Auf dem Plattenspieler: Psy

Künstler: Psy

Song: Gangnam Style – veröffentlicht auf dem Album Psy 6 (Six Rules), Part 1, 2012 YG Entertainment

Im Juli 2012 erschien ein Song aus Südkorea, der in wenigen Wochen zu einem globalen Phänomen wurde: „Gangnam Style“ von Psy. Nie zuvor – und nie wieder danach – katapultierte sich ein Track mit solcher Geschwindigkeit in den Orbit der internationalen Popkultur. Es war wirklich verrückt!

Ein unscheinbarer Mann in schriller Sonnenbrille und Anzug hatte es in kürzester Zeit geschafft, die Aufmerksamkeit der „ganzen Welt“ zu erhaschen und sie mit einem humorvollen Werk zum Lachen zu bringen. Doch welche Botschaft er dabei eigentlich mit ihr teilen wollte, das erreichte nur die Wenigsten.

„Gangnam Style“ ist einer der am häufigsten missverstandenen Songs – gerade vor dem Hintergrund, dass er eigentlich so enorm große Resonanz fand. Der Track war so etwas wie ein „Trojanisches Pferd“ – und deshalb bietet er eine einzigartige und erstaunliche Erzählung, die viel über unsere globale Gesellschaft aussagt …

Dieser Welthit stellte etliche Rekorde auf und hielt sie noch über Jahre hinweg. So durchbrach das Video beispielsweise innerhalb von nur fünf Monaten, als erstes überhaupt in der Geschichte Youtubes, die Schallmauer von einer Milliarde Aufrufen – zu einer Zeit, in der das schlichtweg jenseits aller Vorstellungskraft lag.

Menschen in New York, Berlin, Moskau, Tokio tanzten plötzlich den absurden „Pferdetanz“ aus dem Musikvideo auf Straßen, bei Hochzeiten, in Clubs, sogar in Parlamentsgebäuden, filmten es und stellten es in den sozialen Medien online. 

Es hagelte förmlich Gold-, Platin- und sogar Diamant-Auszeichnungen für Psy – über 10 Millionen Single-Verkäufe konnte er verbuchen.

„Gangnam Style“ war nicht einfach viral. Es war das Maß, an dem viraler Erfolg neu definiert wurde!

Der Track klingt wie ein überzeichnetes Pop-Produkt – und das ist volle Absicht. Er kombiniert treibende Electro-House-Elemente mit satten Synth-Bässen und einem simplen Melodie-Motiv. Dazu kommt ein pseudo-epischer Aufbau, der in einem sich wiederholenden, fast absurd klischeehaften Höhepunkt mündet – perfekt inszeniert für Tanzflächen, aber mit einem Sound, der sich bewusst künstlich anfühlt. Die Instrumentierung ist glatt, überproduziert, grell – ein akustisches Abbild genau jener Welt, die der Song ironisiert.

Im Musikvideo von „Gangnam Style“ spielt Psy den großen Star – aber seine Welt ist eine Karikatur. Der typische „Konfetti-Wind“, wie man ihn von Auftritten der Popdiven kennt, besteht hier beispielsweise aus Müll – buchstäblich: bei genauerem Hinsehen merkt man, dass es flatternde Papierschnipsel aus einem Abfalleimer sind. Und die Bühne, auf der eine absurde Choreografie getanzt wird? Eigentlich nur eine leerstehende Lagerhalle.

Das Video ist voller solcher doppelbödiger Bilder: Es stellt den Lifestyle, den es vordergründig zeigt, gleichzeitig bloß. Wer genau hinsieht, merkt: Hier wird nichts bewundert – alles wird hinterfragt. All das Tanzen und Lachen im Musikvideo erfolgt nicht wirklich aus Freude – sondern aus Flucht. Der Flucht vor der Stille, in der man sich selbst begegnet …

Psy, mit bürgerlichem Namen Park Jae-sang, kommt aus einem wohlhabenden Elternhaus. Sein Vater ist Vorstand eines erfolgreichen Unternehmens in Seoul, Südkorea (das seinen Umsatz um das dreifache gesteigert hat nach dem Erfolg von „Gangnam Style“!). Die finanziellen Mittel seiner Familie ermöglichten ihm den Zugang zu einer westlichen Ausbildung – einem Studium in Boston, USA. Lange nutzte er seine privilegierte Stellung auch und konzentrierte sich hauptsächlich auf seine „zivile“ Karriere. Doch in seinen 20-ern brach er nach einer Identitätskrise sein Studium ab, kehrte nach Südkorea zurück und verschrieb sich doch vollkommen seiner Leidenschaft, der Musik.

Anklang fand Psy dort, bis auf eine kleinere Fangemeinde, zunächst aber kaum. Denn in Südkorea steckt Musik – damals, wie heute – fest im Korsett des K-Pop-Industriekomplexes: „perfekte“ Schönheitsideale, choreografierte Konformität, emotionale Sterilität. Psy fiel da vollkommen aus dem Raster. Er war Teil der Szene, aber kein besonders relevanter – und szeneintern kein besonders beliebter. Zu provokant, zu eigen, zu unangepasst.

Vermutlich war es genau dieser Spagat – diese Doppelrolle als In- und Outsider, sowohl innerhalb der südkoreanischen Gesellschaft als auch innerhalb der Musikszene – der „Gangnam Style“ zugleich scharfe Kritik üben und doch subtil genug wirken ließ, dass sie (vor allem international) gar nicht herausstach.  

Doch warum gerade dieser Name – Gangnam Style?

Gangnam ist ein Bezirk im Süden von Seoul, dessen Name längst zu einem Synonym für Reichtum und Status geworden ist. In Gangnam wohnen die Wohlhabenden, die Aufsteiger – die „Elite“.

Die Immobilienpreise zählen zu den höchsten des Landes, private Bildungseinrichtungen boomen, Läden internationaler Luxusmarken gibt es wie Sand am Meer. Hier fließt das Geld – sichtbar, hörbar, riechbar. Es ist das Herzstück der koreanischen Hochglanzgesellschaft, eine Art „Beverly Hills Ostasiens“. Und es ist angereichert mit einer Tech- und Popkultur-Mischung, die man sonst nur in wenigen Metropolen der Welt findet.

Gangnam ist ein Ort, an dem Erfolg nicht nur gelebt, sondern zelebriert wird. Wer hier wohnt – oder sich auch nur zeigt – sendet eine klare Botschaft: „Ich habe es geschafft.“ 

Eben diese Selbstinszenierung, diese demonstrative Zurschaustellung von Erfolg, nahm Psy aufs Korn – weshalb Gangnam das perfekte Symbol dafür war. 

Das verzweifelte, erzwungene Lächeln hinter der Designersonnenbrille, die Show, die man spielt, bis man selbst an sie glaubt – „Gangnam Style“ karikiert eine Gesellschaft, die viel mehr Energie darauf verwendet, zu wirken, als zu sein. Und es ist eine universelle Allegorie auf das moderne Streben nach Glück im Außen allgemein: wenn ich dies erreicht habe, jenes besitze, so aussehe, dann … dann bin ich glücklich. Doch das „dann“ bleibt immer am Horizont. Auch, wenn man so tut als ob – das Glück ist nie hier. Nie jetzt. Es ist wie des Esels Karotte vor der Nase.

Ironischer könnte es kaum sein: Der Song, der eine Scheinwelt bloßstellen wollte, wurde selbst zu ihrem Soundtrack. Unzählige Firmenevents, große Feiern und virale Trends weltweit wurden von „Gangnam Style“ begleitet – und machten den Track zu einem bitterkomischen Beweis für die These, die Psy mit ihm aufstellt: Wir leben in einer Welt, in der die Menschen lieber feiern und lachen als hinhören und nachdenken …

Hier auf Youtube „Gangnam Style“ von Psy.

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Der nächste Gang …

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