Das System der demokratischen Widersprüche #12
Die Parteienlandschaft in der Bundesrepublik Deutschland hat in den letzten Jahren einen rasanten Wandel durchgemacht. Das mobilisiert rechtspopulistische Befürworter des Wandels ebenso wie Linkskonservative, die sich vor ihm fürchten. Die Ansichten polarisieren sich, Debatten werden schärfer, meist wird bloß mit bedrohlichen und dummen Worten, manchmal auch mit eisgefrorenen Torten geworfen.
Vor allem aber stabilisiert sich das System, denn die Demokratie erhält einen großen Schub an Legitimation: Der anderen Seite wird jeweils ein «undemokratisches» Verhalten vorgeworfen. Während bis Mitte 2016 bei Wahlen die Seite der damals weitgehend außerparlamentarischen Opposition, bevor sie zum Rechtspopulismus wurde, darauf verwies, dass unter Einrechnung der Nichtwähler keine Regierung eine Legitimierung durch eine Mehrheit erfährt, reklamiert sie seit ihren Wahlerfolgen, das eigentliche Volk zu repräsentieren, unterdessen die linkskonservativen Bewahrer des Etablierten im Angesicht der wachsenden Masse ihrer Gegner schier verzweifeln.
Hier zeigt sich, wie fatal es ist, in der Demokratiekritik nur auf den Umstand abzuheben, dass eine gegebene Regierung nicht die tatsächliche Mehrheit repräsentiere. Denn sobald sich eine neue politische Kraft stark genug wähnt, innerhalb des bestehenden Systems die Macht zu erobern, wird die Kritik ganz schnell vergessen und man spielt gekonnt auf der Klaviatur der Massendemokratie. Demgegenüber ist festzuhalten, dass auch wenn eine Regierung eine tatsächliche Mehrheit der wahlberechtigten Bevölkerung auf sich vereinigt, daraus in Wahrheit keinerlei Recht abzuleiten ist, über die Minderheit zu herrschen.
Die Hoffnung, dass durch tiefgreifende Einschnitte in das Parteiensystem sich wenigstens ein wenig zum Besseren ändern könne, ist vor allem eins, nämlich geschichtsvergessen. Um die Mitte der 1990er Jahre verursachten sogenannte erdrutschartige Wahlergebnisse etwa in Kanada und Italien, dass zuvor mächtige Parteien über Nacht verschwanden. In beiden Ländern hat sich an der Politik nichts geändert, am Ausbau des bevormundenden asozialen Staats, an der zunehmenden Staatsverschuldung, an immer weitergehenden Eingriffen in das freie Handeln, an der Günstlingswirtschaft und Korruption.
In Deutschland erlebten wir einen ebensolchen Wandel, wenn auch nicht so drastisch. Die Grünen lösten vorübergehend die FDP als «Mehrheitsbeschaffer» für eine Regierungspartei ab, während die AfD einen Start hinlegt, der den Erfolg der Grünen, die rund zwanzig Jahre bis zu ihrer Machtbeteiligung 1998 brauchten, in den Schatten stellt. Ob auf der linken Seite sich ein adäquates Gegengewicht etablieren wird, ob die FDP sich nach ihrer Beteiligung an der Ampelkoalition jemals wieder erholen wird, bleibt abzuwarten. Dass die Grünen in ihrer Anfangszeit für Dezentralisierung, für Bürokratieabbau, für Einführung von Volksentscheiden, für freie Schulwahl, für Legalisierung von Cannabis und gegen militärische Interventionen, gegen den Nannystaat sowie gegen Enteignung «im Interesse der Allgemeinheit» zur Durchsetzung von technologischen Großprojekten des Staats eintraten, ist heute ganz vergessen, weil sie als Teilhaber an der Macht das Gegenteil ihrer früheren Ideale vertreten und durchsetzen.
Nein, an Parteien und Alternativen fehlt es uns nicht. Rund 80 Parteien treten in der BRD zu Wahlen an, weitere versuchen immer mal wieder, eine Zulassung zu ergattern. Die übliche Leier, «die Fünf-Prozent-Hürde macht es unmöglich, dass eine neue Partei hochkommt», hat sich als falsch erwiesen. Die Grünen, die AfD und das BSW sind Beispiele für neue Parteien, die es geschafft haben. Andere kleinere Parteien, die es zwar in einige Landesparlamente brachten, sind dann bundesweit dennoch gescheitert. Auch ist es nicht wahr, dass eine Partei nur genügend «populistisch» sein müsse, um Erfolg zu haben. Mein Favorit ist der Slogan der DKP seit rund einem halben Jahrhundert, wenn ich das richtig erinnere: «Löhne und Gehälter rauf! Mieten und Preise runter!» Wer würde der Forderung widersprechen? Nach der Logik, dass die Forderungen, je populistischer sie seien, der Partei um so mehr Erfolg einbringen, versagt bei der DKP. Es muss zumindest noch andere Faktoren geben, die hinzukommen.
Wer sich durch die Wahlprogramme von den Kleinparteien klickt, wird zwar auf die eine oder andere Kuriosität und Schrägheit stoßen, vor allem jedoch genau den Einheitsbrei entdecken, den auch jene Kräfte präsentieren, die bereits in den Parlamenten vertreten sind. Achtsamkeit, Bildungsförderung, Nachhaltigkeit, soziales Engagement, Sicherheit, Wohlstand sowie alles weitere Schöne & Edle wird bei keiner fehlen und vor allem mit dem Zusatz versehen, dass diese hehren Ziele mit der Wahl des richtigen Politikers vom Staat lieferbar seien.
Selbst «Respekt» ist neuerdings, jedenfalls für Berliner, per Wahlzettel für die AfD einhandelbar. Dagegen bleibt man, wenn man die SPD wählt, «fair». Hm. Was ist mir wichtiger? Respekt oder Fairness? Wen, oder besser: was soll ich denn nun wählen? Ein so relativ neuer Auswuchs asozialer Bürokratie wie der Mindestlohn scheint innerhalb kürzester Zeit unantastbar geworden zu sein und es wird zu einer Wahlkampflüge der Linken, die AfD träte für die Abschaffung des Mindestlohns ein.
Etwas Ähnliches spielte sich 2016 in den USA ab. Kaum hatte im Präsidentschaftswahlkampf 2016 die Libertarian Party angesichts der Wahl zwischen Pest (Donald Trump) und Cholera (Hillary Clinton) wieder ein kleines bisschen mehr Aufmerksamkeit erlangt, beeilte sich deren Vizekandidat, Verständnis für das neue bürokratische Monster der «Obamacare» zu äußern.
Welcher Buchstabensalat auch immer, kein Politiker stellt sich hin und sagt: «Nein, alles das kann ich euch nur bieten, wenn ihr es selber macht. Das einzige, was ich dazu beitragen werde, ist, dass ich euch nicht im Weg stehe.» Oder anders: Wenn er das sagt, wird er nicht gewählt – wie Barry Goldwater im Wahlkampf 1964 erleben musste. Denn Demokratie funktioniert so nicht.
Demokratie ist das Versprechen an jeden Wähler, dass er, wenn er sich denn in der glücklichen Position der Mehrheit befindet, seinen Nächsten mit legaler Staatsgewalt wird ausplündern und bevormunden dürfen. Erst wenn die Menschen aufhören, sich als Wähler missbrauchen zu lassen, wenn sie stattdessen ihre Angelegenheiten in ihre eigene Hand nehmen und vom Staat nichts anderes verlangen, als sie in Ruhe ihre Angelegenheiten regeln zu lassen, wird sich etwas ändern. Bis dahin werden die Wähler bleiben, was sie immer waren: Täter und Opfer zugleich.
«Mehr Demokratie wagen», das war das Schlagwort, als mit Willy Brandt die etablierten Linken 1969 das Haupt erhoben, um die Staatsmacht zu erobern. Bürgerinitiativen und Volksentscheide waren in der Anfangsphase der ungezogenen «alternativen» ökologischen Linken Instrumente und Forderungen, über die sie ihr Programm verwirklichen wollten. Es ist sonnenklar: Wer meint, dass die Mehrheit ihm gewogen sei, hat mit der demokratischen Gewalt nicht nur keinerlei Problem, findet sie vielmehr ganz prima.
Die Konservativen und Liberalen sahen sich in den Schatten gestellt, so dass sie keine eigene Vision gegen die Linken setzten, sondern lediglich versuchten, hier und da zu bremsen. Sie wiesen etwa darauf hin, dass die Demokratisierung der gesellschaftlichen Bereiche eine Gefahr für die Freiheit des Einzelnen darstellen würde. Die Einmischungen des Staats würden vorangetrieben. Sie warnten vor unbedachten Entscheidungen, die aus emotional aufgeheizt durchgeführten Plebisziten erwachsen könnten. Sie lobten die Tugend der Bremse, die die traditionellen Wege der parlamentarischen Demokratie gegen überhastete Veränderungen darstellten. Sie beriefen sich auf eine «schweigende Mehrheit», zu der sie auch die Nichtwähler zählten. Natürlich würzten sie ihre Statements mit der uralten Abneigung aller Konservativen gegen den Pöbel. Die intellektuelleren unter ihnen zitierten Alexis de Tocquevilles «Demokratie in Amerika» (1836) oder José Ortega y Gassets «Aufstand der Massen» (1929). Über erste Skepsis gegen die Demokratie, dann gründlichere Kritik an ihr und schließlich gar ihre Ablehnung näherten sich Konservative und Liberale libertären Ideen an.
In den letzten Jahren hat sich wieder einmal gezeigt, dass das Prinzip des Staats, das Prinzip der Gewalt stark und flexibel ist, so wie ich es immer schon analysiert habe. In der Welle von Widerstand gegen die EU und von Empörung über die Flüchtlingspolitik, nach den gewonnenen Plebisziten gegen manche Aspekte der EU in einigen Mitgliedsstaaten, nach dem Brexit 2016, nach den erfolgreichen Initiativen zur «Ausschaffung» krimineller Ausländer und gegen die «Masseneinwanderung» in der Schweiz, nach Regierungsübernahmen oder -beteiligungen von sogenannten Rechtspopulisten in einigen EU-Staaten, Regierungsübernahmen in einigen anderen sowie Wahlerfolgen in den meisten EU-Staaten werden die Karten jetzt neu gemischt.
Man empört sich über «undemokratische» Winkelzüge der etablierten Parteien und Politiker entgegen den «neuen» Kräften, man fordert das Referendum und eine konsequente Umsetzung des Volkswillens. Die etablierten Linken und Ökokraten dagegen warnen nun vor Populismus, sie loben, wie einst die Konservativen und Liberalen in den 1970er und folgenden Jahren, die bremsende Wirkung des Parlamentarismus auf den heißblütigen Veränderungsdrang und sie wettern gegen Pöbel, Pack und «Prekariat». Wer die überkommene politische Konstellation verwerfe, könne nichts anderes sein als ein ungebildeter Sozialhilfeempfänger oder ein böser Superreicher.
Es ist genau das gleiche Feindbild, das die Konservativen und Liberalen pflegten. Und es wird eine «schweigende Mehrheit der Anständigen» konstruiert, genau wie damals es die Gegenseite tat, zu der natürlich auch die Nichtwähler zählen, während die heute an die Macht strebenden Rechtspopulisten die Nichtwähler genau so wie die damaligen Populisten «links liegen» lassen.
Unter der Hand ist nun folgendes geschehen: Aus Kritikern der Demokratie sind jene geworden, die sie als Instrument für die Durchsetzung ihrer Ziele nutzen. Dieser Wandel fand nach dem altbekannten Muster statt: Wer sich in der Gunst der Mehrheit sonnt, fordert mehr demokratische Gewalt. Dagegen müsste die Kritik an der Demokratie von den inhaltlichen Parteinahmen ganz abgekoppelt werden.
Zuerst formuliert in: Stefan Blankertz, Politik macht Ohnmacht: Demokratie zwischen Rechtspopulismus und Linkskonservativismus, Berlin 2017.
Der Autor dieses Artikels hat in der Edition Sandwirt das Buch „Gegen den Strich gelesen – 12 überraschend freiheitliche Denker“ veröffentlicht.
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1 Kommentar. Leave new
Es bewahrheitet sich wider mal:
Die grössten Kritiker der Elche sind am Ende selber welche.
Politik als ständiges Deja-Vu.
Schade.