon drei Grundsätze. Der erste Grundsatz ist Versammlungs- und Pressefreiheit. Dies würde heute keiner mehr bestreiten; damals musste er dies umständlich herleiten und begründen. Und obwohl kontextlos gesehen kein heutiger Demokrat die Notwendigkeit der Versammlungs- und Pressefreiheit als Voraussetzung der Demokratie bestreiten würde, sieht das im Kontext des politischen Tageskampfes ganz anders aus. Selbst in den alten Demokratien Westeuropas und Nordamerikas kehren Zensur und Verbot missliebiger politischer Organisationen wieder. Und dies hängt mit dem zweiten Grundsatz zusammen.
2. Der zweite aus dem demokratischen Prinzip folgende Grundsatz lautet, dass die Demokratie (die Mehrheit der Wähler) ihr Votum ändern kann. Auch dies scheint zunächst völlig unstrittig zu sein. Die Mehrheit kann heute die eine und morgen die andere Partei wählen, heute den einen, morgen den anderen Kandidaten ins Amt heben. Dabei kann sie mal für Auf-, mal für Abrüstung stimmen, mal für sozialistische, mal für liberale Reformen. Alles das wird einer Mehrheit zugestanden. Aber sie kann, und hier sieht man die ganze Genialität von Proudhon, auch sich selber negieren.
Die Mehrheit kann dafür stimmen, die Versammlungs- und Pressefreiheit einzuschränken oder abzuschaffen. Das ist faktisch so, und Proudhon erkannte es bereits zu seiner Zeit, was uns dann erst schmerzlich durch die Wahlen von faschistischen, kommunistischen oder theokratischen Diktatoren deutlich wurde.
Mit einer Mehrheit, die die demokratischen Grundrechte (Pressefreiheit, Versammlungsrecht) negiert, begibt die Demokratie sich in einen Selbstwiderspruch: Sie ist nicht mehr „mit sich selbst identisch”, wie Proudhon es formulierte.
Die Antwort der heutigen Demokratie lautet, dass dem Volk eben nicht erlaubt werden dürfe, per Mehrheitsbeschluss die Freiheit einzuschränken. Aber wir sehen hier die Wunde des Selbstwiderspruchs, auf die Proudhon den Finger legte: Dem Volk nicht zu erlauben, per Mehrheitsbeschluss die Freiheit einzuschränken, ist eine Einschränkung der Freiheit. Eine solche Einschränkung lässt sich praktisch bloß in der Weise umsetzen, dass man die Presse (heute: Medien) einer Zensur unterwirft sowie das Versammlungsrecht einschränkt.
3. Aber Proudhon war Dialektiker. Auf These und Antithese folgt die Synthese, und das ist der dritte Grundsatz, den Proudhon aus dem Prinzip des allgemeinen Wahlrechts meint, unmittelbar logisch ableiten zu können. Und dieser Grundsatz lautet, dass die im allgemeinen Wahlrecht auszudrückende Souveränität des Volks eben gar nicht darin besteht, die numerische Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen möge sich knallhart durchsetzen. Vielmehr bestimmt er die Allgemeinheit des Wahlvotums, mit welchem das Volk seine Souveränität artikuliert, als einen größten gemeinsamen Nenner all der widersprüchlichen Meinungen und Auffassungen im Volk.
Das ist genau das, was Rousseau schon gesagt hatte. Wenn dieser Grundsatz eingehalten wird, kann die Mehrheit niemals die Freiheit aufheben, es sei denn, es würde Einstimmigkeit herrschen (und selbst dann wäre die Freiheit nicht eingeschränkt, weil es niemanden gäbe, dem man sie nehmen könnte). So bleibt das allgemeine Wahlrecht „identisch mit sich selbst”.
Nun erhoben damals Politiker ein Geschrei, wie sie es auch heute tun: Unter dieser Voraussetzung sei aber keine Politik zu machen, die Gegner könnten jede politische Aktion per Veto verhindern. Proudhon, der erste Anarchist, lacht sich hier ins Fäustchen und schmunzelt: Um so besser. Wenn ihr es nicht schafft, die verschiedenen Meinungen und Interessen unter einen Hut zu bringen, dann tut ihr besser daran, von einer Umsetzung Abstand zu nehmen.
Aus dem dritten Grundsatz leitete Proudhon ein weiteres Prinzip ab: Föderalismus. In einer Wahl, in der Millionen Menschen zur Abstimmung aufgerufen sind, drücke die Volkssouveränität sich sowieso niemals aus. Hier wiegt die Stimme jedes Einzelnen fast nichts. Sie wird auch zu einem nahezu beliebigen und willkürlichen Akt. Es sind zu viele Dinge, über die zugleich abgestimmt wird: über Pakete von politischen Maßnahmen, deren Konsistenz alles andere als sicher ist, und über Kandidaten, die dem Wähler nahezu unbekannt sind, ausgenommen in den Selbstdarstellungen des Wahlkampfs. Örtliche Gegebenheiten und Belange gehen unter.
Wir sehen auch heute in den extrem zentralisierten Staaten, dass bei regionalen Körperschaften der kleinsten Einheiten Parteipolitik kaum noch eine Rolle spielt und die gemeinsamen Interessen im Vordergrund stehen, dass Einstimmigkeit viel leichter zu erzielen ist. Neben diesen regionalen Körperschaften bezog Proudhon aber auch die nicht-regionalen Körperschaften in sein föderalistisches Prinzip ein, freie Vereinigungen, in denen sich gemeinsame Aufgaben und Interessen bündeln.
Gerade erscheinen: Pierre-Joseph Proudhon, Dialektik der Demokratie: Texte 1848 bis 1863, übersetzt und herausgegeben von Stefan Blankertz, edition g. 132, 286 Seiten, [D] 17,80€, ISBN 978-3-7583-5150-1.
Fünf von Stefan Blankertz signierte Exemplare gehen ab sofort an die ersten fünf Spender, die mindestens 50 Euro für den Sandwirt spenden.
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